Bundesministerium des Innern

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Zitieren als:
Bundesministerium des Innern, Erlass/Behördliche Mitteilung vom 29.05.2024 - M3-20010/28#11 - asyl.net: M32469
https://www.asyl.net/rsdb/m32469
Leitsatz:

Aktualisierung der Anwendungshinweise des BMI zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts:

1. Es wird die Wichtigkeit betont, Anreize zu setzen und Unterstützung zu leisten, um einen erfolgreichen Übergang aus dem Chancen-Aufenthalt in den Folgetitel (insb. § 25a, § 25b AufenthG) zu ermöglichen. Vorrangig ist zu prüfen, ob die Voraussetzungen der §§ 25a, 25b AufenthG vorliegen.

2. Wiederholte Verurteilungen wegen Straftaten unterhalb der Grenze beachtlicher Verurteilungen in Höhe von 50 Tagessätzen bzw. 90 Tagessätzen bei ausländerrechtlichen Sonderdelikten führen zum Ausschluss vom Chancenaufenthaltsrecht, wenn sie zusammengerechnet 50 Tagessätze bzw. 90 Tagessätze bei ausländerrechtlichen Sonderdelikten übersteigen.

3. Unrichtige Angaben einer Person, die diese minderjährig gemacht hat, können gemäß § 104c Abs. 1 S. 2 AufenthG nur dann zur Versagung der Aufenthaltserlaubnis führen, wenn die Person diese Angaben in Kenntnis der Unrichtigkeit nach Erreichen der Volljährigkeit bestätigt.

3. Spätestens mit der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis gemäß § 104c AufenthG erfolgt für Leistungsberechtigte der Rechtskreiswechsel vom AsylbLG in das SGB II.

4. Ein Reiseausweis für Ausländer kann insbesondere dann erteilt werden, wenn eine Person die Ausreise aus dem Bundesgebiet beabsichtigt, um einen Pass ihres Heimatstaates zu erlangen, soweit die übrigen Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vorliegen, und es unzumutbar ist, ein Rückreisedokument des Heimatstaates zu erhalten. Die Gültigkeitsdauer eines Reiseausweises für Ausländer soll sich auf die voraussichtliche Dauer des Verfahrens der Passbeschaffung beschränken.

5. Beim Übergang in eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25b AufenthG kann angenommen werden, dass eine Person ihren Lebensunterhalt im Laufe der Zeit selbst sichern wird, wenn z.B. ein konkretes Arbeitsplatzangebot vorliegt oder die Schul- und Berufsausbildung sowie die bisherigen Integrationsleistungen in Sprache und Gesellschaft nahelegen, dass der Lebensunterhalt gesichert sein wird. Allein die Tatsache, dass ein Arbeitsvertrag befristet ist, kann eine negative Prognose hinsichtlich der Lebensunterhaltssicherung nicht begründen. Beim Übergang vom Chancen-Aufenthalt in den Folgetitel des § 25b AufenthG sollte der Aspekt der langfristigen und nachhaltigen Arbeitsmarktintegration z.B. durch eine Teilnahme an berufsabschlussorientierten Maßnahmen besonders gewürdigt werden.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: Bundesministerium des Innern, Erlass/Behördliche Mitteilung vom 23.12.2022 - (Asylmagazin 1-2/2023, S. 33) - asyl.net: M31183)

Schlagwörter: Chancen-Aufenthaltsrecht, Bleiberecht, Duldung, Innenministerium, atypischer Ausnahmefall, Straftat, Ausweisungsinteresse, Ausschlussgrund, Identitätstäuschung, Hinweispflicht, Integrationsmaßnahme, Fiktionswirkung, aufenthaltsbeendende Maßnahmen, Grenzübertrittsbescheinigung, Voraufenthalt, Zweckwechsel, Wechsel des Aufenthaltszwecks, Rechtskreiswechsel, freiheitliche demokratische Grundordnung,
Normen: AufenthG § 104c, AufenthG § 25a, AufenthG § 25b, AufenthV § 5
Auszüge:

[...]

