Eilrechtsschutz gegen Ablehnung einer Aufenthaltserlaubnis bei Umgangskontakt zu Kind und Ausweisungsinteresse:
1. Vorläufiger Rechtsschutz gegen die Ablehnung eines Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ist gemäß § 80 Abs. 5 VwGO (und nicht gemäß § 123 VwGO) zu erlangen, wenn der Antrag eine Fiktionswirkung gemäß § 81 Abs. 4 S. 1 AufenthG ausgelöst hat und die Ablehnung des Antrags die Fiktionswirkung hat erlöschen lassen.
2. Ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gegen eine sofort vollziehbare Abschiebungsandrohung richtet sich im Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) auch gegen die Vollziehbarkeit eines mit der Abschiebungsandrohung verbundenen Einreise- und Aufenthaltsverbots.
3. Die Ausübung der Personensorge gemäß § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG verlangt mehr als das bloß formale Innehaben des Personensorgerechts. Die erforderliche Ausübung dieses Rechts ist bei getrennt lebenden Eltern eine Kombination aus der Wahrnehmung des Sorgerechts (§§ 1626 f., 1687 BGB) durch Beteiligung an Entscheidungen und der Übernahme von Elternverantwortung durch Betreuungs- und Erziehungsleistungen in angemessenem und möglichem Maße. Die Person muss auch nach außen hin erkennbar in ausreichendem Maße einen für eine familiäre Lebensgemeinschaft typischen Kernbestand an Verantwortung für die Betreuung und Erziehung des minderjährigen Kindes übernehmen.
4. Der Annahme einer familiären Lebensgemeinschaft zwischen Kind und Elternteil steht nicht entgegen, dass der Elternteil nur Umgangskontakte pflegt. Auch hier ist im Einzelfall zu betrachten, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. Die aufenthaltsrechtliche Schutzwirkung des Art. 6 GG entfällt nicht schon dann, wenn der Umgang des ausländischen Elternteils mit seinem Kind - etwa nach Verhinderung des Umgangs durch den sorgeberechtigten Elternteil - in einer Aufbauphase erst (wieder) angebahnt wird, sofern der Elternteil sich zur Wahrnehmung seiner elterlichen Verantwortung für sein Kind ernsthaft um Umgang mit diesem bemüht und dem Umgang Gründe des Kindeswohls nicht entgegenstehen.
5. § 27 Abs. 3 S. 2 AufenthG, wonach von den Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, dass kein Ausweisungsinteresse besteht, abgesehen werden kann, findet nur Anwendung, wenn bei der Prüfung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ein Regelfall und keine Atypik festzustellen ist. Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen für den Familiennachzug vor (hier gemäß § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG), so hat die Ausländerbehörde bei der Ermessensentscheidung, ob gemäß § 27 Abs. 3 S. 2 AufenthG vom Vorliegen der Voraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG abgesehen wird, die Schutzwürdigkeit der Eltern-Kind-Beziehung angemessen zu berücksichtigen.
(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 20.09.2018 - 11 S 240/17 - asyl.net: M26714)
[...]
6 1. a) Innerhalb der Monatsfrist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO hat der Antragsteller mit seiner Beschwerde geltend gemacht, dass es am … 2023 eine mehr als fünfstündige Feier mit seinem Sohn, der Kindsmutter, deren Mutter und deren Großmutter gegeben habe. Zwischen dem … 2023 und dem … 2023 sei er zwei Wochen erkrankt gewesen und auch stationär im Krankenhaus behandelt worden. Am ... 2023 habe es dann ein etwa einstündiges Treffen in ... gegeben, in den folgenden zwei Wochen einen zweistündigen persönlichen Kontakt zu seinem Sohn und vier Videotelefonate. Die Großmutter mütterlicherseits des Sohns des Antragstellers erklärt in einem undatierten Schreiben, das am 13.12.2023 vorgelegt worden ist, dass der Antragsteller seit etwa einem Monat sehr viel Kontakt zu seinem Sohn habe und sie sich derzeit fast täglich sehen würden. Auch davor habe es Kontakt gegeben, mal mehr, mal weniger und zwar auf dem Spielplatz, in einem Restaurant, in ... oder bei der Urgroßmutter. Der Ehemann der Großmutter bestätigt schriftlich undatiert, dass der Antragsteller derzeit und in den letzten Monaten regelmäßig Kontakt zu seinem Sohn habe und gehabt habe.
