Keine Ausweisung bei mutmaßlicher Begleitung des Ehemannes nach Syrien zum IS:
1. Ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse, hier wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung (§ 54 Abs. 1 Nr. 2, 2. HS AufenthG), ist nicht erfüllt, wenn keine Tatsachen vorgetragen wurden, die den Verdacht der Unterstützung belegen.
2. Für das Merkmal der gegenwärtigen oder vormaligen individuellen Unterstützung gilt ein reduzierter Beweismaßstab, wobei es genügt, wenn ein auf Tatsachen gestützter Verdacht besteht, dass der Ausländer die Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat. Für das Vorliegen der Anknüpfungstatsachen, aus denen die Schlussfolgerung gezogen werden soll, ist die Ausländerbehörde beweispflichtig.
3. Ein ohne Vorsatz handelnder Unterstützer fällt nicht unter den Anwendungsbereich von § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG. Es liegt keine Unterstützung einer terroristischen Vereinigung vor, wenn eine Ehefrau ihren Ehemann, der sich dem IS angeschlossen hat, nach Syrien begleitet, aber keine sonstigen Anhaltspunkte für Unterstützungshandlungen vorliegen.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Die zulässige Klage ist begründet. [...] Die Klägerin hat einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG.
I. Die in Ziffer 1 des Bescheids vom 17. Mai 2021 verfügte Ausweisung ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
Rechtsgrundlage für die Ausweisung ist § 53 Abs. 1 AufenthG. [...]
Der Aufenthalt der Klägerin gefährdet zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt nicht die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG.
Die Klägerin verwirklicht kein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse im Sinne des § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG. [...]
In Betracht kommt vorliegend die Variante 2 des § 54 Abs. 1 Nr. 2 Hs. 2 AufenthG ("eine derartige Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat"). Der Begriff der individuellen Unterstützung der Vereinigung ist mit Blick auf den hohen Rang der Schutzgüter der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland weit zu verstehen.
Erfasst ist jedes nicht nur geringfügige Tätigwerden auch eines Nichtmitglieds, das die innere Organisation und den Zusammenhalt der Vereinigung fördert, ihren Fortbestand oder die Verwirklichung ihrer auf die Unterstützung terroristischer Bestrebungen gerichteten Ziele fördert und damit ihre potenzielle Gefährlichkeit festigt und ihr Gefährdungspotenzial steigert. Die Unterstützung kann etwa in freiwilligen finanziellen Zuwendungen an die Vereinigung, in der Werbung für diese oder in der Aufnahme von straffällig gewordenen Angehörigen der Vereinigung liegen. Sie muss sich in irgendeiner Weise positiv auf die Aktionsmöglichkeiten der Vereinigung auswirken, ohne dass es hierfür eines beweis- und messbaren Nutzens für die Verwirklichung der missbilligten Ziele oder einer subjektiven Vorwerfbarkeit bedarf. Erforderlich ist indes, dass die eine Unterstützung der Vereinigung, ihre sicherheitsgefährdenden Bestrebungen oder Tätigkeit bezweckende Zielrichtung des Handelns für den Ausländer regelmäßig erkennbar und von seinem Willen getragen und ihm deshalb zurechenbar ist. Hieran fehlt es, wenn der Ausländer allein einzelne politische, humanitäre oder sonstige Ziele der Organisation, nicht jedoch auch die Unterstützung des Terrorismus durch die Vereinigung befürwortet und sich hiervon ggf. deutlich distanziert. Maßgeblich ist jeweils eine wertende Gesamtschau sämtlicher Umstände des Einzelfalles. Das Ausweisungsinteresse des Abs. 1 Nr. 2 Hs. 2 Var. 2 AufenthG erstreckt sich nicht nur auf gegenwärtige Unterstützungshandlungen, sondern erfasst auch solche in der Vergangenheit, sofern diese eine gegenwärtige Gefährlichkeit begründen. Für das Merkmal der gegenwärtigen oder vormaligen individuellen Unterstützung der Vereinigung durch den Ausländer gilt ein reduzierter Beweismaßstab. Insoweit genügt es, dass Tatsachen diese Schlussfolgerung rechtfertigen. Dies ist der Fall, wenn ein auf Tatsachen gestützter Verdacht besteht, dass der Ausländer die Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat. Einer sicheren Überzeugung bedarf es nicht. In der Gesamtschau muss Überwiegendes auf eine Unterstützung hindeuten [...].
Für das Vorliegen der Anknüpfungstatsachen, aus denen die Schlussfolgerung gezogen werden soll, ist die Ausländerbehörde beweispflichtig. Der Nachweis der Gefährdung obliegt der Ausländerbehörde, auch wenn sie auf die Unterstützung anderer Behörden angewiesen ist. Falls Beweismittel, z. B. vom Verfassungsschutz, nicht zur Verfügung gestellt werden, können die Erkenntnisse nicht verwertet werden [...].
Die Schwelle der Strafbarkeit muss dabei nicht überschritten sein, da die Vorschrift der präventiven Gefahrenabwehr dient. Beispielsweise ist auch die Vorfeldunterstützung durch sogenannte Sympathiewerbung erfasst. Maßgeblich ist, inwieweit das festgestellte Verhalten des Einzelnen selbst potenziell als gefährlich erscheint [...]