0. Allgemeines:
Mit dem Gesetz zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts wird ein Neuanfang in der Migrations- und Integrationspolitik gestartet und insgesamt ein wichtiger Beitrag zur Modernisierung des Migrationsrechts geleistet. Es eröffnet jenen Menschen Chancen und Perspektiven, die trotz bestehender Ausreisepflicht seit langer Zeit in Deutschland leben, keine Straftaten bzw. nur geringfügige Straftaten oder Straftaten nur im ausländerrechtlichen Zusammenhang bzw. im Bereich jugendtypischer Delikte begangen haben und ein Teil unserer Gesellschaft geworden sind. [...]

Die Verantwortung für das Erreichen der Voraussetzungen der §§ 25a, 25b AufenthG liegt bei den betreffenden Personen selber. Es sollen jedoch Anreize gesetzt werden und eine Unterstützung dergestalt erfolgen, dass ein Bleiberecht spätestens im Anschluss an den 18-monatigen Aufenthalt nach Möglichkeit erreicht werden kann. [...]

Die Ausländerbehörden sind daher angehalten, die betroffenen Menschen in ihren Bemühungen zur Erlangung eines Bleiberechts zu unterstützen und auf weiterführende Hilfsangebote hinzuweisen sowie ggf. geeignete Ansprechpartner in anderen Behörden zu benennen (siehe hierzu auch Kapitel 1.11 sowie 3.3). [...]

Zum gesetzlichen Stichtag haben sich in der Bundesrepublik Deutschland laut den Angaben im Ausländerzentralregister (AZR) 248.182 geduldete Ausländer aufgehalten, davon 137.373 mit einer Mindestaufenthaltszeit von fünf Jahren. Mit dem Chancen-Aufenthalt soll den Betreffenden die Möglichkeit gegeben werden, in dem im Gesetz vorgesehenen Zeitraum von 18 Monaten die notwendigen Voraussetzungen für ein Bleiberecht zu erfüllen. [...]

1.3. Geduldeter Aufenthalt

Der Ausländer muss zum Zeitpunkt der Antragstellung geduldet sein. [...] Maßgeblich ist, dass einer der in § 60a Absatz 2 AufenthG genannten Duldungsgründe vorliegt. Es kommt in diesem Fall nicht darauf an, dass der Ausländer eine förmliche Duldungsbescheinigung innehat (§ 60a Absatz 4 AufenthG). Das Vorliegen der Erteilungsvoraussetzungen genügt. [...]

1.4 Voraufenthaltszeiten
Mit dem Chancen-Aufenthalt werden die Geduldeten begünstigt, die sich am 31. Oktober 2022 seit fünf Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufgehalten haben. Anrechenbar sind alle ununterbrochenen Voraufenthaltszeiten, in denen sich der Ausländer in asyl- oder aufenthaltsrechtlichen Verfahren, also geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis, im Bundesgebiet aufgehalten hat. Kurzfristige Unterbrechungen des Aufenthalts im Bundesgebiet von bis zu drei Monaten, die keine Verlegung des Lebensmittelpunkts beinhalten, sind unschädlich. [...]

1.5 "Soll"-Erteilung

Die Ausländerbehörden sollen bei Vorliegen der Voraussetzungen in der Regel die Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG erteilen. Dies bedeutet, dass der Titel bei Vorliegen der Erteilungsvoraussetzungen grundsätzlich zu erteilen ist. Ausnahmen sind nur bei Vorliegen atypischer Umstände denkbar. [...]

1.6 Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung (FDGO) [...]

1.7 Straffreiheit / Verhältnis zu § 5 Absatz 1 Nummer 2 AufenthG [...]

1.8 Soll-Ausschlussgrund nach § 104c Absatz 1 Satz 2 AufenthG

Nach § 104c Absatz 1 Satz 2 AufenthG soll die Aufenthaltserlaubnis versagt werden, wenn der Ausländer wiederholt vorsätzlich falsche Angaben gemacht oder über seine Identität oder Staatsangehörigkeit getäuscht hat und seine Abschiebung dadurch verhindert. Die bloße Nicht-Mitwirkung – also das Unterlassen zumutbarer Handlungen zur Passbeschaffung und fehlende Mitwirkung bei der Beseitigung von Ausreisehindernissen – ist hingegen unschädlich.