7 b) Dieser Vortrag zieht den Ansatz des Verwaltungsgerichts, der Antragsteller habe nicht dargetan, wie sich der behauptete Umgang seit ... 2023 dargestellt habe, was dazu führe, dass sich das Gericht an die von der Kindesmutter in einem Telefonat am … 2023 getätigte Aussage zum Umfang des Umgangsrechts halten müsse - das letzte Treffen habe am … 2023 stattgefunden, der Antragsteller nehme am Leben seines Sohnes nicht teil -, so dass derzeit nicht von einer Ausübung der Personensorge des Antragstellers ausgegangen werden könne, in Zweifel. Dies gilt auch für die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zu der Frage, ob ein atypischer Fall im Rahmen der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG aufgrund der familiären Beziehung des Antragstellers zu seinem Sohn vorliegt. In diesem Zusammenhang heißt es im angegriffenen Beschluss, nach summarischer Prüfung und unter Zugrundelegung des äußerst unsubstantiierten Vortrags des Antragstellers zum derzeitigen Umgang mit seinem Sohn sei nicht davon auszugehen, dass eine emotionale Bindung zwischen Vater und Sohn bestehe, die bei einer Trennung Schaden nehmen könnte. Darauf gestützt hat das Verwaltungsgericht auch die Ermessensentscheidung des Vertreters des Antragsgegners im Rahmen des § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG als nicht zu beanstanden charakterisiert. [...]
8 Aufgrund des - inhaltlich neuen - Tatsachenvortrags in der Beschwerde ist der vom Verwaltungsgericht vorgenommenen summarischen Bewertung des Sachvortrags und der darauf aufbauenden vorläufigen Sachverhaltsfeststellung der Boden entzogen, sie muss im Rahmen der nunmehr geforderten umfassenden Prüfung, ob vorläufiger Rechtsschutz nach allgemeinen Maßstäben zu gewähren ist, vom Senat anhand des nunmehr aktuellen Vorbringens der Beteiligten erneut in einer eigenen Entscheidung vorgenommen werden.
9 2. a) Da der Antragsteller im Zeitpunkt der Beantragung eines Aufenthaltstitels nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG - am 27.10.2020 - im Besitz eines Visums nach § 6 Abs. 3 AufenthG zum Zwecke des Familiennachzugs zu seinem Sohn gewesen ist - dieses hatte eine Gültigkeit bis zum … 2020 -, führte der Antrag zum Entstehen der Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG, so dass sich der vorläufige Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO richtet. Denn die vorläufige Sicherung des Aufenthaltsrechts während eines anhängigen Verwaltungs- und auch Gerichtsverfahrens um die Verlängerung oder Erteilung eines Aufenthaltstitels erfolgt dann in einem Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO - gerichtet auf die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des eingelegten Rechtsbehelfs -, wenn der Antrag auf Erteilung oder Verlängerung des Titels zum Entstehen einer Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 oder 4 AufenthG geführt hat und diese Wirkung durch die Entscheidung der Ausländerbehörde über den Antrag wieder erloschen ist [...], so wie es hier der Fall ist.
10 b) Ebenso richtet sich der vorläufige Rechtsschutz gegen die Abschiebungsandrohung nebst Ausreisefristsetzung (vgl. § 12 LVwVG, § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO) und gegen das verfügte befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot (vgl. § 84 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG, § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO) nach § 80 Abs. 5 VwGO.
