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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 26.03.2024 - XIII ZB 29/21 - asyl.net: M32413
https://www.asyl.net/rsdb/m32413
Leitsatz:

Haft wegen gemeinsamer Anhörung und mangelhafter öffentlicher Zustellung rechtswidrig:

1. Haftanhörungen sind als Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit gemäß § 170 Abs. 1 S. 1 GVG nicht öffentlich. Wird in einem solchen Verfahren gleichwohl Öffentlichkeit zugelassen, liegt ein absoluter Rechtsbeschwerdegrund gemäß § 72 Abs. 3 FamFG, § 547 Nr. 5 ZPO vor. Auf die Frage, ob der Verfahrensfehler für den Haftbeschluss ursächlich war, kommt es deshalb nicht an.

2. Wird die betroffene Person gemeinsam mit Familienangehörigen angehört (hier: Bruder, gegen den ebenfalls ein Haftanordnungsverfahren eingeleitet worden ist), ohne dass diese Vertrauenspersonen oder sonst am Verfahren Beteiligte sind, liegt ein Verstoß gegen die Nicht-Öffentlichkeit der Anhörung vor, sodass der Haftbeschluss aufzuheben ist.

3. Eine Abschiebungsandrohung gemäß § 59 AufenthG ist nicht gemäß § 10 VwZG wirksam öffentlich zugestellt, wenn in der bekanntgemachten Benachrichtigung über die öffentliche Zustellung ein unrichtiges Datum des Bescheids angegeben ist.

4. Auf einen solchen Zustellungsmangel kann sich zwar unter Umständen nicht berufen, wer zielgerichtet versucht, die Zustellung eines Bescheids zu verhindern. Ein solches zielgerichtetes Verhindern der Zustellung ist aber nicht schon anzunehmen, weil eine Person keinen festen Wohnsitz hat, sich illegal in Deutschland aufhält, untergetaucht ist und sich Strafvollstreckungsbehörden entziehen will.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Anhörung, Öffentlichkeit, öffentliche Zustellung, Familienangehörige, fehlerhafte Zustellung, Abschiebungsandrohung, Ausweisung,
Normen: GVG § 170 Abs. 1 S. 1, GVG § 23a Abs. 2 Nr. 6, FamFG § 72 Abs. 3, ZPO § 547 Nr. 5, VwZG § 10, BGB § 242
Auszüge:

[...]

II. Die zulässige Rechtsbeschwerde hat Erfolg.

1. Das Beschwerdegericht hat angenommen, die Haftanordnung des Amtsgerichts sei rechtmäßig. [...]

2. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. [...]

aa) Nach § 170 Abs. 1 Satz 1 GVG sind Verhandlungen, Erörterungen und Anhörungen in Familiensachen sowie in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, wozu nach § 23a Abs. 2 Nr. 6 GVG auch Freiheitsentziehungssachen zählen, nicht öffentlich. Wird in einem solchen Verfahren die Öffentlichkeit zu Unrecht zugelassen, begründet dies einen absoluten Rechtsbeschwerdegrund nach § 72 Abs. 3 FamFG, § 547 Nr. 5 ZPO (BGH, Beschluss vom 23. März 2021- XIII ZB 29/19, juris Rn. 6 mwN.).

bb) Das Amtsgericht hat bei der Anhörung des Betroffenen am 3. Dezember 2020 gegen die Vorschriften über die (Nicht-)Öffentlichkeit verstoßen, indem es den Betroffenen gemeinsam mit seinem Bruder ... angehört hat. [...]

(3) Die Anwesenheit von G.K. bei der Anhörung des Betroffenen stellt einen Verstoß gegen die Nicht-Öffentlichkeit der Anhörung in Freiheitsentziehungsverfahren dar. G.K. gehörte nicht zum Kreis der teilnahmeberechtigten Personen. Er war insbesondere nicht Beteiligter des hier zu beurteilenden Haftanordnungsverfahrens. Dieses wurde, wie sich auch aus den vorliegenden Gerichtsakten ergibt, allein gegen den Betroffenen geführt. Dem steht nicht entgegen, dass G.K. im Anhörungsvermerk vom 3. Dezember 2020 ebenfalls als "Betroffener" bezeichnet wird. Daraus mag allenfalls zu schließen sein, dass gegen ihn ebenfalls ein Haftanordnungsverfahren eingeleitet worden ist. Dieses würde indes ein eigenständiges Verfahren darstellen; eine Verbindung der Verfahren nach § 20 FamFG ist nicht erfolgt. Dafür, dass der Betroffene G.K. als Vertrauensperson nach § 418 Abs. 3 Nr. 2 FamFG benannt hat, was ihn zum Beteiligten machen würde, bestehen keine Anhaltspunkte.

cc) Der angefochtene Beschluss ist unmittelbar im Anschluss an die Anhörung vom 3. Dezember 2020 und damit "auf Grund" der mündlichen Verhandlung, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt wurden, im Sinne von § 547 Nr. 5 ZPO in Verbindung mit § 72 Abs. 3 FamFG ergangen. Auf eine weitergehende Ursächlichkeit dieses Verfahrensfehlers für die angefochtene Entscheidung kommt es entgegen der Ansicht des Beschwerdegerichts nicht an, weil er einen absoluten Rechtsbeschwerdegrund begründet.

