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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 17.04.2024 - 2 BvR 244/24 - asyl.net: M32431
https://www.asyl.net/rsdb/m32431
Leitsatz:

Schutz der Familie setzt keine rechtliche Verwandtschaftsbeziehung voraus:

1. Der Familienschutz des Art. 6 Abs. 1 GG setzt keine rechtliche Verwandtschaftsbeziehung voraus, sondern schützt auch gelebte sozial-familiäre Bindungen.

2. Auch eine Person, die mit ihrem Lebensgefährten/ihrer Lebensgefährtin nicht nach deutschem Recht verheiratet ist und die rechtliche Elternschaft des Kindes nicht innehat, kann sich auf den Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG berufen, sofern eine sozial-familiäre Bindung besteht.

3. Mit dem Schutz des Kindeswohls gemäß Art. 6 Abs. 2 S.2 GG ist es nicht vereinbar, einem Elternteil, von dem die Nachholung des Visumsverfahrens verlangt wird, wegen einer Obliegenheitsverletzung ein schützenswertes Interesse abzusprechen, ohne die Konsequenzen für das betroffene Kind zu untersuchen.

 

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Visumsverfahren, Eltern-Kind-Verhältnis, nichteheliche Lebensgemeinschaft, Kindeswohl, Schutz von Ehe und Familie, Nachholung des Visumsverfahrens, Termin, Botschaft
Normen: GG Art. 6 Abs. 1, GG Art. 6 Abs. 2 S. 2, AufenthG § 5 Abs. 2 S. 2, AufenthG § 5 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, AufenthG § 25 Abs. 5
Auszüge:

[...]

bb) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewährt Art. 6 GG zwar keinen unmittelbaren Anspruch auf Einreise und Aufenthalt zwecks Nachzugs zu bereits im Bundesgebiet lebenden Angehörigen [...]. Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, Ausländerbehörden und Gerichte, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, das heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen.[...]

b) Ob diesen verfassungsrechtlichen Geboten Genüge getan wurde, ist im vorliegenden Fall allerdings zumindest zweifelhaft. Die Gerichte haben die Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 6 Abs. 1 GG grundsätzlich verkannt. Das Verwaltungsgericht Magdeburg führt aus, der Beschwerdeführer könne sich nicht auf Art. 6 Abs. 1 GG berufen, da er mit seiner Lebensgefährtin lediglich nach traditionellem Ritus verheiratet sei und die Tochter seiner Lebensgefährtin nicht seine (rechtliche) Tochter sei. Damit missachtet das Verwaltungsgericht, dass der Familienschutz des Art. 6 Abs. 1 GG eine rechtliche Verwandtschaftsbeziehung nicht voraussetzt, sondern auch gelebte sozial-familiäre Bindungen erfasst.

Weiter ist es aus verfassungsrechtlicher Perspektive bedenklich, dass das Verwaltungsgericht Magdeburg annimmt, es bestehe, weil der Beschwerdeführer sich nicht frühzeitig um einen Termin bei der deutschen Botschaft in Benin gekümmert habe, um dadurch die Dauer einer möglichen Trennung von dem Kind möglichst kurz zu halten, gar kein "schützenswertes Interesse". Dass das Verwaltungsgericht Magdeburg mit dieser Begründung eine Prüfung des Kindeswohls insgesamt unterlässt und die Rechte des Kindes wegen einer Obliegenheitsverletzung des Beschwerdeführers schlechthin unberücksichtigt bleiben, ist mit dem nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG gebotenen staatlichen Schutz des Kindeswohls nicht in Einklang zu bringen. Denn mangelnde Kooperationsbereitschaft und selbst Fehlverhalten eines Ausländers in eigenen, aufenthaltsrechtlichen Angelegenheiten darf nicht zu einer Verkürzung der (Verfahrens-)Rechte eines an diesen Entscheidungen unbeteiligten, staatlichem Schutz unterstehenden Kindes führen. Vielmehr gebietet es der Schutzauftrag aus Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG, bei jeder aufenthaltsrechtlichen Entscheidung die Konsequenzen für das betroffene Kind auf seine Vereinbarkeit mit dem Kindeswohl zu untersuchen. [...]