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VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Beschluss vom 18.04.2024 - 12 B 1127/24 - asyl.net: M32432
https://www.asyl.net/rsdb/m32432
Leitsatz:

Kein Widerruf der Flüchtlingseigenschaft wegen Tätigkeit für Schleuserring:

1. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist gemäß § 73 Abs. 5 AsylG zurückzunehmen oder zu widerrufen, wenn eine Person von der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 2 - Abs. 4 AsylG bereits bei der Zuerkennung hätte ausgeschlossen werden müssen (Rücknahme des ursprünglich rechtswidrigen Verwaltungsakts) oder ausgeschlossen ist (Widerruf des ursprünglich rechtmäßigen Verwaltungsakts).

2. Gemäß § 3 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 AsylG sind Personen von der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausgeschlossen, wenn sie den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt haben. Nach der Rechtsprechung des BVerwG können Einzelpersonen durch Aktivitäten des internationalen Terrorismus den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderhandeln.

3. Bei einem Mitglied eines Schleuserrings lässt sich nicht in vergleichbarer Weise wie bei einem Mitglied einer terroristischen Vereinigung annehmen, dass die Person den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt und damit den Tatbestand des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AsylG erfüllt hat.

4. Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG, § 60 Abs. 8 S. 1 AufenthG sind auch solche Personen von der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausgeschlossen, die eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeuten, weil sie wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt wurden.

5. Dabei ist bei Vorliegen einer entsprechenden Verurteilung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu prüfen, ob diese Verurteilung die Annehme einer tatsächlichen Gefahr für die Allgemeinheit rechtfertigt. Zwar sind dabei auch - wie hier - Verurteilungen im europäischen Ausland zu berücksichtigen. Allerdings besteht vorliegend nicht die ernsthafte Gefahr einer Wiederholung vergleichbarer Straftaten.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: EuGH, Urteil vom 06.07.2023 - C-402/22 M.A. gg. Niederlande (Asylmagazin 12/2023, S. 436 f.) - asyl.net: M31816)

Schlagwörter: Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Schleusung, Schleuser, terroristische Vereinigung, Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen, schwere Straftat, Gefahr für die Allgemeinheit, Ausschlussgrund,
Normen: AsylG § 73 Abs. 5, AsylG § 3 Abs. 2, AsylG § 3 Abs. 4, AufenthG § 60 Abs. 8 S. 1
Auszüge:

[...]

Als Rechtsgrundlage für die Widerrufsentscheidung kommt vorliegend lediglich § 73 Abs. 5 AsylG in Betracht. Danach ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu widerrufen, wenn der Ausländer von der Erteilung nach § 3 Abs. 2 bis 4 AsylG hätte ausgeschlossen werden müssen oder ausgeschlossen ist.

Das Bundesamt hat seine Widerrufsentscheidung auf § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 und § 3 Abs. 4 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG gestützt. Die genannten Widerrufsgründe liegen jedoch nicht vor.

Gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AsylG ist ein Ausländer nicht Flüchtling im Sinne des Gesetzes, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.

Diese Ausschlussklausel setzt Art.12 Abs. 2 Buchst. c) der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) um, der wiederum auf dem in etwa gleichlautenden Art. 1 F Buchst. c) der Genfer Flüchtlingskonvention beruht. Die jeweils in Bezug genommenen Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen ergeben sich wiederum aus der Charta der Vereinten Nationen, in deren Präambel und den ersten zwei Artikeln die zentralen Ziele und Grundsätze des Staatenbündnisses aufgelistet sind. Sie umfassen die nationale Souveränität, die souveräne Gleichheit aller Mitglieder, die Wahrung der internationalen Sicherheit, die internationale Zusammenarbeit und die friedliche Schlichtung von Streitigkeiten zwischen den Mitgliedern und damit zunächst die grundlegenden Prinzipien der Beziehungen der Mitgliedsstaaten untereinander [...]. Mit der Fortentwicklung des Völkerrechts sollen heute allerdings durch die Ausschlussklausel auch einzelne Täter erfasst werden, die Verbrechen begangen haben, welche den internationalen Frieden, die internationale Sicherheit sowie die friedlichen Beziehungen zwischen den Staaten beeinträchtigen oder ernsthafte und andauernde Menschenrechtsverletzungen zum Gegenstand haben. Allerdings können Einzelpersonen Handlungen, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen, nur begehen, wenn sie in einem Staat oder einer staatsähnlichen Organisation eine gewisse Machtposition besitzen und zur Verletzung dieser Grundsätze durch den Staat unmittelbar beitragen [...]. Nach der Rechtsprechung können allerdings darüber hinaus Zuwiderhandlungen im Sinne der Ausschlussklausel bei Aktivitäten des internationalen Terrorismus auch von Personen begangen werden, die keine Machtposition in einem Mitgliedsstaat der Vereinten Nationen oder in einer staatsähnlichen Organisation innehaben [...].