b) Rechtsfehlerhaft hat das Beschwerdegericht zudem angenommen, im Zeitpunkt der Haftanordnung durch das Amtsgericht habe eine bestandskräftige Abschiebungsandrohung nach § 59 AufenthG vorgelegen, da dem Betroffenen der Ausweisungsbescheid der beteiligten Behörde vom 13. Mai 2020 wirksam öffentlich zugestellt worden sei und sich dieser auf Zustellungsmängel nicht berufen könne.

aa) In dem zum Zweck der öffentlichen Zustellung des Ausweisangstbescheids ausgehängten Schreiben der beteiligten Behörde vom 13. Mai 2020, das als Aushang und Öffentliche Bekanntmachung bezeichnet war, wurde mitgeteilt, gegen den Betroffenen sei "mit Schreiben vom 27.02.2020" eine Ausweisung mit Abschiebungsandrohung erlassen worden. Dieses Schreiben werde hiermit gemäß § 10 Abs. 1 und 2 VwZG öffentlich zugestellt, da der Aufenthaltsort der betroffenen Person unbekannt beziehungsweise die anderweitige Zustellung wegen ausländischer Anschrift nicht möglich sei oder nicht erfolgversprechend erscheine.

bb) Damit ist eine wirksame öffentliche Zustellung nicht erfolgt. [...]

Nach § 10 VwZG in der am 13. Mai 2020 geltenden Fassung erfolgt die öffentliche Zustellung durch Bekanntmachung einer Benachrichtigung an der Stelle, die von der Behörde hierfür allgemein bestimmt ist, oder durch Veröffentlichung einer Benachrichtigung im Bundesanzeiger, und muss die Benachrichtigung unter anderem das Datum und das Aktenzeichen des Dokuments erkennen lassen. Diese Voraussetzungen waren im Streitfall nicht erfüllt, weil in der Benachrichtigung ein unrichtiges Datum des Ausweisungsbescheids - der 27. Februar 2020 statt dem 13. Mai 2020 - angegeben war. Damit war der Aushang nicht entsprechend den gesetzlichen Vorgaben ordnungsgemäß vorgenommen.

(2) Dieser Mangel führt zur Unwirksamkeit der öffentlichen Zustellung des Ausweisungsbescheids vom 13. Mai 2020 [...].

Da das Beschwerdegericht nicht festgestellt hat, dass der Ausweisungsbescheid dem Betroffenen nach seiner Festnahme übergeben wurde, und dafür auch keine Anhaltspunkte bestehen, kommt eine Heilung des Zustellungsmangels, die durch den tatsächlichen Zugang des Dokuments hätte erfolgen können (vgl. Smollich in Mann/Sennekamp/Uechtritz, aaO, § 10 VwZG Rn. 12; Schlatmann in Engelhardt/App/Schlatmann, aaO § 10 VwZG Rn. 19; Danker in Fehling/Kastner/Störmer, aaO, § 10 VwZG Rn. 7), nicht in Betracht.

cc) Entgegen der Ansicht des Beschwerdegerichts ist es dem Betroffenen auch nicht verwehrt, sich auf die Unwirksamkeit der öffentlichen Zustellung des Ausweisungsbescheids zu berufen. Zwar hat der Bundesgerichtshof im Hin-blick auf öffentliche Zustellungen nach den - hier nicht anwendbaren - §§ 185 ff. ZPO entschieden, dass es sich im Einzelfall als rechtsmissbräuchlich darstellen kann, wenn sich der Zustellungsadressat auf die Unwirksamkeit einer öffentlichen Zustellung beruft (vgl. BGH, Urteil vom 19. Dezember 2001 - VIII ZR 282/00, BGHZ 149, 311 [juris Rn. 36]; Beschluss vom 28. April 2008 - II ZR 61/07, MDR 2008, 995 Rn. 2). Von einem solchen Rechtsmissbrauch ist hier indes nicht aus-zugehen. Dass der Betroffene, wie das Beschwerdegericht meint, zielgerichtet versucht hat, die Zustellung des Ausweisungsbescheids zu verhindern und mit dieser sicher rechnen musste, kann aus den getroffenen Feststellungen nicht gefolgert werden. Weder der Umstand, dass er sich zu diesem Zeitpunkt bereits geraume Zeit unberechtigt im Bundesgebiet aufhielt, noch, dass er illegal unter-getaucht war und mehrfach gegen Rechtsvorschriften verstoßen hatte, was zu Fahndungsausschreibungen zweier Staatsanwaltschaften geführt hatte, vermögen die Annahme zu stützen, dass er gerade die Zustellung eines Ausweisungsbescheid vereiteln wollte. Sein unerlaubter Aufenthalt bildet den Grund für seine Ausreisepflicht, sein Untertauchen war bei lebensnaher Betrachtung dadurch bedingt, dass er sich dem Zugriff der Strafverfolgungsbehörden entziehen wollte. Zudem hatte der Betroffene keine Kenntnis vom Tätigwerden der beteiligten Behörde und einer bevorstehenden Ausweisungsverfügung und verfügte während der gesamten Dauer seines Aufenthalts in Deutschland über keinen festen Wohnsitz. [...]