VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Beschluss vom 08.04.2024 - 3 B 147/24 - asyl.net: M32401
https://www.asyl.net/rsdb/m32401
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für alleinerziehende Mutter aus Côte d’Ivoire:

1. Ob die Ablehnung des Asylantrags der Antragstellerin als unzulässig gemäß §§ 29 Abs. 1 Nr. 5, § 71a AsylG rechtmäßig ist, kann im Eilverfahren dahinstehen, denn jedenfalls ist die Ablehnung der Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG aller Voraussicht nach rechtswidrig.

2. Eine Frau, die in Côte d’Ivoire Opfer geschlechtsspezifischer Verfolgung geworden ist und zwei Kinder zu versorgen hat, wird bei ihrer Rückkehr nicht in der Lage sein, ein menschenwürdiges Existenzminimum zu erlangen, sodass die Voraussetzungen für die Zuerkennung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Côte d’Ivoire, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, nichtstaatliche Verfolgung, offensichtlich unbegründet, alleinerziehend, Kinder, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 71a Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

Vorliegend kann im Rahmen dieses Eilverfahrens dahinstehen, ob die Ablehnung des Asylantrags der Antragsteller als unzulässig gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG rechtmäßig ist im Hinblick auf die Frage, ob die Regelung des § 71a AsylG mit den Bestimmungen der unionsrechtlichen Asylverfahrensrichtlinie vereinbar ist, denn jedenfalls ist die Ablehnung der Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG aller Voraussicht nach rechtswidrig.

Die Antragstellerin beruft sich in ihrem Vorbringen darauf, in ihrer Heimat Opfer von geschlechtsspezifischer Verfolgung in Form einer erlittenen Zwangsverheiratung und häuslicher Gewalt geworden zu sein. Im Hinblick darauf, dass nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 16.01.2024 - C- 621/21 – juris, Leitsatz 1) Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95/EU [...] dahin auszulegen ist, dass je nach den im Herkunftsland herrschenden Verhältnissen sowohl die Frauen dieses Landes insgesamt als auch enger eingegrenzte Gruppen von Frauen, die ein zusätzliches gemeinsames Merkmal teilen, als "einer bestimmten sozialen Gruppe" zugehörig angesehen werden können, im Sinne eines "Verfolgungsgrundes", der zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen kann, liegt für den Einzelrichter vorliegend auf der Hand, dass die Antragstellerin als durch Zwangsheirat verbunden mit häuslicher Gewalt und sexueller Ausbeutung im Rahmen der Zwangsehe aller Voraussicht nach vorverfolgt ausgereiste Angehörige einer solchermaßen eingegrenzten sozialen Gruppe bei ihrer Rückkehr in die Elfenbeinküste als alleinerziehende Mutter mit ihren beiden derzeit … und … Jahre alten Söhnen keineswegs irgendwo in ihrem Heimatstaat Elfenbeinküste in der Lage wäre, das für eine menschenwürdige Existenz dort notwendige Minimum zu erreichen. Vielmehr wäre sie aufgrund der dort herrschenden gesellschaftlichen Strukturen entweder gezwungen, sich erneut in die Hände (irgendeines) Mannes zu begeben, um auch nur ansatzweise innerhalb der sozialen Strukturen der Elfenbeinküste in die dortige Zivilgesellschaft als akzeptiertes Mitglied aufgenommen zu werden, oder sie müsste als Person ohne jeden familiären Rückhalt unter massiver Vernachlässigung der Betreuungspflicht ihren Söhnen gegenüber versuchen, außerhalb der dortigen Zivilgesellschaft jede sich ihr legal oder illegal bietende Möglichkeit zu nutzen, um in irgendeiner Form an finanzielle oder Sachmittel zu gelangen, um sich und ihre Söhne durchzubringen. Dabei ist davon auszugehen, dass sie sich als von der Gesellschaft als aussätzig betrachtete Person gleichsam als Sklavin für niedere Arbeiten wie etwa Tageslöhnertätigkeiten oder gar Prostitution hergeben müsste. Abgesehen davon, dass insoweit weder eine Konstanz beim Einkommen noch irgendeine Perspektive für einen sozialen Aufstieg aus der Gruppe der gesellschaftlich Geächteten gegeben wäre, führte dieses durch die äußeren Umstände erzwungene Verhalten zu einer vollständigen Vernachlässigung ihrer Verpflichtung, ihre beiden Söhne auch nur annähernd angemessen zu betreuen. [...]

Aus dem Vorstehenden folgt zwangsläufig, dass für die Antragstellerin (und damit wegen Art. 8 EMRK bzw. Art. 6 Grundgesetz auch bei dem Antragsteller) die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegen. [...]

Vorliegend kann dahinstehen, ob die gesundheitliche Situation der Antragstellerin (sie ist an Hepatitis B erkrankt) ihre Gefährdung bei einer Rückkehr noch verstärkt, denn auch als gesundheitlich nicht beeinträchtigte Frau liegen bei ihr aller Voraussicht nach die Voraussetzungen für das oben dargelegte Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG vor. [...]