Danach ist der Antragsteller nicht nach § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AsylG vom Flüchtlingsschutz ausgeschlossen, denn weder hat er auf staatlicher Ebene oder in einer staatsähnlichen Organisation eine Machtposition innegehabt, noch ein Verbrechen begangen, welches den internationalen Frieden, die internationale Sicherheit oder die friedlichen Beziehungen zwischen den Staaten beeinträchtigt hat. Auch gehörte er nicht zu einer Organisation des internationalen Terrorismus. Schließlich lässt sich entgegen der Rechtsauffassung des Bundesamtes auch bei einem Mitglied eines Schleuserrings - wie es 5der Antragsteller nach den Feststellungen des Berufungsgerichts in ... gewesen ist - der Tatbestand des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AsylG nicht mit der Begründung annehmen, dass sich die Vereinten Nationen in vergleichbarer Weise zu dem internationalen Terrorismus auch zu dem Phänomen des organisierten und gewerbsmäßigen Schleusens von Menschen geäußert hätten.

Die Anwendung der Ausschlussklausel auf den internationalen Terrorismus beruht auf Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen zu Antiterrormaßnahmen. [...]

Auch auf den Ausschlussgrund des § 3 Abs. 4 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG lässt sich der Widerruf nicht stützen. Danach wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Ist ein Flüchtling rechtskräftig zu einer mindestens dreijährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden, ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls weiter zu prüfen, ob diese Verurteilung die Annahme rechtfertigt, dass er tatsächlich eine Gefahr für die Allgemeinheit im Sinne des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG darstellt. Erforderlich ist insoweit, dass eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten ernsthaft droht. Zu den in die Prognoseentscheidung einzubeziehenden Umständen gehören insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung und das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts ebenso wie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zu dem maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt [...]. Dabei ist allerdings auch die der gesetzlichen Regelung zugrundeliegende Wertung zu beachten, dass Straftaten, die so schwerwiegend sind, dass sie zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren geführt haben, typischerweise mit einem hohen Wiederholungsrisiko verknüpft sind (vgl. BVerwG, Beschl. vom 12.10.2009 - 10 B 17.09 -, juris Rn. 4 und Urt. vom 16.11.2000 - 9 C 6.00 -, juris Rn. 16).

Diese Voraussetzungen sind hier voraussichtlich nicht erfüllt.

Zwar ist der Antragsteller durch das Berufungsgericht in G., Belgien, zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt worden und erfüllt auch eine Strafverurteilung, die nicht durch ein deutsches, sondern ein Gericht aus einem anderen EU-Mitgliedsstaat ausgesprochen wird, den Tatbestand des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG (VG Aachen, Urt. vom 22.02.2010 - 5 K 289/09.A -, juris).

Bei summarischer Prüfung rechtfertigt jedoch diese Verurteilung nicht die Annahme, dass der Antragsteller tatsächlich eine Gefahr für die Allgemeinheit im Sinne des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG darstellt. Es fehlt an der im Einzelfall notwendig festzustellenden Gefahr, dass bei dem Antragsteller eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten ernsthaft droht. Die der Vorschrift zugrunde - liegenden Wertung, dass Straftaten, die so schwerwiegend sind, dass sie zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren geführt haben, typischerweise mit einem hohen Wiederholungsrisiko verknüpft sind, kann im Falle des Antragstellers für die anzustellende Prognoseentscheidung nicht das gleiche Gewicht haben wie in dem Fall einer Verurteilung in Deutschland, da sich für die Einzelrichterin nicht bemessen lässt, ob die vom Antragsteller begangenen Straftaten auch nach bundesdeutschem Strafrecht mit einer dreijährigen Freiheitsstrafe abgeurteilt worden wären. Zudem ist beim Bemessen der Schwere der Tat in den Blick zu nehmen, dass die belgischen Strafvollstreckungsbehörden nach der Verbüßung von knapp 15 Monaten Haft durch den Antragsteller von einer weiteren Strafvollstreckung abgesehen und den Antragsteller nach Deutschland überstellt haben. Soweit das Bundesamt die Annahme einer Wiederholungsgefahr darauf stützt, dass der Antragsteller innerhalb einer professionell und international agierenden kriminellen Organisation gehandelt habe, finden sich in dem Urteil des Berufungsgerichts in G. nicht genügend Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller in dem Schleuserring tatsächlich als ständiges Mitglied oder für eine längere Zeit agiert hatte. Festgestellt waren ausweislich des Urteils lediglich drei Fahrten des Antragstellers nach Frankreich in zwei Monaten, dass er tatsächlich häufiger für den Schleuserring Fahrten unternommen hat, kann dem Antragsteller nicht unterstellt werden. Darüber hinaus ist zu Gunsten des Antragstellers in die Prognose einzustellen, dass er angibt, er habe sich seine Verurteilung sowie die Haftzeit zur Mahnung dienen lassen. Dass insbesondere seine Haftzeit von knapp 15 Monaten bei dem Antragsteller einen Eindruck hinterlassen hat, der ihn von zukünftigen Straftaten abhält, liegt nicht fern, da der Antragsteller - seinem Vortrag entsprechend - bisher ohne Vorstrafen ist (letzte Abfrage des Bundeszentralregisters durch die zuständige Ausländerbehörde am 05.08.2023). [...] Schließlich genügen auch die Ausführungen des Bundesamtes, dass die Versuchung für den Antragsteller, sich zukünftig auf entsprechende Weise ein nicht unbeträchtliches Zusatzeinkommen zu verschaffen, nicht zu unterschätzen sei, nicht, um zu begründen, dass eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten ernsthaft droht. Immerhin verdient der Antragsteller nach eigenen Angaben genügend, um den Lebensunterhalt für seine inzwischen sechsköpfige Familie ohne die Inanspruchnahme öffentlicher Leistungen sicherzustellen. [...]