Systemische Mängel im italienischen Asylsystem:
"1. Das italienische Asylsystem weist infolge der Erklärung der italienischen Behörden, bis auf Weiteres keine Dublin-Rückkehrer aufzunehmen, systemische Mängel auf, ohne dass eine Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Verhältnissen vor allem in den Aufnahmeeinrichtungen in Italien im Falle einer (unterstellten) Rücküberstellung erforderlich ist (entgegen BVerwG, Beschluss vom 24. Oktober 2023 - 1 B 22.23 -, juris). Denn das Prinzip gegenseitigen Vertrauens gebietet es jedenfalls bei Fehlen stichhaltiger gegenteiliger Anhaltspunkte, einem Mitgliedsstaat Glauben zu schenken, wenn er eine Überlastung seiner Aufnahmeeinrichtungen und insofern konkludent systemische Mängel selbst konstatiert.
2. Auch bei Auseinandersetzung mit den von Dublin-Rückkehrern (wahrscheinlich) zu erwartenden tatsächlichen Verhältnissen in Italien ist (weiterhin) davon auszugehen, dass vulnerablen Asylsuchenden, insbesondere Familien mit kleinen Kindern, derzeit im Allgemeinen eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung droht, solange die italienischen Behörden keine individuelle und konkrete Zusicherung abgegeben haben, nach der die jeweils betroffenen Personen Zugang zu einer ihrer Schutzbedürftigkeit angemessenen Unterkunft und darüber hinaus auch zu einer für die Dauer ihrer Vulnerabilität angemessenen Unterstützung erhalten werden (Fortsetzung von VG Gelsenkirchen, Urteil vom 22. Februar 2022 - 1a K 2967/19.A -, juris). Denn es ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass ihnen ohne entsprechende Zusicherung eine ihre Vulnerabilität angemessen berücksichtigende Unterbringung nicht gewährt werden wird und es ihnen aufgrund der humanitären Situation in Italien nicht gelingen wird, ihre elementarsten Bedürfnisse ("Bett, Brot, Seife") zu befriedigen.
3. Asylsuchende können nicht auf die Möglichkeit (vorübergehender) Tätigkeit in der sog. "Schattenwirtschaft" verwiesen werden. Bereits das der Europäischen Union innewohnende Prinzip gemeinsam geteilter Werte, hier konkret der Rechtsstaatlichkeit, verbietet es einem Mitgliedsstaat, Asylsuchende darauf zu verweisen, in einem anderen Mitgliedsstaat die dortige Rechtsordnung zu missachten."
(Amtliche Leitsätze; siehe auch: OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16.06.2023 - 11 A 1132/22.A (Asylmagazin 7-8/2023, S. 254 f.) - asyl.net: M31640)
[...]
aa) Auf Grundlage der aktuellen Erkenntnisse geht die erkennende Kammer davon aus, dass das italienische Asylsystem mit systemischen Mängeln behaftet ist, die eine unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK begründen.
Die italienischen Behörden haben mit Erklärungen vom 5. und 7. Dezember 2022 mitgeteilt, dass Überstellungen nach Italien im Rahmen des Dublin III-Verfahrens aus Kapazitätsgründen vorerst nicht möglich seien. In Ermangelung näherer Informationen, insbesondere zum Enddatum für die Aussetzung der Überstellungen, sowie in Anbetracht des nunmehr erheblichen Aussetzungszeitraums von über einem Jahr ist davon auszugehen, dass Italien die (Wieder-)Aufnahme von Rückkehrern im Rahmen des Dublin-III-Verfahrens auf unbestimmte Zeit verweigert und demnach den Betroffenen entgegen ihrer Verpflichtung insoweit systemisch den Zugang zum Asylverfahren versperrt. Dies entspricht auch der jüngeren Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen (vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 5. Juli 2023 - 11 A 1722/22.A -, juris, Rn. 46 ff., und vom 7. Juni 2023 - 11 A 2343/19.A -, juris, Rn. 47 ff.; vgl. dazu auch VG Arnsberg, Urteil vom 24. Januar 2023 - 2 K 2991/22.A -, juris, Rn. 55 ff.; VG Köln, Beschluss vom 8. Mai 2023 - 23 L 780/23.A -, juris, Rn. 36 ff.).