11 3. Der zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Ablehnung der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG zum Zwecke des Familiennachzugs zu seinem Sohn hat Erfolg. Es erweist sich derzeit als offen, ob die Versagung des vom Antragsteller begehrten Aufenthaltstitel rechtmäßig ist (b)). Gemessen an den allgemeinen Maßstäben (a)) hat der Antrag deswegen Erfolg, weil sein Interesse an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung das öffentliche Interesse an der Vollziehung der Entscheidung derzeit überwiegt (c)). [...]
14 b) Es ist derzeit offen, ob sich die Entscheidung des Vertreters des Antragsgegners, dem Antragsteller den begehrten Aufenthaltstitel zu versagen, als rechtmäßig erweist.
15 aa) Der vom Antragsteller geltend gemachte Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Zweck des Familiennachzugs zu seinem Sohn richtet sich nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG. [...]
16 Der Antragsteller gehört zwar als sorgeberechtigter Elternteil grundsätzlich dem von dieser Vorschrift erfassten Personenkreis an (1). Es ist derzeit offen, ob er die Personensorge zur Herstellung oder Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft (vgl. § 27 Abs. 1 AufenthG) mit seinem minderjährigen Sohn derzeit ausübt und ob zu erwarten ist, dass er sie in absehbarer Zeit in der vorausgesetzten Weise ausüben wird (2). Dem Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG steht zwar sehr wahrscheinlich das Fehlen der Regelerteilungsvoraussetzung aus § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG entgegen, weil der Antragsteller verschiedene schwerwiegende Ausweisungsinteressen verwirklicht hat und wohl kein atypischer Ausnahmefall vorliegt (3). Es ist aber wiederum offen, ob die Entscheidung des Antragsgegners, von der Anwendung der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht im Ermessenswege nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG abzusehen, rechtlich Bestand haben kann (4). [...]
19 (a) Das Tatbestandsmerkmal "zur Ausübung der Personensorge" in § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG greift die familienrechtliche Begriffsbildung in § 1626 Abs. 1 Satz 2 BGB auf (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 20.09.2018 - 11 S 240/17 -, FamRZ 2019, 753, 754 = juris Rn. 68; Marx in: GKAufenthG, § 28 AufenthG Rn. 79 <Stand: 2/2022>). § 1626 Abs. 1 BGB enthält insoweit drei Legaldefinitionen: Nach Satz 1 haben die Eltern die Pflicht und das Recht, für das minderjährige Kind zu sorgen (elterliche Sorge). Die elterliche Sorge umfasst nach Satz 2 die Sorge für die Person des Kindes (Personensorge) und das Vermögen des Kindes (Vermögenssorge). § 1627 Satz 1 BGB regelt weiter, wie die Eltern die elterliche Sorge "auszuüben" haben. In § 1687 BGB wird die praktische Ausgestaltung der gemeinsamen Sorge nach Trennung und Scheidung geregelt. Nur in Angelegenheiten, die für das Kind von erheblicher Bedeutung sind, ist bei gemeinsamer Verantwortung eine einvernehmliche Entscheidung notwendig.
20 Da sich auch der Begriff der "Ausübung" im Aufenthaltsrecht wiederfindet, liegt auf der Hand, dass die formale Inhaberschaft des Personensorgerechts lediglich eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Erfüllung des Tatbestands des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG darstellt. Vielmehr folgt aus der Verwendung dieses Begriffs, dass zur bloßen Inhaberschaft ein Handlungselement hinzukommen muss, das auf eine spezifische Beziehung zwischen Kind und Elternteil angelegt ist. Der sorgeberechtigte ausländische Elternteil eines minderjährigen deutschen Kindes übt die Personensorge grundsätzlich nur dann nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG aus, wenn er seine elterliche Verantwortung - in diesem Fall insbesondere das Sorgerecht und die mit ihm korrespondierende Sorgepflicht - durch einen entsprechenden Erziehungs- und Betreuungsbeitrag für das Kind tatsächlich aktiv wahrnimmt. Der sorgeberechtigte Elternteil muss von seinem Sorgerecht in einer Weise Gebrauch machen, die sich in seinem Verhalten gegenüber dem Kind manifestiert und seinen weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet erforderlich macht. Er muss auch nach außen hin erkennbar in ausreichendem Maße einen für eine familiäre Lebensgemeinschaft typischen Kernbestand an Verantwortung für die Betreuung und Erziehung seines minderjährigen Kindes übernehmen [...].
