Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für emanzipierte Frau aus dem Iran:
1. Frauen stellen im Iran eine soziale Gruppe gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG dar, denn sie werden von der sie umgebenden (männlichen) Gesellschaft als andersartig betrachtet. Iranische Frauen sind in rechtlicher, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht vielfältigen Diskriminierungen ausgesetzt.
2. Weibliche Schutzsuchende aus dem Iran haben einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, wenn es nicht zumutbar erscheint, dass sie sich den im Iran geltenden rechtlichen und gesellschaftlichen Regeln unterwerfen, die Frauen im Vergleich zu Männern benachteiligen. Dies ist der Fall, wenn eine weibliche Schutzsuchende infolge des längeren Aufenthalts in Europa in einem solchen Maße in ihrer Identität hinsichtlich der Gleichberechtigung von Frauen und Männern geprägt ist, dass sie nicht mehr in der Lage wäre oder es ihr nicht mehr zugemutet werden kann, bei einer Rückkehr ihren Lebensstil den im Iran erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
20 Hiervon ausgehend steht zur Überzeugung des Berichterstatters fest, dass der Klägerin im Fall ihrer Rückkehr nach Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG droht. [...]
23 b) Der Berichterstatter entnimmt den eingeführten Erkenntnisquellen, dass Frauen in der iranischen Gesellschaft eine deutlich abgegrenzte Identität im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 lit. b) AsylG haben, da sie von der sie umgebenden (männlichen) Gesellschaft als andersartig betrachtet werden. Die iranische Gesellschaft nimmt aufgrund der sozialen, rechtlichen oder religiösen Normen innerhalb des Herkunftslandes beziehungsweise aufgrund der Bräuche ihrer Gemeinschaft Frauen als soziale Gebilde unterschiedlich als Männer wahr.
24 Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes (AA) sind iranische Frauen in rechtlicher, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht vielfältigen Diskriminierungen ausgesetzt und Gesetze zur Verhinderung und Bestrafung geschlechtsspezifischer Gewalt existieren nicht [...]
25 Prägend für die diskriminierenden Einschränkungen ist die Rolle der (Ehe-)Frau als dem (Ehe-)Mann untergeordnet, was sich sowohl bei Fragen der Selbstbestimmung, des Sorgerechts, der Ehescheidung als auch des Erbrechts erkennen lässt [...]. Das vom Wächterrat im November 2021 angenommene Gesetz "zur Verjüngung der Bevölkerung" greift weitergehend in die reproduktiven, sexuellen und gesundheitlichen Rechte von Frauen ein. Es sieht unter anderem die Abschaffung der Pränataldiagnostik, schärfere Strafen bei Abtreibung sowie Einschränkung des Zugangs zu Verhütungsmitteln vor [...]. Auch benötigen Frauen für die Scheidung im Regelfall die Zustimmung des Mannes, während Männer die Zustimmung ihrer Ehefrau nicht benötigen [...]. Weiter betrachtet das Gesetz Geschlechtsverkehr innerhalb der Ehe per definitionem als einvernehmlich und behandelt daher keine Vergewaltigung in der Ehe, auch nicht in Fällen von Zwangsheirat [...]. Vergewaltigungen werden vielfach aus Furcht vor offizieller beziehungsweise staatlicher Vergeltung oder einer Anklage wegen unmoralischen Verhaltens aufgrund außerehelichen Geschlechtsverkehrs unter Androhung schwerer Strafen und gesellschaftlicher Repressalien oder Ausgrenzung schon nicht angezeigt [...].
26 Ferner sind Frauen bereits mit neun Jahren vollumfänglich strafmündig (Männer mit 15 Jahren), ihre Zeugenaussagen werden vor Gericht nur zur Hälfte gewichtet (Lagebericht November 2022, S. 13; BAMF, Frauen 2023, S. 29) und üblicherweise ist auch ein männlicher Zeuge erforderlich (HRC, a.a.O., S. 16 Rn. 47 [G 9/21]). Die finanzielle Entschädigung (diya bzw. Blutgeld) der Familie eines weiblichen Opfers einer Straftat ist nur halb so hoch wie die für ein männliches Opfer einer Straftat vorgesehene Entschädigung [...].
27 Dem iranischen Kabinett gehört lediglich eine Frau an und von einigen staatlichen Funktionen, wie dem Richteramt und dem Staatspräsidentenamt, sind Frauen gesetzlich oder aufgrund entsprechender Ernennungspraktiken gänzlich ausgeschlossen [...]
28 Auch ist es Frauen nicht in dem gleichen Maße wie Männern möglich, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, da für sie beispielsweise eine strenge Kleiderordnung herrscht, ihnen der Zugang zu Sportveranstaltungen verboten ist und ein Genehmigungsvorbehalt des Ehemannes oder Vaters bezüglich der Arbeitsaufnahme oder Reisen besteht (Lagebericht November 2022, S. 13). Alleinstehende, nicht geschiedene Frauen haben Schwierigkeiten, selbstständig eine Wohnung zu mieten, alleine zu wohnen oder Arbeit zu finden, da gesellschaftliche Normen verlangen, dass eine unverheiratete Frau im Schutze ihrer Familie oder eines männlichen Familienmitglieds lebt [...]
