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EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 13.06.2024 - C-563/22 - SN, LN gg. Bulgarien - asyl.net: M32468
https://www.asyl.net/rsdb/m32468
Leitsatz:

Zum ipso facto-Schutz für Personen aus dem Gazastreifen im Folgeverfahren:

1. Bei der Prüfung der Begründetheit eines Folgeantrags darf sich die Behörde nicht darauf beschränken, nur neue Elemente und Erkenntnisse zu prüfen, sondern muss alle zur Begründung des Folgeantrags vorgetragenen Aspekte berücksichtigen, auch wenn diese bereits Gegenstand eines ersten Asylverfahrens waren. Die Beschränkung auf neue Elemente und Erkenntnisse gilt nur bei der Prüfung der Zulässigkeit eines Folgeantrags.

2. Gemäß Art. 12 Abs. 1 Bst. a S. 2 Qualifikationsrichtlinie [QRL, RL 2011/95/EU] ist Personen, denen der Schutz oder Beistand des UNRWA aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt wird, ipso facto, d.h. ohne weitere Prüfung der Voraussetzungen, die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen [im nationalen Recht in § 3 Abs. 3 S. 2 AsylG umgesetzt].

3. Das ist u.a. dann der Fall, wenn es aufgrund der im Operationsgebiet herrschenden allgemeinen Lage nicht möglich ist, der betroffenen Person menschenwürdige Lebensbedingungen und ein Mindestmaß an Sicherheit zu gewährleisten. Dabei ist auch die spezifische Situation der betroffenen Person zu berücksichtigen, wie z.B. deren Minderjährigkeit.

4. Für die Frage, ob es der betroffenen Person nicht möglich ist, Schutz oder Beistand von UNRWA zu erhalten, ist sowohl auf den Zeitpunkt abzustellen, in dem sie das Einsatzgebiet von UNRWA verlassen hat als auch auf den Zeitpunkt, zu dem die Behörde oder das Gericht entscheidet.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: EuGH, Urteil vom 03.03.2022 - C-349/20 - NB, AB gegen Vereinigtes Königreich - asyl.net: M30471)

Schlagwörter: Palästinenser, UNRWA, Beurteilungszeitpunkt, Gaza-Streifen, Asylfolgeantrag, minderjährig, Schutz, Lebensbedigungen
Normen: RL 2011/95/EU Art. 12 Abs. 1 Bst. a, AsylG § 3 Abs. 3, RL 2013/32/EU Art. 40, RL 2013/32/EU Art. 2 Bst. e, RL 2013/32/EU Art. 2 Bst. q, RL 2011/95/EU Art. 4,
Auszüge:

[...]

42 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 40 der Richtlinie 2013/32 in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass die Behörde, die über die Begründetheit eines Folgeantrags auf internationalen Schutz entscheidet, verpflichtet ist, die zur Stützung dieses Antrags vorgebrachten tatsächlichen Elemente zu prüfen, und zwar auch dann, wenn diese Tatsachen bereits von der Behörde gewürdigt wurden, die einen ersten Antrag auf internationalen Schutz endgültig abgelehnt hat.

43 Zur Beantwortung dieser Frage ist erstens darauf hinzuweisen, dass nach Art. 2 Buchst. e und q der Richtlinie 2013/32 ein Folgeantrag ein weiterer Antrag auf internationalen Schutz ist, der nach Erlass einer bestandskräftigen Entscheidung – d. h. einer Entscheidung, gegen die kein Rechtsbehelf nach Kapitel V dieser Richtlinie mehr eingelegt werden kann – über einen früheren Antrag gestellt wird.

44 Folglich stellt ein Folgeantrag als solcher einen Antrag auf internationalen Schutz dar, und zwar, wie der Generalanwalt in Nr. 45 seiner Schlussanträge im Wesentlichen hervorhebt, unabhängig davon, auf welcher Rechtsgrundlage ein solcher Folgeantrag gestellt wird. [...]

