BlueSky

VG Berlin

Merkliste
Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 19.04.2024 - 24 K 143/22 V - asyl.net: M32477
https://www.asyl.net/rsdb/m32477
Leitsatz:

Auch Bäckereien und Konditoreien können Spezialitätenrestaurants sein:

1. Gemäß § 19c Abs. 1 AufenthG kann einer Person unabhängig von der Qualifikation als Fachkraft ein Visum zur Ausübung einer Beschäftigung u.a. dann erteilt werden, wenn die Beschäftigungsverordnung (BeschV) dies bestimmt. Gemäß § 11 Abs. 2 BeschV kann die Zustimmung mit Vorrangprüfung für Spezialitätenköch*innen für die Ausübung einer Vollzeitbeschäftigung in Spezialitätenrestaurants mit einer Geltungsdauer von bis zu vier Jahren erteilt werden.

2. Ein Restaurant ist nach allgemeinem Sprachgebrauch eine Speisegaststätte, das heißt eine Gaststätte, in der Essen serviert wird und in der die Gäste im Allgemeinen eine gewisse Zeit verweilen.

3. An ein Spezialitätenrestaurant sind im Vergleich zu einem einfachen Restaurant höhere Anforderungen zu stellen. Es handelt sich dabei nach allgemeinem Sprachgebrauch um ein Restaurant, das vor allem Spezialitäten, das heißt besonders zubereitete Gerichte, anbietet. Nach verbreiteter Auffassung in der Literatur sind Spezialitätenrestaurants solche Restaurants, in denen landesspezifische Speisen zubereitet werden. Der Betrieb muss geprägt sein vom Angebot ausländischer Speisen, die nach Rezepten des jeweiligen Landes zubereitetet werden. Die Produktpalette soll dabei mindestens zu 90 Prozent aus landestypischen Speisen bestehen. Weitere Anhaltspunkte können sein, dass das Restaurant vom Ambiente her den nationalen Charakter des jeweiligen Landes wiedergibt oder der Firmenname auf die Landesküche hinweist.

4. Keine Spezialitätenrestaurants sind demgegenüber nach allgemeiner Verkehrsauffassung reine Imbiss-Betriebe, Schnellrestaurants, Catering-Unternehmen und Liefer-Services.

5. In einem Restaurant werden Speisen zum Verzehr vor Ort hergestellt, wobei der Begriff "Speise" nach allgemeinem Sprachgebrauch "feste Nahrung" bezeichnet und sowohl kräftige Speisen als auch Süßspeisen umfasst. In Ländern, in denen -  wie in der Türkei - süße Speisen traditionell eine große Rolle spielen, ist es durchaus nicht untypisch, dass spezialisierte Restaurant sich auf das Angebot dieser Süßspeisen beschränken. Dies gilt beispielsweise auch für die österreichische Küche. Ein auf österreichische Mehlspeisen spezialisiertes Restaurant dürfte auch dann als österreichisches Spezialitätenrestaurant anzusehen sein, wenn es ausschließlich süße Speisen anbietet.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Spezialitätenkoch, Konditorei, Bäckerei, Baklava, Restaurant, Spezialitätenrestaurant, Vorabzustimmung, Arbeitsagentur
Normen: AufenthG § 19c Abs. 1, BeschV § 11 Abs. 2
Auszüge:

[...]

3 Am 26. April 2022 stellte er beim Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Izmir einen Antrag auf Erteilung eines Beschäftigungsvisums, um als Meister für die Herstellung der türkischen Teigsüßigkeiten Baklava und Kadayif [...] zu arbeiten. Laut Arbeitsvertrag vom ... 2022 sollte er ab Beschäftigungsbeginn am 1. Juni 2022 eine monatliche Bruttovergütung von 4.700,00 Euro erhalten und mit der Herstellung türkischer Desserts und Mehlspeisen beschäftigt sein, namentlich gesüßtes Kadayif mit Nüssen [...] und Baklava [...]. Als Nachweis für seine Qualifikation reichte der Antragsteller im Visumsverfahren eine Arbeitsbescheinigung ein, wonach er von Februar 2010 bis Februar 2021 als Geselle und Meister bei der Firma "..." in der Herstellung der türkischen Desserts Baklava und Kadayif tätig war. [...]

4 Die beigeladene Bundesagentur für Arbeit (Bundesagentur) stimmte der Visumserteilung nicht zu und begründete dies im Wesentlichen damit, dass ein Bäcker bzw. Konditor nicht als Spezialitätenkoch anerkannt werden könne.

5 Daraufhin lehnte das Generalkonsulat den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 9. Mai 2022 ab. Der Kläger könne nicht als Spezialitätenkoch anerkannt werden, weil der Betrieb, bei dem der Kläger arbeiten wolle, kein Spezialitätenrestaurant, sondern ein Bäckereibetrieb sei. [...]

7 Zur Begründung trägt er vor, er habe einen Meisterbrief und langjährige Berufserfahrung bei der Herstellung türkischer Süßspeisen. [...]

