Ermessensnichtgebrauch führt zur Rechtswidrigkeit der Haft:
1. Die Ausübung des Ermessens bei der Anordnung des Ausreisegewahrsams gem. § 62b AufenthG a.F. erfordert die Berücksichtigung der relevanten persönlichen Verhältnisse des Betroffenen. Werden die relevanten persönlichen Verhältnisse im Ermessen nicht berücksichtigt, stellt dies einen Verfahrensfehler dar. Eine Heilung dieses Ermessensnichtgebrauchs durch die Ausübung des Ermessens in der Beschwerdeinstanz ist nach Erledigung der Hauptsache nicht mehr möglich.
2. Trägt der Betroffene in der Anhörung vor, er habe familiäre Bindungen, ist dies vom Amtsgericht zu berücksichtigen. Die familiäre Bindung stellt einen Umstand dar, der in der Abwägung Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Betroffenen und dem staatlichen Interesse an der Abschiebung Berücksichtigung finden muss. Ob die familiäre Bindung einer Abschiebung tatsächlich entgegensteht, ist für die Bewertung des Ermessensfehlers ohne Belang, wenn die familiäre Bindung im Haftbeschluss unberücksichtigt blieb und ein Ermessensnichtgebrauch vorliegt.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Am 06.04.2023 hörte das Amtsgericht Mannheim den Betroffenen an und ordnete mit Beschluss vom selben Tage Abschiebegewahrsam zur Sicherung der Abschiebung vom 05.04.2023 bis 14.04.2023 sowie die sofortige Wirksamkeit an.
Am 07.04.2023 wandte sich die Mutter des gemeinsamen Sohnes des Betroffenen an das Regierungspräsidium und teilte mit, dass der Betroffene Vater eines im Bundesgebiet ansässigen Kindes sei [...]. Am 11.04.2023 wurde der Betroffene aus dem Abschiebegewahrsam entlassen. [...]
1. Die Beschwerde des Betroffenen ist zulässig. [...]
Der Feststellungsantrag nach § 62 Abs. 1 FamFG ist ebenfalls zulässig. [...]
2. Die Beschwerde des Betroffenen hat auch in der Sache Erfolg. [...]
b) Die Anordnung des Ausreisegewahrsams ist aber deshalb rechtswidrig, weil das.Amtsgericht Mannheim bei seiner Entscheidung von seinem Anordnungsermessen keinen Gebrauch gemacht hat. [...]
Dem Haftrichter steht bei der Anordnung von Ausreisegewahrsam nach § 62b Abs. 1 Satz 1 AufenthG a.F. ein Ermessen zu. Er kann den Ausreisegewahrsam anordnen, aber auch davon absehen. [...]. Die Anordnung von Ausreisegewahrsam ist deshalb nur rechtmäßig, wenn der Haftrichter nicht nur das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen von § 62b AufenthG a.F. festgestellt, sondern auch sein Anordnungsermessen pflichtgemäß ausgeübt und eine Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Betroffenen und dem staatlichen Interesse an der zügigen Durchführung der Abschiebung vorgenommen hat. [...]
Die Ausübung des Ermessens bei der Anordnung des Ausreisegewahrsams nach § 62b AufenthG a.F. erfordert eine Berücksichtigung der relevanten persönlichen Umstände des Betroffenen [...]. Werden die relevanten persönlichen Umstände des Betroffenen im Ermessen nicht berücksichtigt, stellt dies einen Verfahrensfehler dar. [...]
Das Amtsgericht hat den Betroffenen zwar ordnungsgemäß zu seinen persönlichen Umständen angehört. Der Inhalt der Anhörung ist aber nicht Teil der Verhältnismäßigkeitsabwägung und damit nicht zur vervollständigten Entscheidungsgrundlage geworden.
In der Anhörung gab der Betroffene an, im Bundesgebiet einen Sohn zu haben, um welchen er sich auch kümmere. Hierbei handelte es sich aufgrund der Angaben des Geburtsdatums und des Wohnorts des Jungen auch um einen substantiierten Vortrag.
Ob die Bindung zu seinem Sohn zum Zeitpunkt des Beschlusses in ihrer Ausgestaltung tatsächlich einen die Abschiebung hindernden Umstand darstellte, muss für die Bewertung des Ermessensfehlers dahinstehen. Jedenfalls lag ein begründeter Anhaltspunkt für diesen Umstand vor, der in der Verhältnismäßigkeitsprüfung des Amtsgerichts - der Abwägung der Freiheitsgrundrechte des Betroffenen mit dem staatlichen Interesse an einer zügigen Durchführung der Abschiebung - hätte berücksichtigt werden müssen. Nach dem Vortrag des Betroffenen durfte das Amtsgericht Mannheim seinem Beschluss vom 06.04.2023 nicht mehr zugrunde legen, dass der Betroffene im Bundesgebiet keine familiären Bindungen habe. Mit den Aussagen des Betroffenen in der Anhörung hat sich das Amtsgericht in keiner Weise auseinandergesetzt. Es hat dem Beschluss den Sachstand vor der Anhörung zugrunde gelegt.
Eine Heilung dieses Ermessensnichtgebrauch durch die Ausübung des Ermessens in der Beschwerdeinstanz ist nach Erledigung der Hauptsache nicht mehr möglich. [...]