51 Art. 4 Abs. 3 Buchst. a und b der Richtlinie 2011/95 schreibt eine individuelle Prüfung des Antrags vor, wobei u. a. alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, und die vom Antragsteller vorgelegten Unterlagen, einschließlich Informationen zu der Frage, ob er verfolgt worden ist bzw. verfolgt werden könnte oder einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. erleiden könnte, zu berücksichtigen sind.

52 Außerdem sieht, wie der Generalanwalt in Nr. 55 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausführt, Art. 10 der Richtlinie 2013/32, der eben zu deren Kapitel II gehört, in Abs. 3 Buchst. a vor, dass die Anträge auf internationalen Schutz einzeln, objektiv und unparteiisch geprüft werden.

53 Daraus folgt, dass sich die Behörde, die über die Begründetheit eines Folgeantrags entscheidet, nicht darauf beschränken darf, nur die neuen Elemente oder Erkenntnisse zu beurteilen, die zur Stützung seiner Zulässigkeit vorgebracht werden, sondern gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 alle vom Antragsteller zur Stützung dieses Folgeantrags vorgebrachten Anhaltspunkte berücksichtigen muss (Urteil vom 10. Juni 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Neue Elemente oder Erkenntnisse], C-921/19, EU:C:2021:478, Rn. 44).

54 Der Umstand, dass ein Element zur Stützung eines Folgeantrags bereits im Rahmen der Prüfung eines früheren Antrags auf internationalen Schutz beurteilt wurde, der zu einer bestandskräftig gewordenen Ablehnungsentscheidung geführt hat, hindert die Behörde, die über den Folgeantrag entscheidet, nicht daran, diese Tatsache im Licht der Umstände, die durch die neuen Elemente oder Erkenntnisse zutage getreten sind, aufgrund deren dieser Antrag als zulässig angesehen werden konnte, erneut zu prüfen, um über den Antrag in der Sache zu entscheiden.

55 Die zuständige nationale Behörde muss sich nämlich nur im Stadium der Prüfung der Zulässigkeit des Folgeantrags darauf beschränken, zum einen zu prüfen, ob Elemente oder Erkenntnisse zur Stützung dieses Antrags vorliegen, die im Rahmen der nunmehr bestandskräftigen Entscheidung über den früheren Antrag nicht geprüft worden sind, und zum anderen, ob diese neuen Elemente oder Erkenntnisse allein erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beitragen, dass dem Antragsteller der Status einer Person mit Anspruch auf internationalen Schutz zuerkannt wird [...].

56 Diese Auslegung ist umso mehr geboten, wenn das neue Element, auf das der Folgeantrag gestützt wird, nicht einen bloßen tatsächlichen Umstand darstellt, sondern die Anwendung einer anderen Rechtsvorschrift auslösen kann als derjenigen, auf deren Grundlage die zuständige Behörde über den früheren Antrag entschieden hat, wie Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95, der die Fälle betrifft, in denen der Schutz oder Beistand des UNRWA nicht länger gewährt wird. In einer solchen Situation sind die bereits im früheren Verfahren geprüften Elemente anhand der Merkmale dieser neuen Rechtsgrundlage neu zu bewerten. [...]

58 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 40 der Richtlinie 2013/32 in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass die Behörde, die über die Begründetheit eines Folgeantrags auf internationalen Schutz entscheidet, verpflichtet ist, die zur Stützung dieses Antrags vorgebrachten tatsächlichen Elemente zu prüfen, und zwar auch dann, wenn diese Tatsachen bereits von der Behörde gewürdigt wurden, die einen ersten Antrag auf internationalen Schutz endgültig abgelehnt hat. [...]