21 2. Als Anspruchsgrundlage für das begehrte Visum kommt hier allein § 6 Abs. 3 i.V.m. § 19c Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) i.V.m. § 11 Abs. 2 der Beschäftigungsverordnung (BeschV) in Betracht.

22 Gemäß § 19c Abs.1 AufenthG kann einem Ausländer unabhängig von einer Qualifikation als Fachkraft ein Visum zur Ausübung einer Beschäftigung erteilt werden, wenn die Beschäftigungsverordnung oder eine zwischenstaatliche Vereinbarung bestimmt, dass der Ausländer zur Ausübung dieser Beschäftigung zugelassen werden kann. Gemäß § 11 Abs. 2 BeschV kann die Zustimmung mit Vorrangprüfung für Spezialitätenköchinnen und Spezialitätenköche für die Ausübung einer Vollzeitbeschäftigung in Spezialitätenrestaurants mit einer Geltungsdauer von bis zu vier Jahren erteilt werden. [...]

23 Der Kläger hat einen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über seinen Antrag auf Erteilung eines Visums zur Beschäftigung als Spezialitätenkoch, da die tatbestandlichen Voraussetzungen der Anspruchsgrundlage erfüllt sind. Gründe für eine Ermessensreduzierung auf Null sind hingegen nicht ersichtlich.

24 a) An einem konkreten Arbeitsplatzangebot im Sinne des § 18 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG bestehen nach Vorlage des aktualisierten Arbeitsvertrags vom 2. Januar 2024 mit Arbeitsbeginn am 1. Juni 2024 keine Zweifel.

25 b) Zwar liegt die nach § 39 Abs. 1 AufenthG i.V.m. § 11 Abs. 2 BeschV erforderliche Zustimmung der Beigeladenen zur Erteilung des Visums nicht vor, dies ist jedoch im vorliegenden Fall unerheblich. Bei der Zustimmung nach § 39 AufenthG handelt es sich nicht um einen Verwaltungsakt, sondern um ein Verwaltungsinternum (BVerwG, Urteil vom 19. November 2019 – 1 C 41/18 – juris, Rn. 16). Rechtsschutz gegen die Versagung der Zustimmung ist somit ausschließlich in Form einer gerichtlichen Überprüfung der ausländerrechtlichen Entscheidung möglich [...]. Liegen die materiellen Zustimmungsvoraussetzungen zum  maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor, so kann die verwaltungsinterne Zustimmung der Beigeladenen im gerichtlichen Verfahren ersetzt werden (BVerwG, Urteil vom 19. November 2019, a.a.O., Rn. 32).

26 So liegen die Dinge hier. Die Voraussetzungen für die Zustimmung zur Visumserteilung sind sämtlich erfüllt. Die speziellen tatbestandlichen Voraussetzungen aus § 11 Abs. 2 BeschV liegen vor, da der Kläger eine Beschäftigung als Spezialitätenkoch in einem Spezialitätenrestaurant anstrebt (hierzu unter c). [...]

27 c) Bei dem Betrieb, in dem der Kläger laut Arbeitsvertrag tätig sein soll, handelt es sich zur Überzeugung des Gerichts um ein Spezialitätenrestaurant im Sinne von § 11 Abs. 2 BeschV und der Kläger ist als Spezialitätenkoch im Sinne der genannten Norm anzusehen.

28 aa) Der Begriff des Spezialitätenrestaurants ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, dessen Auslegung und Anwendung vollständig gerichtlich überprüfbar ist. An die internen "Fachlichen Weisungen der Bundesagentur für Arbeit zum Aufenthaltsgesetz und zur Beschäftigungsverordnung" (in der Fassung von 03/2024: www. Arbeitsagentur.de, abgerufen am 30. April 2024) ist das Gericht bei der Auslegung nicht gebunden [...].

29 Ein "Restaurant" bezeichnet nach allgemeinem Sprachgebrauch eine Speisegaststätte, das heißt eine Gaststätte, in der Essen serviert wird [...]  und in der die Gäste im Allgemeinen eine gewisse Zeit verweilen. An ein Spezialitätenrestaurant sind im Vergleich zu einem einfachen Restaurant höhere Anforderungen zu stellen. Es handelt sich dabei nach allgemeinem Sprachgebrauch um ein Restaurant, das vor allem Spezialitäten, das heißt besonders zubereitete Gerichte, anbietet [...].

30 Nach verbreiteter Auffassung in der Literatur sind Spezialitätenrestaurants solche Restaurants, in denen landesspezifische Speisen zubereitet werden. Der Betrieb muss geprägt sein vom Angebot ausländischer Speisen, die nach Rezepten des jeweiligen Landes zubereitetet werden. Die Produktpalette soll dabei mindestens zu 90 Prozent aus landestypischen Speisen bestehen. Weitere Anhaltspunkte können sein, dass das Restaurant vom Ambiente her den nationalen Charakter des jeweiligen Landes wiedergibt oder der Firmenname auf die Landesküche hinweist [...]. Keine Spezialitätenrestaurants sind demgegenüber nach allgemeiner Verkehrsauffassung reine Imbiss-Betriebe, Schnellrestaurants, Catering-Unternehmen und Liefer-Services [...].