29 S. 11 [G 47/23]). Ein Verstoß gegen die Bekleidungsvorschriften, wie das Nicht-Verhüllen der Haare oder Konturen des Körpers kann mit Freiheitsstrafe zwischen zehn Tagen und zwei Monaten und/oder mit Geldstrafe bestraft werden. Grundsätzlich ist auch die Verhängung von bis zu 74 Peitschenhieben wegen Verstoßes gegen die öffentliche Moral möglich; dazu kommt es in der Regel jedoch nicht, da die Familien von der Möglichkeit des Freikaufs überwiegend Gebrauch machen [...]. Zwar ist nach einer Auskunft des AA an das Verwaltungsgericht Würzburg vom 4. Oktober 2021, Gz. 508-516.80/53887 [...] davon auszugehen, dass in der iranischen Alltagsrealität nicht jedes Herunterziehen des Kopftuchs, das den Behörden bekannt wird, auch strafrechtlich verfolgt wird. Für den jeweiligen Einzelfall lässt sich allerdings keine verlässliche Prognose treffen, da die Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis insgesamt durch Willkür gekennzeichnet ist, was vorrangig durch die unbestimmte Formulierung von Straftatbeständen und Rechtsfolgen sowie eine uneinheitliche Aufsicht der Justiz über die Gerichte bedingt ist [...]. Auch die landesweiten massenhaften und andauernden Protestwellen seit Mitte September 2022, die durch den Tod der 22-jährigen Kurdin Mahsa Amini ausgelöst wurden und unter dem Slogan "Woman, Life, Freedom" weltweite Beachtung erfahren, sind ein Beispiel, wie stark die Symbolkraft des Kopftuchs sich auf die Herrschaft der islamischen Regierung auswirkt [...]. Während die iranischen Behörden zunächst angedeutet hatten, dass sie die Durchsetzung der Kleidervorschriften nach den Protesten im Jahr 2022 lockern könnten, verschärfen sie nun die Durchsetzung [...]. Frauen wird der Zugang zu öffentlichen Einrichtungen wie Krankenhäusern, Schulen, Regierungsbüros und Flughäfen verweigert, wenn sie ihr Haar nicht bedecken.
30,31 Die Sittenpolizei kommt wieder zum Einsatz, um Frauen, die sich nicht an die Verschleierungspflicht halten, zu verwarnen oder an die Justizbehörden zu übergeben (SFH a.a.O., S. 10). Zahlreiche Frauen wurden wegen Verstoßes gegen die Kleiderregeln zu Haft- oder Geldstrafen verurteilt (SFH a.a.O., S. 11 f.). Weiter erfahren Frauen und Mädchen, die sich regelwidrig kleiden, Einschränkungen beim Zugang zu Bildung und bei der Berufsausübung. [...]
32 2. Aufgrund der dargestellten Erkenntnislage ist im Fall einer weiblichen Schutzsuchenden ein Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach den § 3 Abs. 1, § 3a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 6 AsylG dann gegeben, wenn der geschlechtsspezifische Aspekt für sie so bedeutsam für ihre Identität oder ihr Gewissen ist, dass die sie in Iran als Frau treffenden systematischen Benachteiligungen für sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt. Es darf ihr – ausnahmsweise und einzelfallbezogen – nicht zumutbar erscheinen, sich in Iran den dortigen rechtlichen und gesellschaftlichen iranisch-islamischen und Frauen im Vergleich zu Männern benachteiligenden Regeln zu unterwerfen [...] Dies ist dann der Fall, wenn eine weibliche Schutzsuchende infolge des längeren Aufenthalts in Europa in einem solchen Maße in ihrer Identität aufgrund der hiesigen Wertevorstellungen hinsichtlich der Gleichberechtigung von Frauen und Männern geprägt worden ist, dass sie entweder nicht mehr in der Lage wäre oder es ihr nicht mehr zugemutet werden kann, bei einer Rückkehr nach Iran ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen [...]. Mit dem unbestimmten Begriff der "Verwestlichung" ist die individuelle Übernahme von soziokulturellen und/oder religiösen bzw. weltanschaulichen Vorstellungen und Verhaltensweisen gemeint, wie sie für die gesellschaftlichen Verhältnisse der Gegenwart in säkular und demokratisch organisierten Staaten, namentlich in Europa und auf dem (nord-)amerikanischen Kontinent sowie in Australien und Neuseeland, im Allgemeinen kennzeichnend sind. Dazu gehören insbesondere die Vorstellung einer grundlegenden Freiheit zur individuellen Persönlichkeitsentfaltung und gleichberechtigten Eigenverantwortlichkeit jeder Person, insbesondere aber von Frauen, in religiöser, politischer, sozialer, wirtschaftlicher und sexueller Hinsicht und das Recht jeder (erwachsenen) Person, über ihre persönliche Lebensführung insgesamt, namentlich aber in den zuvor benannten Bereichen, autonom entscheiden zu dürfen, ohne dabei an lediglich gesellschaftlich vorherrschende, aber nicht formal-gesetzlich vorgeschriebene Verhaltensregeln gebunden zu sein. Weiterhin kennzeichnend für den Begriff der "Verwestlichung" ist zudem die Idee und grundsätzliche Akzeptanz einer gesellschaftlichen Pluralität insbesondere in soziokulturellen, weltanschaulich-religiösen und auf die Sexualmoral bezogenen Anschauungen (VGH Mannheim, Urt. v. 22.2.2023, A 11 S 1329/20, juris Rn. 65 unter Verweis auf VG Hannover, Urt. v. 27.10.2022, 3 A 5642/18, juris Rn. 19).
33 Allerdings ist die Annahme eines "westlichen Lebensstils" nur dann beachtlich, wenn dieser die betreffende Person in ihrer Identität derart maßgeblich prägt, dass sie nicht gezwungen werden könnte, darauf zu verzichten. Die Rolle und das Selbstverständnis als Person müssen also auf einer ernsthaften und nachhaltigen inneren Überzeugung beruhen, die unabweisbare Konsequenzen für die eigene Lebensführung in Iran hätte und daher eine Rückkehr als unzumutbar erscheinen ließe (vgl. VG Berlin, Urteil v. 24.3.2022, 20 K 666.17 A, juris Rn. 48). [...]