Flüchtlingsschutz wegen geschlechtsspezifischer Verfolgung:
1. Frauen insgesamt bilden eine soziale Gruppe. Es besteht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bei glaubhaftem Vorbringen häuslicher Gewalt durch die Familie und drohender Zwangsverheiratung.
2. Unverheiratete Frauen sind in besonderem Maße Diskriminierung ausgesetzt, interner Schutz ist nicht verfügbar.
(Leitsätze der Redaktion; Unter Verwieis auf: EuGH, Urt. v. 16. Januar 2024 - C-621/21, WS gegen Bulgarien - asyl.net: M32111; siehe auch: ACCORD Lage von alleinstehenden Frauen ohne familiäre Unterstützung; Unterstützungsmöglichkeiten und Gewaltschutz, Bericht vom 03.02.2020)
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Die Klägerin hat Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 ff. AsylG. [...]
Der Klägerin droht eine geschlechtsspezifische Verfolgung durch ihre Familie in Marokko.
Das Gericht folgt der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in seiner Entscheidung vom 16. Januar 2024 wonach Frauen insgesamt als einer sozialen Gruppe im Sinne der Richtlinie 2011/95 zugehörig angesehen werden können und ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden kann, wenn die in dieser Richtlinie vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt sind. Dies ist der Fall, wenn sie in ihrem Herkunftsland aufgrund ihres Geschlechts physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt und häuslicher Gewalt, ausgesetzt sind [...].
Dieser Grundsatz ist auch auf den vorliegenden Fall anwendbar. Die Situation von Frauen in Marokko stellt sich wie folgt dar: Zwar wird in Marokko die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen in Art. 19 der marokkanischen Verfassung und in diversen internationalen Abkommen garantiert. Allerdings steht diese rechtliche Gleichstellung in starkem Kontrast zur tatsächlichen Lage in Marokko [...]. Insbesondere im ländlichen Raum sind Frauen aufgrund der vorherrschenden traditionellen Einstellungen gesellschaftlichen Zwängen ausgesetzt. Vergewaltigung in der Ehe ist straflos, außerehelicher Geschlechtsverkehr dagegen strafbewehrt. Innerfamiliäre Gewalt kommt oft nicht zur Anzeige. In den seltenen Fällen, in denen doch Anzeige erstattet wird, bleiben die Verfahren für die Opfer oft ergebnislos, da die meist männlichen und voreingenommenen Richter in der Regel zugunsten der Männer entscheiden. Alleinerziehende Mütter und unverheiratete Frauen sind in besonderem Maße Diskriminierung ausgesetzt. Sie sind gesellschaftlich geächtet und werden häufiger Opfer sexualisierter Gewalt [...]. Aufgrund der wirtschaftlichen Situation in Marokko sind alleinstehende Frauen auch stärker von Armut betroffen als Männer. Nur etwa 21 Prozent der Frauen sind erwerbstätig, gegenüber 70 Prozent der marokkanischen Männer. Im Jahr 2022 erreichte Marokko beim Gender Inequality Index einen Wert von 0,62 und liegt damit auf Platz 136 von 146 Ländern.
Die Klägerin konnte vorliegend schlüssig und nachvollziehbar darlegen, in ihrem Herkunftsland Opfer häuslicher Gewalt durch ihren Vater und ihre Stiefmütter und Stiefgeschwister geworden zu sein. Darüber hinaus konnte sie glaubhaft darlegen, ihr Vater habe versucht sie gegen ihren Willen zwangsweise zu verheiraten. Aufgrund der rechtlichen und tatsächlichen Lage in Marokko war ihr hiergegen kein zumutbarer staatlicher Schutz möglich. [...]