59 Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass der Schutz oder Beistand des UNRWA, den ein Staatenloser palästinensischer Herkunft, der internationalen Schutz beantragt, genießt, im Sinne dieser Bestimmung als nicht länger gewährt gilt, wenn diese Organisation aus irgendeinem Grund, auch aufgrund der allgemeinen Lage, die in dem Operationsgebiet des Einsatzgebiets dieser Organisation herrscht, in dem dieser Staatenlose seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, nicht in der Lage ist, diesem Staatenlosen, gegebenenfalls unter Berücksichtigung seiner Schutzbedürftigkeit, gemäß ihrem Auftrag menschenwürdige Lebensbedingungen zu gewährleisten, ohne dass er nachweisen müsste, dass er aufgrund von seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen von dieser allgemeinen Lage spezifisch betroffen ist. In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht wissen, im Hinblick auf welchen Zeitpunkt die Frage zu beurteilen ist, ob der Schutz oder Beistand des UNRWA als nicht länger gewährt gilt. Außerdem möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Umstand, dass es sich bei diesem Staatenlosen um ein minderjähriges Kind handelt, für diese Beurteilung relevant ist.

60 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 der Richtlinie 2011/95 ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen ist, "wenn er den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Institution der Vereinten Nationen mit Ausnahme des [UNHCR] gemäß Artikel 1 Abschnitt D der Genfer Flüchtlingskonvention genießt".

61 Art. 1 Abschnitt D Abs. 1 der Genfer Konvention bestimmt, dass diese keine Anwendung auf Personen findet, "die zurzeit" den Schutz oder Beistand "einer Organisation oder einer Institution der Vereinten Nationen mit Ausnahme des [UNHCR] genießen". 62 Konkret hat jede Person, die (wie SN oder LN) beim UNRWA registriert ist, Anspruch auf den Schutz und den Beistand dieser Organisation, damit ihrem Wohlergehen als Flüchtling gedient ist (Urteil vom 5. Oktober 2023, OFPRA [Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft], C-294/22, EU:C:2023:733, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

63 Wegen dieses in den genannten Gebieten des Nahen Ostens eingeführten speziellen Flüchtlingsstatus für Palästinenser ist es nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 der Richtlinie 2011/95, der Art. 1 Abschnitt D Satz 1 der Genfer Konvention entspricht, für die beim UNRWA registrierten Personen grundsätzlich ausgeschlossen, in der Europäischen Union als Flüchtling anerkannt zu werden [...].

64 Allerdings folgt aus Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95, der Art. 1 Abschnitt D Abs. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention entspricht, dass in dem Fall, dass der Schutz oder Beistand des UNRWA aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt wird, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist, dieser Betroffene ipso facto den Schutz der Richtlinie 2011/95 genießt [...].

67 Insoweit hat der Gerichtshof bereits klargestellt, dass mit dem bloßen Verlassen des UNRWA-Einsatzgebiets durch den Betroffenen – unabhängig von dem Grund dafür – der in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 dieser Richtlinie vorgesehene Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling nicht enden kann und dass daher eine bloße Abwesenheit von diesem Gebiet oder die freiwillige Entscheidung, es zu verlassen, nicht als Wegfall des Schutzes oder Beistands des UNRWA im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie eingestuft werden kann [...].

68 Der Gerichtshof hat jedoch auch entschieden, dass der von einer Organisation oder einer Institution wie dem UNRWA geleistete Schutz oder Beistand nicht nur durch die Auflösung dieser Organisation oder Institution selbst wegfallen kann, sondern auch dadurch, dass es dieser Organisation oder Institution unmöglich ist, ihre Aufgabe zu erfüllen [...].

69 So kann, wenn die Entscheidung, das UNRWA-Einsatzgebiet zu verlassen, durch Zwänge begründet ist, die vom Willen des Betroffenen unabhängig sind, eine solche Situation zu der Feststellung führen, dass der Beistand, den diese Person genossen hat, im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 nicht länger gewährt wird [...].

71 Daher kommt Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 zur Anwendung, wenn sich auf der Grundlage einer individuellen Beurteilung aller maßgeblichen Umstände herausstellt, dass sich der betreffende Staatenlose palästinensischer Herkunft in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befindet und es dem UNRWA, um dessen Beistand er ersucht hat, aus irgendeinem Grund unmöglich ist, ihm Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit der Aufgabe des UNRWA im Einklang stehen, so dass sich dieser Staatenlose aufgrund von Umständen, die von ihm nicht zu kontrollieren und von seinem Willen unabhängig sind, gezwungen sieht, das UNRWA-Einsatzgebiet zu verlassen [...]

