EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 11.06.2024 - C‑646/21 - K. und L. gg. Niederlande - asyl.net: M32465
https://www.asyl.net/rsdb/m32465
Leitsatz:

Emanzipierte Frauen können eine soziale Gruppe sein; Kindeswohl ist zu benennen:

1. Gemäß Art. 10 Abs. 1 Bst. d) Qualifikationsrichtlinie [QRL; umgesetzt in § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG] können Frauen, die sich mit Grundwert der Gleichheit von Frauen und Männern identifizieren (auch: "emanzipierte" oder "verwestlichte" Frauen), je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland als "bestimmte soziale Gruppe" angesehen werden. Das gilt auch für minderjährige Frauen bzw. Mädchen.

2. Die Aussagen einer schutzsuchenden Person im Asylverfahren bilden nur den Ausgangspunkt für die Prüfung ihres Antrags auf internationalen Schutz. Behörden haben oft eher Zugang zu bestimmten Arten von Unterlagen als Antragsteller*innen, sodass es gegen Art. 4 Qualifikationsrichtlinie verstieße, anzunehmen, dass es zwingend allein Sache der schutzsuchenden Person ist, alle Anhaltspunkte darzulegen, die einen Anspruch auf internationalen Schutz belegen können. Das gilt insbesondere für die Frage, ob eine Person in ihrem Herkunftsland als einer bestimmten sozialen Gruppe gemäß Art. 10 Abs. 1 QRL zugehörig wahrgenommen werden könnte und ob ihr aus diesem Grund Verfolgung droht.

3. Die Entscheidung über den Asylantrag einer minderjährigen Person verstößt gegen die in Art. 24 GR-Charta normierte Pflicht, das Kindeswohl zu berücksichtigen, wenn das Wohl der minderjährigen Person nicht im Rahmen einer individuellen Prüfung konkret bestimmt wurde.

4. Es ist Sache des Mitgliedstaats, die Modalitäten für die Beurteilung des Kindeswohls im Rahmen des Asylverfahrens zu bestimmen, insbesondere den Zeitpunkt oder die Zeitpunkte, zu denen diese Beurteilung vorzunehmen ist, und die Form, in der die Bestimmung des Kindeswohls erfolgen muss.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: EuGH, Urteil vom 16.01.2024 - C-621/21 - WS gegen Bulgarien - asyl.net: M32111)

Schlagwörter: Frauen, soziale Gruppe, emanzipierte Frauen, Verwestlichung, verwestlichte Frauen, Mädchen, geschlechtsspezifische Verfolgung, minderjährig, besonders schutzbedürftig, Kindeswohl, westlicher Lebensstil,
Normen: RL 2011/95/EU Art. 10 Abs. 1 Bst. d, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, GR-Charta Art. 24, RL 2011/95/EU Art. 2 Bst. d, RL 2011/95/EU Art. 9 Abs. 2 Bst. f,
Auszüge:

[...]

23 K und L, die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens, sind zwei in den Jahren 2003 und 2005 geborene Schwestern irakischer Staatsangehörigkeit. Sie reisten 2015 in Begleitung ihrer Eltern und ihrer Tante in die Niederlande ein. Seitdem halten sie sich ununterbrochen dort auf. Am 7. November 2015 stellten ihre Eltern in ihrem eigenen Namen und im Namen von K und L Asylanträge, die am 17. Februar 2017 abgelehnt wurden. Diese ablehnenden Entscheidungen wurden 2018 bestandskräftig.