Ein "undoloser" Unterstützer fällt nicht unter den Anwendungsbereich von § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG (vgl. BT-Drs. 18/4097, S. 51). [...]
Gemessen an diesen Maßstäben konnte das Gericht unter Würdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalles nicht die Überzeugung gewinnen, dass die Klägerin eine terroristische Vereinigung unterstützt hat.
Dabei ist lebensnah anzunehmen, dass die Klägerin ihren Ehemann begleitet hat, als dieser sich dem Islamischen Staat angeschlossen hat. Darüber hinausgehende Erkenntnisse, welche über ein bloßes Begleiten der Klägerin hinausgehen, sind jedoch nicht ersichtlich bzw. konnten von der Beklagten nicht hinreichend substantiiert vorgetragen werden. Für das Vorliegen der Anknüpfungstatsachen trägt jedoch – wie oben ausgeführt – die Beklagte die Darlegungs- und Beweislast, sodass die Ausweisungsverfügung bereits aus diesem Grunde rechtswidrig ist.
Nach der Erkenntnismitteilung des Verfassungsschutzes [...] liegen überhaupt keine Erkenntnisse zu einem tatsächlichen Aufenthalt der Klägerin im Herrschaftsgebiet des IS noch zur Konkretisierung einer tatbestandlichen Unterstützungshandlung vor. Ebenso teilt das Polizeipräsidium ... – Staatsschutz – mit, dass der Klägerin keine aktive oder unterstützende Rolle für die Ziele des IS zugeordnet werden konnte und dass keine Tatsachen bekannt sind, welche eine Einreise bzw. einen Aufenthalt in Syrien tatsächlich begründen können [...]. Gegen die Klägerin wurde kein strafrechtliches Verfahren eingeleitet [...]. Eine Beitrittserklärung zum IS oder ein Treueschwur der Klägerin sind nicht bekannt. Nach der Mitteilung der zunächst zuständigen Ausländerbehörde ist die Klägerin relativ gut sozial integriert [...].
Die von der Beklagten im streitgegenständlichen Bescheid angestellten Überlegungen zu einer möglichen Unterstützungshandlung der Klägerin bewegen sich im Bereich des Spekulativen. Der nicht durch Tatsachen belegte Verdacht reicht jedoch nicht aus, um eine Unterstützung der Klägerin annehmen zu können. So führt die Beklagte beispielsweise aus, dass davon auszugehen sei, dass die Klägerin im Rahmen der Ehe "mentale Unterstützungshandlungen" erbracht haben dürfte. Was genau die Beklagte damit meint, bleibt offen. Erst recht fehlen tatsächliche Feststellungen, die eine solche Unterstützung belegen könnten. [...]
Insgesamt ist festzuhalten, dass auch der Beklagten keinerlei tatsächliche Feststellungen zu Besonderheiten, wie beispielsweise einer eigenständigen und intrinsisch motivierten Ausreise nach Syrien, der Heirat von seitens der Organisation zugeführten Mitgliedern, einer indoktrinativen Kindererziehung mit dem Ziel, den Nachwuchs seinerseits zu Mitgliedern oder Unterstützern der Vereinigung zu formen, dem Bewerben der Organisation im Internet, dem Versuch, Deutsche zur Ausreise zum IS zu bewegen, der Beherbergung von IS-Angehörigen, der häuslichen Pflege von verwundeten Kämpfern, der Ausbeutung von Jesidinnen, dem Besuch von IS-Frauentreffs und Scharia-Unterricht oder das Tragen einer Kalaschnikow in der Öffentlichkeit, vorliegen [...].
Die von der Beklagten in der mündlichen Verhandlung geäußerte Auffassung, dass aus der Tatsache, dass der Zeuge von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht habe, auf eine Unterstützungshandlung der Klägerin geschlossen werden könne, ist nicht zulässig. [...]
Statt konkrete Anhaltspunkte im Hinblick auf die Klägerin anzugeben, enthält der streitgegenständliche Bescheid sowie die Klageerwiderung schwerpunktmäßig Ausführungen zu dem Verhalten des Ehemannes der Klägerin, welcher - zu Recht - bestandskräftig ausgewiesen worden ist. Dies genügt aber nicht, um eine Gefährdung durch die Klägerin selbst anzunehmen. Die Ansicht der Beklagten ist mit dem Charakter der §§ 53 ff. AufenthG, welche im Mittelpunkt eine Gefährdung durch den jeweils Betroffenen vorsehen, nur schwer in Einklang zu bringen.
Kann schon nicht von einer Unterstützungshandlung in der Vergangenheit der Klägerin ausgegangen werden, so kann erst recht nicht davon ausgegangen werden, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt von der Klägerin eine gegenwärtige Gefährlichkeit ausgeht (vgl. zu diesem Erfordernis: Hailbronner, in: Hailbronner, Ausländerrecht, § 54 AufenthG, Rn. 60). [...]