Kein Familiennachzug für volljährigen Sohn einer afghanischen Ortskraft:
1. Ein Nachzug von volljährigen Kindern aus Härtefallgründen ist in aller Regel nicht erforderlich.
2. Es ist nicht ersichtlich, dass Angehörige ehemaliger afghanischer Ortskräfte mehrere Jahre nach dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan noch einer Bedrohungslage im Sinne einer Sippenhaft ausgesetzt sind.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
1 Der Kläger begehrt ein Visum zum Zwecke des Familiennachzugs.
2 Er ist ein 1998 geborener afghanischer Staatsangehöriger und Sohn des Beigeladenen zu 2. Dieser arbeitete seit Ende 2006 für die Objektschutzgruppe Base Command in Mazar-e-Sharif, Afghanistan, und erhielt 2021, wie die Mutter des Klägers und dessen minderjährige Schwestern, eine Aufenthaltserlaubnis für das Bundesgebiet aus humanitären Gründen [...]. Am 20. Juli 2022 beantragte der Kläger den Nachzug zu seinem Vater, was die Beklagte mit Bescheid vom 7. Mai 2023 ablehnte. [...]
4 Vor etwa drei Monaten ist der Kläger nach eigenen Angaben in die Türkei eingereist und lebt in Istanbul.
5 Er trägt im Wesentlichen vor, aufgrund der in Afghanistan drohenden Verfolgung durch die Taliban könne von einer freiwilligen Migrationsentscheidung der übrigen Familie keine Rede sein. Wegen seiner prekären Lebensumstände habe er einen Anspruch auf Familienzusammenführung aufgrund außergewöhnlicher Härte oder jedenfalls aus dringenden humanitären Gründen. [...]
14 Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. [...]
16 1. Soweit sich das klägerische Begehren auf § 36 Abs. 2 AufenthG stützt, liegen die Voraussetzungen nicht vor. Nach dieser Vorschrift kann sonstigen Familienangehörigen eines Ausländers zum Familiennachzug eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn es zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist. Die Visumserteilung an den Kläger setzt solche Härtefallgründe voraus. [...] Ein Nachzug von volljährigen Kindern ist – auch unter Berücksichtigung fortbestehender familiärer Bindungen, die unter Art. 6 GG fallen – in aller Regel nicht erforderlich. Volljährige Kinder sind grundsätzlich nicht auf familiäre Lebenshilfe angewiesen. Dabei sind auch Wege der Verbindung und Unterstützung aus der Distanz, etwa durch Geldüberweisungen, in Betracht zu ziehen. Demgegenüber muss die Zusammenführung gerade in Deutschland zwingend geboten sein. Nachteile im Herkunftsland, die allein wegen der dortigen allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse drohen, sind nicht zur Begründung einer außergewöhnlichen Härte im Zusammenhang mit der Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft heranzuziehen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 25. Juni 1997 – BVerwG 1 B 236.96 –, juris Rn. 9; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27. April 2018 – OVG 3 S 23.18 –, juris Rn. 20). Die außergewöhnliche Härte muss vielmehr familienbezogen sein (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 – BVerwG 10 C 9/12 –, juris Rn. 23).
17 [...] Soweit der Kläger Nachstellungen durch Sympathisanten der Taliban in seinem Herkunftsland aus Anlass der Tätigkeit des Beigeladenen zu 2 für die Bundeswehr behauptet hat, kann dahinstehen, ob im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr eine unmittelbare Bedrohungslage für Angehörige von Ortskräften im Sinne einer "Sippenhaft" tatsächlich bestanden hatte (vgl. in diesem Sinne etwa VG Berlin, Beschluss vom 25. August 2021 – VG 10 L 285/21 V –). Jedenfalls sind keine Erkenntnisse ersichtlich oder benannt, die für eine Sippenhaft von Angehörigen noch mehrere Jahre nach dem Abzug aus Afghanistan streiten würden [...].