Soweit das Bundesverwaltungsgericht diese Rechtsprechung zuletzt als verfahrensfehlerhaft bewertet hat, weil ein Zuständigkeitsübergang aufgrund systemischer Mängel nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 Dublin III-VO zwingend die Auseinandersetzung mit den Verhältnissen vor allem in den Aufnahmeeinrichtungen in Italien im Falle einer (unterstellten) Rücküberstellung erfordere (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 24. Oktober 2023 - 1 B 22.23 -, juris, Rn. 15, und vom 13. November 2023 - 1 B 39.23 -, juris, Rn. 15) überzeugt dies die Kammer nicht. Unabhängig davon, ob nicht nach dem Unionsrecht auch andere, nicht (allein) auf die Verhältnisse im betroffenen Staat abstellende – vom Europäischen Gerichtshof bislang weder explizit angenommene noch dezidiert ausgeschlossene – Möglichkeiten für die Annahme hinreichender systemischer Mängel denkbar sind, etwa die gänzliche Verweigerung des Zugangs zum System oder der politische Wille, nicht mehr am Dublin-System zu partizipieren, muss in Anbetracht des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens davon ausgegangen werden, dass, wenn sich ein Mitgliedsstaat – wie hier – der Aufnahme von Dublin-Rückkehrern unter Verweis auf fehlende Aufnahmekapazitäten verweigert, diese Begründung zutreffend ist. Jedenfalls nach einem solch beachtlichen Zeitraum der Aussetzung wie hier von über einem Jahr ist daher auch von der (systemisch begründeten) beachtlichen Gefahr einer unmenschlichen bzw. erniedrigenden Behandlung auszugehen. Die italienische Regierung hat mit ihren Erklärungen vom 5. bzw. 7. Dezember 2022 insoweit konkludent zum Ausdruck gebracht, dass im Falle einer Rückkehr der Betroffenen eine unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung droht. Denn da Italien seine Entscheidung ausschließlich mit fehlenden Kapazitäten im System begründet hat, kann – will man das Dublin-System und die darin enthaltenen Verpflichtungen ernst nehmen –, die Entscheidung nur als Versuch gewertet werden, Verstöße gegen die sich aus der Verordnung ergebenden Verpflichtungen und damit konkret eine aus
italienischer Sicht offenbar beachtliche Gefahr der unmenschlichen bzw. erniedrigenden Behandlung zu vermeiden. [...]
bb) Aber selbst wenn – die vom Bundesverwaltungsgericht formulierten Anforderungen umsetzend respektive an der Richtigkeit der italienischen Erklärungen zweifelnd – auf die Verhältnisse in Italien bei gedachter Rücküberstellung abgestellt wird, ergibt sich hieraus nach der Überzeugung der Kammer eine beachtliche Gefahr der unmenschlichen bzw. erniedrigenden Behandlung für die Kläger.
Insofern ist bei der Anwendung der oben bereits geschilderten Maßstäbe besonders die spezifische Situation des Betroffenen in den Blick zu nehmen und dabei muss zwischen gesunden und arbeitsfähigen Flüchtlingen sowie besonders vulnerablen Gruppen mit besonderer Verletzbarkeit (z. B. Kleinkinder, minderjährige unbegleitete Flüchtlinge, Hochschwangere, erheblich Erkrankte etc.) unterschieden werden. Bei Letzteren ist der Schutzbedarf naturgemäß anders bzw. höher [...]
Dies gilt insbesondere im Fall der Betroffenheit von Kindern. Dabei ist vor allem zu berücksichtigen, dass der durch Art. 4 GR-Charta bzw. in gleicher Weise durch Art. 3 EMRK vermittelte Schutz bei Kindern - unabhängig davon, ob sie von ihren Eltern begleitet werden - noch wichtiger ist, weil sie besondere Bedürfnisse haben und extrem verwundbar sind. Diese bestehen aufgrund ihres Alters und ihrer Abhängigkeit, aber auch ihres Status als Schutzsuchende (vgl. EGMR, Urteil vom 4. November 2014 - 29217/12 (Tarakhel/Schweiz) -, juris, Rn. 119). [...]
Die Aufnahmebedingungen für minderjährige Schutzsuchende müssen deshalb an ihr Alter angepasst sein um sicherzustellen, dass keine Situation von Anspannung und Angst mit besonders traumatisierenden Wirkungen für die Psyche der Kinder entsteht. [...]
Dies zugrunde legend ist die Vermutung, dass Italien Dublin-Rückkehrern, die sich in der Situation der Kläger befinden, den Schutz der in der GR-Charta anerkannten Grundrechte, insbesondere aus Art. 4, bietet, auf der Grundlage der dem Gericht vorliegenden Informationen durchgreifend erschüttert. Für vulnerable Personen, insbesondere Familien mit minderjährigen Kindern, geht die beschließende Kammer – schon vor der italienischen Erklärung zum Aufnahmestopp – in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass zu befürchten ist, dass ihnen in Italien aufgrund der dort herrschenden humanitären Bedingungen eine erniedrigende bzw. unmenschliche Behandlung droht, wenn nicht eine individuelle und konkrete Zusicherung der italienischen Behörden vorliegt, die eine hinreichende und adäquate Unterstützung - namentlich eine ihrer Vulnerabilität angemessene und für eine hinreichende zeitliche Dauer zur Verfügung stehende Unterkunft - sicherstellt. [...]
Es ist indes bereits nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass die Kläger in Italien eine Unterkunft erhalten werden, jedenfalls keine ihrer Vulnerabilität angemessene. Den Klägern wird es auch nicht gelingen, für sich selber zu sorgen. [...]