24 Am 4. April 2019 stellten K und L Folgeanträge im Sinne von Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32, die mit Bescheiden des Staatssekretärs für Justiz und Sicherheit vom 21. Dezember 2020 als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurden. Im Zuge der Anfechtung dieser Bescheide machen K und L vor der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats 's-Hertogenbosch (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort 's-Hertogenbosch, Niederlande), dem vorlegenden Gericht, geltend, dass sie infolge ihres langfristigen Aufenthalts in den Niederlanden die Normen, Werte und Verhaltensweisen ihrer Altersgenossen angenommen hätten und damit "verwestlicht" seien. Deshalb gingen sie als junge Frauen davon aus, dass sie die Möglichkeit hätten, selbst Entscheidungen über die Gestaltung ihrer Existenz und ihrer Zukunft zu treffen, insbesondere in Bezug auf Beziehungen zu Männern, Eheschließung, Studium, Arbeit, Ausbildung und Äußerung ihrer politischen und religiösen Überzeugungen. Sie befürchteten, bei einer Rückkehr in den Irak verfolgt zu werden, weil sie in den Niederlanden Normen, Werte und Verhaltensweisen übernommen hätten, die sich von denen ihres Herkunftslands unterschieden und die für ihre Identität und ihr Bewusstsein so wesentlich geworden seien, dass sie nicht darauf verzichten könnten. Sie machen damit geltend, zu einer "bestimmten sozialen Gruppe" im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 zu gehören.

25 K und L tragen weiter vor, dass sie wegen ihres langfristigen Aufenthalts in den Niederlanden nunmehr dort verwurzelt seien und Entwicklungsschäden erleiden würden, wenn sie dieses Land verlassen müssten. Hinzu komme der Schaden, der dadurch entstanden sei, dass sie so lange in Ungewissheit über die Erlangung eines Aufenthaltstitels in diesem Mitgliedstaat gelebt hätten.

26 In diesem Zusammenhang stellt sich dem vorlegenden Gericht erstens die Frage, wie die Wendung "Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe" im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 auszulegen ist. Der Begriff der Verwestlichung verweise auf die Gleichheit von Frauen und Männern und insbesondere auf das Recht von Frauen, vor geschlechtsspezifischer Gewalt geschützt und nicht zur Eheschließung gezwungen zu werden, sowie auf das Recht, sich für oder gegen einen Glauben zu entscheiden und ihre eigenen politischen Meinungen zu haben und zu äußern.

27 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass "verwestlichte Frauen" nach der Rechtsprechung des Raad van State (Staatsrat, Niederlande) eine zu heterogene Gruppe bildeten, um als einer "bestimmten sozialen Gruppe" im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 zugehörig gelten zu können, und dass nach der nationalen Rechtspraxis eine etwaige "Verwestlichung" als ein Verfolgungsgrund, der entweder auf der Religion oder auf der politischen Überzeugung beruhe, geprüft werde.

28 Zweitens stelle sich die Frage, wie das durch Art. 24 Abs. 2 der Charta gewährleistete Wohl des Kindes im Rahmen des Verfahrens zur Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz zu berücksichtigen sei. Es finde sich im Unionsrecht kein Anhaltspunkt dafür, wie das Kindeswohl zu bestimmen sei. [...]

34 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit den ersten beiden Vorlagefragen, die zusammen geprüft werden können, im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 10 Abs. 1 Buchst. d und Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland Frauen, auch minderjährige, die Staatsangehörige dieses Landes sind und als gemeinsames Merkmal ihre tatsächliche Identifizierung mit dem insbesondere in Art. 2 EUV verankerten Grundwert der Gleichheit von Frauen und Männern teilen, zu der es im Zuge ihres Aufenthalts in einem Mitgliedstaat gekommen ist, als einer "bestimmten sozialen Gruppe" zugehörig angesehen werden können, im Sinne eines "Verfolgungsgrundes", der zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen kann. [...]

40 Was insbesondere den Grund der "Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe" betrifft, ergibt sich aus Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Abs. 1 der Richtlinie, dass eine Gruppe als eine "bestimmte soziale Gruppe" gilt, wenn zwei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind. Erstens müssen die Personen, die ihr möglicherweise angehören, mindestens eines der folgenden drei Identifizierungsmerkmale teilen, nämlich "angeborene Merkmale", "einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann", oder "Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung …, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten". Zweitens muss diese Gruppe im Herkunftsland eine "deutlich abgegrenzte Identität" haben, "da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird" (Urteil vom 16. Januar 2024, Intervyuirasht organ na DAB pri MS [Frauen als Opfer häuslicher Gewalt], C-621/21, EU:C:2024:47, Rn. 40).