19 Auch unter Berücksichtigung des weiteren Vorbringens des Klägervertreters und des Beigeladenen zu 2 in der mündlichen Verhandlung vermag das Gericht keine Umstände zu erkennen, welche die Annahme rechtfertigen, dass der Kläger gerade auf eine Gewährung familiärer Lebenshilfe im Bundesgebiet zwingend angewiesen wäre. Soweit (erstmals) in der mündlichen Verhandlung vorgetragen worden ist, dass der Kläger mittlerweile in die Türkei weitergereist sei und in Istanbul in einer Schneiderei arbeite, lässt dies einerseits schon die bislang vorgetragene Gefährdungslage im Iran entfallen und andererseits erkennen, dass der Kläger offenbar zumindest imstande ist, seine Lebensumstände in die eigene Hand zu nehmen und sich auch wirtschaftlich so gut als möglich über Wasser zu halten. Dies gilt umso mehr, als er sich mit dem Wegzug aus dem Iran auch der möglichen Unterstützung des vor Ort verbleibenden Bruders begeben hat. Dass dem Kläger in seiner aktuellen Lage eine Rückführung nach Afghanistan unmittelbar drohte, ist schon insofern nicht substantiiert dargelegt worden, als er seinen aufenthaltsrechtlichen Status in der Türkei nicht konkretisiert hat. Auch in Anbetracht der schwierigen Situation u.a. afghanischer Flüchtlinge in der Türkei (vgl. etwa den Bericht von Human Rights Watch von 2024, S. 4, abrufbar unter www.hrw.org/worldreport/ 2024/country-chapters/turkey) ist ohne nähere Darlegung der konkreten Situation und dem Nachweis entsprechender Umstände nicht davon auszugehen, dass sich der Kläger in einer unmittelbar prekären Lage befände, aus der ihn allein eine Zusammenführung mit seiner Familie im Bundesgebiet befreien könnte. Keine andere Einschätzung folgt auch daraus, dass der Beigeladene zu 2 die Gepflogenheit im Kulturkreis des Klägers besonders betont hat, dass sich die Eltern afghanischer Kinder unabhängig vom Alter bis zu deren Verheiratung für diese verantwortlich fühlen. Ein solches kulturell bedingtes Selbstverständnis vermag die gesetzgeberische Wertung, den Familiennachzug volljähriger Angehöriger nur unter besonders strengen Voraussetzungen zu ermöglichen, nicht zu ersetzen. Das bloße Interesse an der Wahrung kultureller Gepflogenheiten, so nachvollziehbar es auch erscheinen mag, begründet für sich genommen keinen Fall außergewöhnlicher Härte im Sinne des Gesetzes.
20 Im Übrigen ist in Anbetracht der gebotenen Gesamtbetrachtung (vgl. erneut BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 – BVerwG 1 C 15/12 –, a.a.O.) – was die Beklagte zu Recht in dem angefochtenen Bescheid getan hat – auch darauf zu verweisen, dass der Familie des Klägers die Möglichkeit einer Zusammenführung nach dem Berliner Landesprogramm für afghanische Flüchtlinge dem Grunde nach gemäß § 23 Abs. 1 AufenthG grundsätzlich eröffnet wäre. In der mündlichen Verhandlung ist für das Gericht nicht nachvollziehbar dargelegt worden, weshalb die seit 2021 sich hier aufhaltenden Eltern, vom Absolvieren eines A2-Sprachkurses durch den Beigeladenen zu 2 abgesehen, keine durchgreifenden Bemühungen an den Tag gelegt haben, ihren Lebensunterhalt und prospektiv denjenigen des Klägers eigenständig zu sichern. Mit der behaupteten dramatischen Notlage ihres Sohnes lässt sich dies nicht in Einklang bringen. Jedenfalls wäre aus dieser Perspektive auch im Rahmen des § 36 Abs. 2 AufenthG ein Abrücken von den regelmäßig zu verlangenden allgemeinen Nachzugsvoraussetzungen des §§ 5 Abs. 1 Nr. 1, 2 Abs. 3 AufenthG nicht gerechtfertigt. [...]