72 Insoweit ist zum einen klarzustellen, dass die Voraussetzung betreffend die sehr unsichere persönliche Lage des Antragstellers impliziert, dass dieser Antragsteller sich in dem betreffenden Operationsgebiet des Einsatzgebiets des UNRWA in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befindet, es aber nicht erforderlich ist, dass diese sehr unsichere persönliche Lage spezifische Merkmale aufweist, die der Person des Antragstellers eigen sind oder durch seine besondere Situation verursacht werden. Was die Unmöglichkeit für das UNRWA betrifft, dem Antragsteller Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit seiner Aufgabe im Einklang stehen, so ist dies der Fall, wenn es dieser Organisation aus irgendeinem Grund, auch aufgrund der in diesem Operationsgebiet herrschenden allgemeinen Lage, nicht möglich ist, dem Antragsteller menschenwürdige Lebensbedingungen und ein Mindestmaß an Sicherheit zu gewährleisten [...]

73 Die individuelle Prüfung dieser Voraussetzungen setzt außerdem voraus, dass die spezifische Situation des Antragstellers und der Grad seiner Schutzbedürftigkeit gebührend berücksichtigt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2020, Addis, C-517/17, EU:C:2020:579, Rn. 54). Insoweit ist jedem Element besondere Aufmerksamkeit zu widmen, das die Annahme zulässt, dass der betreffende Staatenlose palästinensischer Herkunft spezifische Grundbedürfnisse hat, die mit einem Zustand der Schutzbedürftigkeit und insbesondere mit dem etwaigen Umstand zusammenhängen, dass es sich bei diesem Staatenlosen um einen Minderjährigen handelt, so dass gemäß Art. 24 Abs. 2 der Charta das Wohl dieses Kindes zu berücksichtigen ist. [...]

75 Als Zweites ist es, wie der Generalanwalt in Nr. 63 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, Sache der zuständigen nationalen Behörden und Gerichte, nicht nur festzustellen, ob das Verlassen des UNRWA-Einsatzgebiets durch einen Antragsteller auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 durch Gründe gerechtfertigt werden kann, die sich seiner Kontrolle entziehen und von seinem Willen unabhängig sind und ihn somit daran hindern, Schutz oder Beistand des UNRWA zu erhalten, sondern auch, ob er zu dem Zeitpunkt, zu dem die zuständigen Verwaltungsbehörden einen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft prüfen, oder zu dem Zeitpunkt, zu dem das zuständige Gericht über eine Klage gegen die Verweigerung der Zuerkennung dieser Eigenschaft entscheidet, daran gehindert ist, einen solchen Schutz oder Beistand zu erhalten, weil sich die Lage in dem betreffenden Einsatzgebiet aus Gründen verschlechtert, die sich seiner Kontrolle entziehen und unabhängig von seinem Willen sind [...].

78 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass sich ein Staatenloser palästinensischer Herkunft, der den Beistand des UNRWA beantragt hat, unter Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 fällt, wenn sich auf der Grundlage einer individuellen Beurteilung aller relevanten Umstände anhand des aktuellen Stands herausstellt, dass sich dieser Staatenlose bei einer Rückkehr in das Operationsgebiet des Einsatzgebiets des UNRWA, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befände, gegebenenfalls unter Berücksichtigung seiner Schutzbedürftigkeit, und dass es dem UNRWA aus irgendeinem Grund, auch aufgrund der in diesem Operationsgebiet herrschenden allgemeinen Lage, unmöglich ist, diesem Staatenlosen menschenwürdige Lebensverhältnisse und ein Mindestmaß an Sicherheit zu gewährleisten, unter Berücksichtigung gegebenenfalls der spezifischen Bedürfnisse, die mit seiner Schutzbedürftigkeit zusammenhängen.