41 Zudem wird in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 u. a. erläutert, dass "[g]eschlechtsbezogene Aspekte, einschließlich der geschlechtlichen Identität, … zum Zweck der Bestimmung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der Ermittlung eines Merkmals einer solchen Gruppe angemessen berücksichtigt [werden]". [...]

42 Hinsichtlich der ersten Voraussetzung für die Identifizierung einer "bestimmten sozialen Gruppe" im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Abs. 1 erster Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95, nämlich mindestens eines der drei in dieser Bestimmung genannten Identifizierungsmerkmale zu teilen, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die Tatsache, weiblichen Geschlechts zu sein, ein angeborenes Merkmal darstellt und daher ausreicht, um diese Voraussetzung zu erfüllen (Urteil vom 16. Januar 2024, Intervyuirasht organ na DAB pri MS [Frauen als Opfer häuslicher Gewalt], C-621/21, EU:C:2024:47, Rn. 49).

43 Ferner können Frauen, die ein zusätzliches gemeinsames Merkmal, wie z.B. ein anderes angeborenes Merkmal, oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, wie eine besondere familiäre Situation, oder aber Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für ihre Identität oder ihr Gewissen sind, dass sie nicht gezwungen werden sollten, auf sie zu verzichten, dadurch diese Voraussetzung erfüllen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Januar 2024, Intervyuirasht organ na DAB pri MS [Frauen als Opfer häuslicher Gewalt], C-621/21, EU:C:2024:47, Rn. 50).

44 In diesem Zusammenhang ist zum einen festzustellen, dass, wie der Generalanwalt in Nr. 34 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die tatsächliche Identifizierung einer Frau mit dem Grundwert der Gleichheit von Frauen und Männern insoweit, als sie mit dem Wunsch verbunden ist, im Alltagsleben gleichberechtigt zu sein, voraussetzt, dass die Frau ihre eigenen Lebensentscheidungen insbesondere in Bezug auf Bildungsweg und Berufswahl, Ausmaß und Art der Aktivitäten im öffentlichen Raum, die Möglichkeit, durch eine außerhäusliche Tätigkeit wirtschaftliche Unabhängigkeit zu erlangen, die Wahl, allein oder mit Familie zu leben, und die Partnerwahl, bei denen es sich um identitätsbildende Entscheidungen handelt, frei treffen kann. Unter diesen Umständen kann die tatsächliche Identifizierung einer Drittstaatsangehörigen mit dem Grundwert der Gleichheit von Frauen und Männern als "[ein Merkmal] oder eine Glaubensüberzeugung [angesehen werden], die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass [die] Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten". [...]

45 Zum anderen kann der Umstand, dass sich junge drittstaatsangehörige Frauen während einer identitätsbildenden Lebensphase in einem Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben und sich im Zuge dieses Aufenthalts tatsächlich mit dem Grundwert der Gleichheit von Frauen und Männern identifiziert haben, "einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann", im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Abs. 1 erster Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 darstellen.

46 Daher ist festzustellen, dass diese Frauen, auch minderjährige, die erste Voraussetzung für die Identifizierung einer "bestimmten sozialen Gruppe" im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Abs. 1 erster Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 erfüllen. [...]

48 Was die zweite Voraussetzung für die Identifizierung einer "bestimmten sozialen Gruppe" nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Abs. 1 zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 angeht, die sich auf die "deutlich abgegrenzte Identität" der Gruppe im Herkunftsland bezieht, ist festzustellen, dass Frauen von der sie umgebenden Gesellschaft anders wahrgenommen werden und in dieser Gesellschaft eine deutlich abgegrenzte Identität insbesondere aufgrund in ihrem Herkunftsland geltender sozialer, moralischer oder rechtlicher Normen zuerkannt bekommen können [...].