21 Bei der Prüfung des Tatbestandsmerkmals "zur Ausübung der Personensorge" ist aber nicht (nur) der Gesichtspunkt einer Beteiligung an formalen Entscheidungen, die die Lebensgestaltung und Erziehung des Kindes betreffen, sondern insbesondere auch die tatsächliche Gestaltung der Beziehung zwischen Kind und Elternteil unter Berücksichtigung insbesondere der verfassungsrechtlichen und völkervertragsrechtlichen Vorgaben wertend in den Blick zu nehmen; eine rein schematische Abgrenzung verbietet sich bei der im Einzelfall vorzunehmenden Bewertung der familiären Beziehungen. [...]
23 Im Falle eines regelmäßigen Umgangs des ausländischen Elternteils, der dem auch sonst Üblichen entspricht, wird in der Regel von einer familiären Gemeinschaft auszugehen sein; auch Unterhaltsleistungen sind in diesem Zusammenhang ein Zeichen für die Wahrnehmung elterlicher Verantwortung [...]. Bei Umgangskontakten unterscheidet sich die Eltern-Kind-Beziehung typischerweise deutlich von dem Verhältnis des Kindes zur täglichen Betreuungsperson. Dass der Umgangsberechtigte nur ausschnittsweise am Leben des Kindes Anteil nehmen kann und keine alltäglichen Erziehungsentscheidungen trifft, steht der Annahme einer familiären Lebensgemeinschaft nicht entgegen. Auch insoweit ist im Einzelfall zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte [...] Die aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen des Art. 6 GG entfalten sich schon dann, wenn der Umgang des ausländischen Elternteils mit seinem Kind - etwa nach Verhinderung des Umgangs durch den personenberechtigten Elternteil - in einer Aufbauphase erst (wieder) angebahnt wird, sofern der ausländische Elternteil sich zur Wahrnehmung seiner elterlichen Verantwortung für sein Kind ernsthaft um Umgang mit diesem bemüht und dem Umgang Gründe des Kindeswohls nicht entgegenstehen (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 20.09.2018 - 11 S 240/17 -, FamRZ 2019, 753, 754). [...]
31 bb) Sollte der Tatbestand des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG erfüllt sein, spricht einiges dafür, dass einem Anspruch des Antragstellers auf Erteilung eines Aufenthaltstitels allerdings § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG entgegenstehen wird. Nach dieser Vorschrift setzt die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraus, dass kein Ausweisungsinteresse besteht. Gegen den Antragsteller bestehen hingegen verschiedene, jeweils schwerwiegende Ausweisungsinteressen (1). Wahrscheinlich liegt kein atypischer Fall vor, in dem von den Ausweisungsinteressen abzusehen wäre (2).
32 (1) Für das Vorliegen eines Ausweisungsinteresses nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG kommt es nicht darauf an, ob der Ausländer tatsächlich ausgewiesen werden könnte. Vielmehr reicht es aus, dass ein Ausweisungsinteresse gleichsam abstrakt - d.h. nach seinen tatbestandlichen Voraussetzungen - vorliegt, wie es insbesondere im Katalog des § 54 AufenthG normiert ist. [...]