79 Somit ist davon auszugehen, dass ein Staatenloser palästinensischer Herkunft nicht in das Operationsgebiet des Einsatzgebiets des UNRWA zurückkehren kann, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, wenn die aus irgendeinem Grund bestehende Unmöglichkeit, den Schutz oder Beistand des UNRWA zu erhalten, für diesen Staatenlosen die reale Gefahr mit sich bringt, Lebensverhältnissen ausgesetzt zu werden, die ihm nicht im Einklang mit der Aufgabe des UNRWA die Deckung seiner grundlegenden Bedürfnisse auf den Gebieten Gesundheit, Bildung und Sicherung des Lebensunterhalts garantieren, gegebenenfalls unter Berücksichtigung seiner spezifischen Grundbedürfnisse aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer Personengruppe, die sich durch einen Grund für besondere Schutzbedürftigkeit, wie etwa Alter, auszeichnet. [...]

85 Sollte das vorlegende Gericht schließlich zu dem Ergebnis kommen, dass der Schutz oder Beistand des UNRWA in diesem Operationsgebiet seines Einsatzgebiets in Anbetracht der allgemeinen Lebensbedingungen, die zum Zeitpunkt seiner Entscheidung im Gazastreifen herrschen, SN oder LN gegenüber als nicht länger gewährt anzusehen ist, müsste es seine individuelle Prüfung ihrer Anträge fortsetzen, um zu prüfen, ob SN oder LN unter einen der in Art. 12 Abs. 1 Buchst. b, Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2011/95 genannten Ausschlussgründe fällt.

86 Andernfalls wäre diesen Staatenlosen palästinensischer Herkunft von Rechts wegen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2012, Abed El Karem El Kott u. a., C-364/11, EU:C:2012:826, Rn. 81).

87 Nach alledem ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, dass Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass der Schutz oder Beistand des UNRWA, den ein Staatenloser palästinensischer Herkunft, der internationalen Schutz beantragt, genießt, im Sinne dieser Bestimmung als nicht länger gewährt gilt, wenn zum einen diese Organisation aus irgendeinem Grund, auch aufgrund der allgemeinen Lage, die in dem Operationsgebiet des Einsatzgebiets dieser Organisation herrscht, in dem dieser Staatenlose seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, nicht in der Lage ist, diesem Staatenlosen, gegebenenfalls unter Berücksichtigung seiner Schutzbedürftigkeit, gemäß ihrem Auftrag menschenwürdige Lebensbedingungen zu gewährleisten, ohne dass er nachweisen müsste, dass er aufgrund von seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen von dieser allgemeinen Lage spezifisch betroffen ist, und wenn sich zum anderen der betroffene Staatenlose palästinensischer Herkunft im Fall seiner Rückkehr in dieses Operationsgebiet in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befindet, gegebenenfalls unter Berücksichtigung seiner Schutzbedürftigkeit, wobei die Verwaltungsbehörden und die Gerichte verpflichtet sind, eine individuelle Prüfung jedes auf diese Bestimmung gestützten Antrags auf internationalen Schutz vorzunehmen, in deren Rahmen das Alter der betreffenden Person relevant sein kann. Der Beistand oder Schutz des UNRWA ist insbesondere dann als gegenüber dem Antragsteller nicht länger gewährt anzusehen, wenn diese Organisation aus irgendeinem Grund keinem Staatenlosen palästinensischer Herkunft, der sich in dem Operationsgebiet ihres Einsatzgebiets aufhält, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, menschenwürdige Lebensverhältnisse und ein Mindestmaß an Sicherheit mehr gewährleisten kann. Die Frage, ob der Beistand oder Schutz des UNRWA als nicht länger gewährt gilt, ist im Hinblick auf den Zeitpunkt zu beurteilen, zu dem der Staatenlose das Operationsgebiet des Einsatzgebiets des UNRWA, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, verlassen hat, auf den Zeitpunkt, zu dem die zuständigen Verwaltungsbehörden über seinen Antrag auf internationalen Schutz entscheiden, oder auf den Zeitpunkt, zu dem das zuständige Gericht über einen Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung, mit der dieser Antrag abgelehnt wird, entscheidet. [...]