49 Diese zweite Voraussetzung wird auch von Frauen, die ein zusätzliches gemeinsames Merkmal wie die tatsächliche Identifizierung mit dem Grundwert der Gleichheit von Frauen und Männern teilen, erfüllt, wenn die in ihrem Herkunftsland geltenden sozialen, moralischen oder rechtlichen Normen dazu führen, dass diese Frauen aufgrund dieses gemeinsamen Merkmals von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden [...].

50 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass es Sache des betreffenden Mitgliedstaats ist, zu bestimmen, welche umgebende Gesellschaft für die Beurteilung des Vorliegens dieser sozialen Gruppe relevant ist. Diese Gesellschaft kann mit dem gesamten Herkunftsdrittland der Person, die internationalen Schutz beantragt hat, zusammenfallen oder enger eingegrenzt sein, z. B. auf einen Teil des Hoheitsgebiets oder der Bevölkerung dieses Drittlands [...].

51 Daraus folgt, dass Frauen, auch minderjährige, die als gemeinsames Merkmal die tatsächliche Identifizierung mit dem Grundwert der Gleichheit von Frauen und Männern teilen, zu der es im Zuge ihres Aufenthalts in einem Mitgliedstaat gekommen ist, je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland als einer "bestimmten sozialen Gruppe" im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 zugehörig angesehen werden können.

52 Angesichts der Zweifel des vorlegenden Gerichts ist noch klarzustellen, dass es für die Anerkennung eines Verfolgungsgrundes im Sinne dieser Bestimmung keineswegs erforderlich ist, dass die tatsächliche Identifizierung dieser Frauen mit dem Grundwert der Gleichheit von Frauen und Männern politischen oder religiösen Charakter hat. Gleichwohl kann eine solche Identifizierung gegebenenfalls auch als Verfolgungsgrund der Religion oder der politischen Überzeugung aufgefasst werden.

53 Was als Drittes die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz einschließlich eines "Folgeantrags" betrifft, der auf den Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe gestützt wird, obliegt es den zuständigen nationalen Behörden gemäß Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95, zu prüfen, ob die Person, die sich auf diesen Verfolgungsgrund beruft, "begründete Furcht" hat, in ihrem Herkunftsland wegen dieser Zugehörigkeit Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 und 2 der Richtlinie ausgesetzt zu sein [...].

54 Bei dieser Prüfung muss die zuständige nationale Behörde erstens berücksichtigen, dass eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention, wie in Art. 9 Abs. 2 Buchst. f der Richtlinie klargestellt wird, u.a. in einer Handlung bestehen kann, die an die "Geschlechtszugehörigkeit" anknüpft.

55 Insoweit bestimmt Art. 60 Abs. 1 des Übereinkommens von Istanbul, dass Gewalt gegen Frauen aufgrund des Geschlechts, die nach Art. 3 dieses Übereinkommens als eine Menschenrechtsverletzung und eine Form der Diskriminierung der Frau zu verstehen ist, als eine Form der Verfolgung im Sinne von Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention anzuerkennen ist. Nach Art. 60 Abs. 2 des Übereinkommens von Istanbul müssen die Vertragsparteien sicherstellen, dass alle in der Genfer Flüchtlingskonvention aufgeführten Verfolgungsgründe geschlechtersensibel ausgelegt werden, also auch der Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe.

56 Zweitens können die Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 es als Pflicht des Antragstellers betrachten, so schnell wie möglich alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen. Gleichwohl müssen die Behörden der Mitgliedstaaten gegebenenfalls aktiv mit dem Antragsteller zusammenarbeiten, um die für den Antrag relevanten Angaben zu ermitteln und zu ergänzen [...].

57 Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang erläutert, dass die Aussagen einer um internationalen Schutz nachsuchenden Person im Verfahren zur Prüfung der Tatsachen und Umstände durch die zuständigen Behörden nur den Ausgangspunkt bilden und diese Behörden oft eher Zugang zu bestimmten Arten von Unterlagen haben als der Antragsteller [...].