In Anbetracht der aktuellen – sprunghaft angestiegenen – Zahlen in Italien neu ankommender Flüchtlinge geht das Gericht nun davon aus, dass es nicht (mehr) genügend Unterbringungskapazitäten gibt. Italien hatte zuletzt einen enormen Zuwachs an ankommenden Flüchtlingen zu verzeichnen. Im Jahr 2023 sind bis September bereits insgesamt 115.000 Flüchtlinge und damit fast doppelt so viele wie im Vorjahrszeitraum nach Italien gekommen. Im ersten Halbjahr 2023 wurden daher auch mit über 60.000 mehr als doppelt so viele Asylanträge wie im Vorjahreszeitraum gestellt [...].
Berücksichtigt man nun, dass Italien im Jahr 2022 insgesamt, d.h. unter Berücksichtigung jeglicher Unterkunftskapazitäten, 107.677, im Juli 2023 125.922 und zuletzt im November knapp 140.000 Unterkunftsplätze zur Verfügung stellte [...], ergibt sich gerade unter Einbeziehung der aufgrund der regelmäßig mehrjährigen Dauer des Asylverfahrens nicht unerheblichen durchschnittlichen Unterbringungszeit eines Asylbewerbers, der hinzukommenden, ebenfalls unterzubringenden ukrainischen Flüchtlinge [...] und trotz der feststellbaren Aufstockung der Unterbringungskapazitäten beachtlich wahrscheinlich, dass in Italien nicht so viele Plätze verfügbar sein können, als dass es für den Ausschluss einer beachtlichen Gefahr einer Obdachlosigkeit hinreichend wäre. [...]
Nichts anderes ergibt sich daraus, dass die Kläger aufgrund ihrer Vulnerabilität – neben anerkannt Schutzberechtigten – infolge der sog. "Lamorgese"-Reform im Jahr 2020 (wieder) Zugang zu den Einrichtungen des Sistema di Accoglienza e Integrazione (SAI) haben sollen. Denn es ist weiterhin nicht erkennbar, dass diese Reform im Wesentlichen über das Papier, auf dem sie steht, hinausgegangen und tatsächlich hinreichend umgesetzt worden wäre [...].
Aber selbst wenn vulnerable Personen eine Unterkunft erhalten sollten, ist nach den vorliegenden Erkenntnismitteln keineswegs mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass diese der Vulnerabilität angemessen wären.
Bereits der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte befand im Jahr 2014, dass das italienische Unterbringungssystem für vulnerable Menschen, insbesondere Familien mit (Klein-)Kindern beachtlich defizitär ist (vgl. EGMR, Urteil vom 4. November 2014, Nr. 29217/12, NVwZ 2015, 127 (131)).
Daran hat sich bislang aus Sicht des Gerichts auch nichts geändert. [...]
Im Übrigen erweist sich eine Rücküberstellung vulnerabler Personen auch nicht etwa deshalb als unionsrechtskonform, weil es den Betroffenen ohne staatliche Unterbringung möglich wäre, für sich sorgen zu können. Denn insoweit erweist sich die Situation des Arbeitsmarktes sowie der staatlichen oder nichtstaatlichen Unterstützungshandlungen als prekär. [...]
Auf informelle Siedlungen oder besetzte Häuser können Asylsuchende nicht als Ersatz für eine staatliche Unterbringung verwiesen werden. Denn der Aufenthalt in solchen Gebäuden ist wegen der dort zumeist herrschenden menschenunwürdigen Zustände nicht nur unzumutbar, sondern vor allem auch illegal (vgl. dazu auch OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1689/20.A -, juris, Rn. 107).
Im Übrigen können die Kläger auch nicht darauf verwiesen werden, dass von Seiten der Kirchen, Nichtregierungsorganisationen oder Privatpersonen Unterkünfte angeboten werden. Denn nicht nur, dass die Zahl der insoweit zur Verfügung stehenden Plätze gar nicht überblickbar ist und bereits deshalb eine Unterkunftsgewährung nicht hinreichend wahrscheinlich ist, handelt es sich ausweislich der vorhandenen Erkenntnismittel – wenn überhaupt – nur um wenige Unterbringungsplätze. Angesichts des enormen Zustroms an Flüchtlingen in Italien und vor dem Hintergrund, dass auch die bereits anerkannten Schutzberechtigten häufig auf diese Form der Unterbringung verwiesen werden [...] kann keineswegs davon ausgegangen werden, dass diese privat zur Verfügung gestellten Plätze ausreichend sind [...].
Den Klägern wird es schließlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im Falle ihrer Rücküberstellung nach Italien auch nicht möglich sein, sich aus eigenen durch Erwerbstätigkeit der Kläger zu 1. und 2. zu erzielenden Mitteln eine Unterkunft zu finanzieren und sich und die Familie darüber hinaus mit den für ein Überleben notwendigen Gütern zu versorgen. [...]
Soweit einige (Ober-)Gerichte die Betroffenen – unter Ausblendung der Frage, ob in diesem Sektor hinreichende Einkünfte zur Befriedigung der essentiellen Bedürfnisse erwirtschaftet werden können – ohne weitere Differenzierung auf eine Tätigkeit im Bereich der Schattenwirtschaft verweisen [...], erscheint dies aus Sicht der erkennenden Kammer zynisch und im Ergebnis unzumutbar. [...]