Der Ausschlussgrund kann nur in Fällen einer besonderen Intensität und Dauerhaftigkeit der Täuschung in Betracht kommen. [...]

Bloßes Schweigen ist keine Täuschung. [...]

Voraussetzung für den Versagungsrund ist ein aktives eigenverantwortliches Verhalten des Ausländers in der Vergangenheit, das kausal für die Verhinderung der Aufenthaltsbeendigung ist. Zur Prüfung der Versagungsgründe kann auf aktenkundige Vorkommnisse zurückgegriffen werden. [...]

Bei mehreren Ursachen muss die Falschangabe beziehungsweise Täuschung wesentlich ursächlich gewesen sein. Sofern ein anderer Duldungsgrund vorliegt ("Mischfälle"), liegt kein Ausschlussgrund vor. [...]

1.10 § 104c Absatz 3 AufenthG (Titelerteilung/Zweckwechselverbot)

[...] Die Ausländerbehörde kann demnach auch bei Ablehnung eines Asylantrages als offensichtlich unbegründet nach § 30 Absatz 3 Nummer 1 bis 6 AsylG im Ermessen einen Chancen-Aufenthaltstitel erteilen. [...]

1.11 § 104c Absatz 4 - Hinweispflichten der Ausländerbehörden bzw. Aufzeigen von Handlungspflichten [...]

1.12 Sonstige Rechtsfolgen bei Titelerteilung

Inhaber eines Chancen-Aufenthalts unterliegen keiner wohnsitzbeschränkenden Auflage kraft Gesetzes nach §12a Absatz 1 AufenthG. [...]

1.13 Ausstellung des Chancen-Aufenthaltstitels als Ausweisersatz

Das Chancen-Aufenthaltsrecht soll einem geduldeten Ausländer nach § 104c AufenthG u.a. abweichend von § 5 Absatz 1 Nummer 1a und Nummer 4 AufenthG erteilt werden (vgl. § 104c Absatz 1 Satz 1 AufenthG). Die Klärung der Identität sowie die Erfüllung der Passpflicht sind demnach keine Voraussetzungen für das Chancen-Aufenthaltsrecht. [...] Daher ist es folgerichtig, auch die Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG als Ausweisersatz auszustellen. [...]

2.3 Geklärte Identität nach § 25a Absatz 6 und § 25b Absatz 8

Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis setzt in der Regel nach § 5 Absatz 1 Nummer 1a AufenthG voraus, dass die Identität des Ausländers geklärt ist. [...] Für Inhaber einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c ist Voraussetzung für den Wechsel in ein Bleiberecht, dass die Voraussetzungen des § 5 Absatz 1 Nr. 1a AufenthG erfüllt sind. Sofern der Ausländer jedoch alle erforderlichen und ihm zumutbaren Maßnahmen zur Identitätsklärung ergriffen hat, die Identität aber – beispielsweise, weil die zuständige Auslandsvertretung des entsprechenden Herkunftslandes nicht die erforderlichen Dokumente ausstellt oder beantragte Dokumente nicht bis zum Ablauf der Chancen-Aufenthaltserlaubnis eingetroffen sind – nicht zur Überzeugung der Ausländerbehörde feststeht, kann die Behörde im Ermessen hiervon absehen.

Den Nachweis seiner Identität hat der Ausländer in erster Linie und in der Regel durch Vorlage eines anerkannten und gültigen Passes oder Passersatzes (Passpapiere) zu führen. An der Echtheit der Dokumente dürfen keine Zweifel bestehen.

Sofern der Ausländer Passpapiere nicht in zumutbarer Weise erlangen kann, sollte sich das weitere Verfahren an dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. September 2020 (Az. 1 C 36/19) in einem Einbürgerungsverfahren orientieren, das ein Stufenmodell zur Klärung der Identität vorsieht. Hiernach ist die Klärung der Identität jeweils bei Unmöglichkeit bzw. Unzumutbarkeit der Beibringung eines Passes, bestimmter amtlicher Dokumente oder sonstiger nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz zugelassener Beweismittel jeweils in der nachfolgenden Stufe möglich. [...]