31 Die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs Spezialitätenrestaurant wird nach zutreffender Auffassung der obergerichtlichen Rechtsprechung maßgeblich durch den Zweck der Regelung des § 11 Abs. 2 BeschV bestimmt. Deren Ziel ist es, die auf eine bestimmte ausländische Küche spezialisierten Restaurants durch die Zulassung von Fachkräften in die Lage zu versetzen, ihre Produkte landestypisch und  unverfälscht anbieten zu können. [...]

32 bb) Nach diesem Maßstab ist der Betrieb ..., in dem der Kläger arbeiten soll, ein Spezialitätenrestaurant im Sinne von § 11 Abs. 2 BeschV.

33 (1) Das Gericht hat keinen Zweifel daran, dass es sich bei der Süßspeise Baklava um eine für die Türkei landestypische Spezialität handelt. Dies wird soweit ersichtlich auch von keinem der Beteiligten in Frage gestellt. Das Angebot von Baklava stellt zweifellos den Markenkern von ... her, das den Namen der Speise "Baklava" bereits im Namen trägt. Ausweislich der Internetpräsenz sowie der vorgelegten Speisekarte beschränkt sich das Speisenangebot des Betriebs ganz überwiegend auf Baklava sowie einige andere türkische Süßspeisen. Speisen, die sich nicht der türkischen Küche zuordnen ließen, finden sich auf der Speisekarte nicht.

34 (2) Der in Rede stehende Betrieb ist auch ein Restaurant und nicht etwa nur ein Imbiss bzw. eine Verkaufsstelle.

35 Der ursprüngliche Einwand der Beigeladenen, das Lokal, in dem der Kläger arbeiten wolle, lege den Fokus eher auf Außer-Haus-Verkauf und sei weniger auf ein längeres Verweilen der Gäste zum Verzehr von Speisen vor Ort angelegt, ist – zur Überzeugung des Gerichts und der Beklagten – durch die zahlreichen vom Kläger vorgelegten betrieblichen Unterlagen und Fotos des Betriebs überzeugend widerlegt. Auf den Fotos ist eine im maurischen Stil mit Kacheln und hölzernen Oberlichtern hochwertig eingerichtete Gaststätte mit rund einem Dutzend Tischen zu erkennen, an denen zum Zeitpunkt der Bildaufnahme zahlreiche Gäste saßen und Speisen verzehrten. Ausweislich der eingereichten Speisekarte werden sowohl Getränke wie auch Speisen für den Verzehr vor Ort angeboten. Die Süßspeisen sind ansprechend in aufwändig dekorierten Glasvitrinen ausgestellt und werden durch Kellner serviert. [...]

36 (3) Der Annahme eines Spezialitätenrestaurants steht auch nicht entgegen, dass der hier in Rede stehende Betrieb auf einen Ausschnitt der türkischen Küche beschränkt ist.

37 Anders als die Beigeladene hält das Gericht es nicht für erforderlich, dass ein Spezialitätenrestaurant ein breites Angebot der jeweiligen nationalen Küche bzw. sogar die vollumfängliche Küche eines Landes anbietet. [...]

39 (4) Auch die Tatsache, dass sich das Angebot von ... ausschließlich auf Süßspeisen beschränkt, steht der Annahme eines Spezialitätenrestaurants nicht entgegen.

40 In einem Restaurant werden nach der oben eingeführten Definition Speisen zum Verzehr vor Ort hergestellt, wobei der Begriff "Speise" nach allgemeinem Sprachgebrauch "feste Nahrung" bezeichnet und sowohl kräftige Speisen wie auch Süßspeisen umfasst ("Speise": duden.de, abgerufen am 30. April 2024). In Ländern, in denen süße Speisen wie in der Türkei traditionell eine große Rolle spielen, ist es durchaus nicht untypisch, dass spezialisierte Restaurant sich auf das Angebot dieser Süßspeisen beschränken. Dies gilt beispielsweise auch für die österreichische Küche. Ein auf österreichische Mehlspeisen spezialisiertes Restaurant dürfte auch dann als österreichisches Spezialitätenrestaurant anzusehen sein, wenn es ausschließlich süße Speisen wie beispielsweise Kaiserschmarrn, Marillenknödel, Germknödel oder Palatschinken – und damit nur einen kleinen Ausschnitt der landestypischen österreichischen Küche – anbietet.

41 (5) Schließlich überzeugt auch der Einwand der Beigeladenen, der Kläger sei von Beruf Bäcker bzw. Konditor und ein Bäcker könne per se kein Spezialitätenkoch und eine Bäckerei kein Spezialitätenrestaurant sein, nicht.

42 Bereits die Auslegung nach dem Wortlaut spricht für ein weites Verständnis des Begriffs "Spezialitätenkoch". [...]