58 Es verstieße daher gegen Art. 4 der Richtlinie 2011/95, davon auszugehen, dass es zwingend allein Sache des Antragstellers ist, alle Anhaltspunkte darzulegen, die die Gründe für seinen Antrag auf internationalen Schutz belegen können, und zwar insbesondere den Umstand, dass er zum einen in seinem Herkunftsland als einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne von Art. 10 Abs. 1 dieser Richtlinie zugehörig wahrgenommen werden könnte und zum anderen in diesem Land aus diesem Grund verfolgt zu werden droht [...].

64 Nach alledem ist auf die ersten beiden Fragen zu antworten, dass Art. 10 Abs. 1 Buchst. d und Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland Frauen, auch minderjährige, die Staatsangehörige dieses Landes sind und als gemeinsames Merkmal ihre tatsächliche Identifizierung mit dem Grundwert der Gleichheit von Frauen und Männern teilen, zu der es im Zuge ihres Aufenthalts in einem Mitgliedstaat gekommen ist, als einer "bestimmten sozialen Gruppe" zugehörig angesehen werden können, im Sinne eines "Verfolgungsgrundes", der zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen kann. [...]

69 Mit dem ersten Teil der dritten Frage und der vierten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 24 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass er es  der zuständigen nationalen Behörde verwehrt, über einen von einem Minderjährigen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu entscheiden, ohne das Wohl des Minderjährigen im Rahmen einer individuellen Prüfung konkret bestimmt zu haben. [...]

72 Art. 24 der Charta, der, wie sich aus dem 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 ergibt, zu den Artikeln der Charta gehört, deren Anwendung mit dieser Richtlinie gefördert werden soll, sieht in Abs. 2 vor, dass "[b]ei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen … das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein [muss]". [...]

75 Erstens müssen die Mitgliedstaaten, wie sich aus dem 18. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 ergibt, bei der Beurteilung des Wohls des Kindes in einem Verfahren des internationalen Schutzes insbesondere dem Grundsatz des Familienverbands, dem Wohlergehen und der sozialen Entwicklung des Kindes – was seine Gesundheit, seine familiäre Situation und seine Erziehung einschließt – sowie Sicherheitsaspekten Rechnung tragen. [...]

77 Die Beurteilung der Folgen, die aus dem Alter des Antragstellers zu ziehen sind, unter Berücksichtigung des Kindeswohls, wenn er minderjährig ist, fällt in die alleinige Verantwortung der zuständigen nationalen Behörde [...].

78 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die zuständige nationale Behörde, wenn ein Antragsteller, der um internationalen Schutz nachsucht, minderjährig ist, nach einer individualisierten Prüfung zwangsläufig das Wohl dieses Minderjährigen berücksichtigen muss, wenn sie die Begründetheit seines Antrags auf internationalen Schutz prüft.

79 Zweitens geht aus dem 18. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 hervor, dass die Mitgliedstaaten im Rahmen eines Verfahrens des internationalen Schutzes dem Willen des Minderjährigen unter Berücksichtigung seines Alters und seiner Reife Rechnung tragen müssen. [...]

80 Mangels genauerer Bestimmungen in der Richtlinie 2011/95 und der Richtlinie 2013/32 ist es Sache des Mitgliedstaats, die Modalitäten für die Beurteilung des Kindeswohls im Rahmen des Verfahrens des internationalen Schutzes zu bestimmen, insbesondere den Zeitpunkt oder die Zeitpunkte, zu denen diese Beurteilung vorzunehmen ist, und die Form, in der sie erfolgen muss, wobei allerdings Art. 24 der Charta sowie die in den Rn. 75 bis 79 des vorliegenden Urteils angeführten Bestimmungen zu beachten sind. [...]

84 Nach alledem ist auf den ersten Teil der dritten Frage und auf die vierte Frage zu antworten, dass Art. 24 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass er es der zuständigen nationalen Behörde verwehrt, über einen von einem Minderjährigen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu entscheiden, ohne das Wohl des Minderjährigen im Rahmen einer individuellen Prüfung konkret bestimmt zu haben. [...]