Die Identität des Ausländers gilt als geklärt im Sinne des § 5 Absatz 1 Nummer 1a AufenthG, wenn die Angaben zur Person auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Umstände des Einzelfalls und des gesamten Vorbringens des Ausländers zur Überzeugung der Ausländerbehörde feststehen. [...]

Ein Reiseausweis für Ausländer kann insbesondere dann in diesem Zusammenhang erteilt werden, wenn der Ausländer eine Ausreise aus dem Bundesgebiet beabsichtigt, um einen Pass seines Heimatstaates zu erlangen, soweit die übrigen Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vorliegen, und es unzumutbar ist, ein Rückreisedokument seines Heimatstaates zu erhalten. Die Gültigkeitsdauer eines Reiseausweises für Ausländer soll sich auf die voraussichtliche Dauer des Verfahrens der Passbeschaffung beschränken.

2.4 Überwiegende Lebensunterhaltssicherung bzw. positive Prognoseentscheidung

Nach § 25b Absatz 1 Satz 2 Nummer 3 AufenthG muss der Ausländer entweder seinen Lebensunterhalt überwiegend durch Erwerbstätigkeit sichern oder es muss bei der Betrachtung der bisherigen Schul-, Ausbildungs-, Einkommens- sowie der familiären Lebenssituation zu erwarten sein, dass die Person ihren Lebensunterhalt im Laufe der Zeit selbst sichern wird. Dies kann z.B. angenommen werden, wenn ein konkretes Arbeitsplatzangebot vorliegt oder die Schul- und Berufsausbildung sowie die bisherigen Integrationsleistungen in Sprache und Gesellschaft nahelegen, dass der Lebensunterhalt gesichert sein wird. Die Tatsache, dass ein Arbeitsvertrag befristet ist, kann eine negative Prognose hinsichtlich der Lebensunterhaltssicherung überwiegend durch Erwerbstätigkeit allein nicht begründen. [...]

3. Integrationsmaßnahmen

3.1 Möglichkeit der Verpflichtung zum Integrationskurs

Die Erteilung eines regulären Aufenthaltstitels nach § 25b AufenthG setzt bei Ausländern nach Vollendung des 27. Lebensjahres regelmäßig voraus, dass der Ausländer über hinreichende mündliche Deutschkenntnisse im Sinne des Niveaus A 2 des Gemeinsamen Europäische Referenzrahmens für Sprachen (GER) verfügt. Der Nachweis dieser Kenntnisse hat dabei nicht zwingend durch Vorlage eines Sprachzertifikats zu erfolgen. Er ist beispielsweise auch dann erbracht, wenn der Ausländer bereits längere Zeit im Berufsleben gestanden hat und Gespräche bei der Ausländerbehörde ohne Zuhilfenahme von Dolmetschern geführt werden können oder er den erfolgreichen Besuch einer deutschsprachigen Schule, den Abschluss einer deutschen Berufsbildung oder eines deutschsprachigen Studiums an einer deutschsprachigen (Fach-)Hochschule nachweisen kann.

Der Abschluss eines Integrationskurses ist damit grundsätzlich nicht Voraussetzung für die Erteilung des Aufenthaltstitels. [...]

Falls gleichwohl keinerlei Deutschkenntnisse vorliegen und nicht zu erwarten ist, dass der Antragsteller diese selbständig erlangt und insofern die zwingende Notwendigkeit der Teilnahme an einem Sprachkurs gesehen wird, dürfte von einem besonderen Integrationsbedarf auszugehen sein. Insofern kann die Verpflichtung des Ausländers zur Teilnahme an einem Integrationskurs gemäß § 44a Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 AufenthG zweckmäßig sein. [...]

Es ist eine Abwägung im Einzelfall empfehlenswert, ob die Verpflichtung zum Integrationskurs notwendig erscheint. […]