35 (2) Ist ein Ausweisungsinteresse vorhanden, so führt dies nach § 5 Abs. 1 AufenthG in der Regel dazu, dass ein Aufenthaltstitel zu versagen ist. Allerdings ist eine Ausnahme hiervon anzunehmen, wenn besondere, atypische Umstände gegeben sind, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen, aber auch dann, wenn entweder aus Gründen höherrangigen Rechts wie Art. 6 oder Art. 2 Abs. 1 GG oder im Hinblick auf Art. 8 EMRK eine Titelerteilung geboten ist [...] Im Rahmen der Atypik kann unter anderem von Bedeutung sein, ob in der Persönlichkeit oder den Lebensverhältnissen des Ausländers positive Änderungen eingetreten sind, welche die Annahme rechtfertigen, er werde künftig nicht mehr straffällig (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 16.02.2021 - 12 S 3852/20 -, VBlBW 2021, 425, 427). [...]
37 cc) Indes erscheint es derzeit als offen, ob die Entscheidung des Antragsgegners, von der Anwendung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht im Ermessenswege nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG abzusehen, rechtmäßig ist.
38 Bei dieser behördlichen Ermessensausübung ist das durch die Verwirklichung des Ausweisungsinteresses festgestellte öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsversagung mit dem individuellen, grundrechtlich geschützten Interesse des den Nachzug begehrenden Familienangehörigen - hier des Antragstellers - in Verbindung mit dem ebenfalls grundrechtlich geschützten Interesse des Stammberechtigten - hier seines Sohnes - abzuwägen. Die Behörde hat hierbei das besondere Gewicht, das dem Schutz der Familie verfassungsrechtlich wie auch konventionsrechtlich beizumessen ist, zu beachten und die Folgen der Versagung des Aufenthalts für den Nachziehenden, insbesondere aber für seine von ihm abhängigen Familienangehörigen, in die Ermessensabwägung einzustellen [...].
39 In dem angegriffenen Bescheid geht der Vertreter des Antragsgegners davon aus, dass der Antragsteller keinen Anteil am Leben seines Sohnes nehme, was auch von der Kindsmutter zum Schutz des gemeinsamen Kindes nicht länger gewünscht werde. Der Antragsteller lasse kein Interesse an seinem Sohn erkennen. Ausgehend von dem Vortrag des Antragstellers zu den Vater-Sohn-Kontakten (siehe oben unter B II. 3. b) aa) (2) (b)) ist es derzeit jedenfalls als offen zu bewerten, ob die Ermessensentscheidung nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG damit den zutreffenden Sachverhalt zugrunde gelegt hat oder ob deswegen ein Ermessensfehler (vgl. § 114 Satz 1 VwGO) festzustellen ist, weil der Sachverhalt nur unzureichend erfasst worden ist. Sollte der Tatbestand des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG erfüllt sein und der Antragsteller also das ihm zustehende Personensorgerecht in hinreichender Weise ausüben und er seine mit diesem Recht korrespondierende Sorgepflicht durch einen entsprechenden Erziehungs- und Betreuungsbeitrag für sein Kind tatsächlich aktiv wahrnehmen - was im Rahmen des Eilrechtsschutzverfahrens nicht aufzuklären ist -, erwiese sich die Ermessensentscheidung im Rahmen des § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG derzeit als defizitär und rechtswidrig, weil sie von einer deutlich zu geringen Schutzwürdigkeit der Vater-Sohn-Beziehung ausginge. Dies gilt auch dann, wenn keine Atypik bei der Prüfung der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG festzustellen sein sollte. Denn § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG findet gerade und nur dann Anwendung, wenn bei der Prüfung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ein Regelfall und keine Atypik festzustellen ist [...].
40 Das Ermessen des Vertreters des Antragsgegners ist auch nicht etwa zu Lasten des Antragstellers dahingehend reduziert, dass ein Absehen von der Anwendung der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nicht in Betracht käme. Denn es ist in den Blick zu nehmen, dass der Antragsteller zwar eine Reihe von Ausweisungsinteressen verwirklicht hat, diese aber alle den "allein" schwerwiegenden Ausweisungsinteressen des § 54 Abs. 2 AufenthG zugeordnet sind und kein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gegen den Antragsteller besteht. [...]