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VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Beschluss vom 30.04.2024 - 11 K 1381/24 - asyl.net: M32397
https://www.asyl.net/rsdb/m32397
Leitsatz:

Abschiebung wegen Missachtung des Gleichbehandlungsgrundsatzes rechtswidrig:

1. Ausländerbehörden müssen bei der Entscheidung, welche vollziehbar ausreisepflichtige Person sie wann abschieben, den Gleichbehandlungsgrundsatz berücksichtigen. Die Behörde darf ihr Ermessen hinsichtlich der Entscheidung, wann sie wen abschiebt, nicht ohne erkennbaren Grund unterschiedlich, systemwidrig oder planlos ausüben.

2. Eine Verwaltungspraxis, wonach vorrangig "Straftäter" abzuschieben sind, um die Grundrechte anderer Personen zu schützen, entspricht diesen Anforderungen zwar grundsätzlich. Um eine Person derart als "Straftäter" zu kategorisieren, muss von dieser Person jedoch eine (weitere) Gefahr ausgehen.

3. Wurde die betroffene Person zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, hat die Behörde in Erfahrung zu bringen, was das Strafgericht zur Aussetzung der Strafe auf Bewährung veranlasst hat. Bei einer Person, die in hohem Maße resozialisiert ist, selbständig ihren Reisepass vorgelegt hat, keine Sozialleistungen bezieht, eine Berufsausbildung absolviert und nach der Mitteilung ihres Ausbildungsbetriebs allseits geschätzt wird, ist nicht davon auszugehen, dass von der Person eine Gefahr ausgeht. Die Entscheidung, sie abzuschieben, ist deshalb willkürlich und mithin rechtswidrig.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebung, Rechtswidrigkeit, Straftat, Straftäter, Ermessen, Duldung, Integration, Gleichheitsgrundsatz, Verwaltungspraxis, Willkür,
Normen: GG Art. 3 Abs. 1, AufenthG § 60a Abs. 2, AufenthG § 104c, AufenthG § 60c
Auszüge:

[...]

9 Am 05.12.2023 erteilte die Antragsgegnerin einen neuerlichen Vollzugsauftrag. Der Antragsteller wurde auf einen am 28.02.2024 stattfindenden Abschiebe(-Charter)-Flug eingebucht. Am 20.02.2024 teilte die untere Ausländerbehörde der Antragsgegnerin mit, der Antragsteller habe über seinen Verfahrensbevollmächtigten nunmehr erneut einen Antrag nach § 104c AufenthG gestellt. Die Antragsgegnerin entschied darauf, an der geplanten Abschiebung festzuhalten.

10 Am 28.02.2024 wurde der Antragsteller gegen 12:30 Uhr von der Polizei in der Berufsschule festgenommen und zum Flughafen gebracht. Am Spätnachmittag dieses Tages rief der Antragsteller mit dem Ziel, seine Abschiebung zu stoppen, das Verwaltungsgericht um einstweiligen Rechtsschutz an. Der Antragsteller habe zumindest Aussicht auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG. Obwohl der Verfahrensbevollmächtigte bereits im Dezember 2023 um Akteneinsicht nachgesucht habe, sei ihm diese bis dato rechtswidrig verweigert worden. Beigefügt war u.a. eine Erklärung des Ausbildungsbetriebes in der es u.a. heißt,

11 "Hr. ... ist seit April 2022 in unserer Firma beschäftigt. Im September 2022 haben wir ihn in ein Ausbildungsverhältnis zum ... übernommen, das er nächstes Jahr mit der Gesellenprüfung abschließen wird. Wir haben von der Schule nur die besten Rückmeldungen, sowohl vom Lehrkörper in Stuttgart als auch vom praktischen Ausbildungszentrum in Geislingen. Er ist fleißig, begabt und engagiert. Auch im Betrieb wird er von allen Mitarbeitern aufgrund seiner Vielseitigkeit sehr geschätzt, wir haben ihm auch bereits eine Zukunft in unserer Firma in Aussicht gestellt da wir genau solche Fachkräfte brauchen!

12 Wir bitten Sie alles zu unternehmen um eine Abschiebung zu verhindern".

13 Auf Grund der gerichtsinternen Abläufe wurde dieser Antrag erst am frühen Morgen des 01.03.2024 entdeckt. Der Antragsteller war am Vorabend gegen 21:00 Uhr nach Gambia abgeschoben worden. [...]

15 1. Nachdem die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt haben, war das Verfahren in entsprechender Anwendung von § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen und über die Kosten des Verfahrens durch Beschluss zu entscheiden (§ 161 Abs. 1 VwGO). [...]

16 2. Hier entsprach es danach billigem Ermessen, die Kosten des Verfahrens der Antragsgegnerin aufzuerlegen. Der Berichterstatter hält die konkret durchgeführte Abschiebung des Antragstellers nach Gambia am 28.02.2024 für nicht mit der Rechtsordnung vereinbar, so dass der Eilantrag aller Voraussicht nach erfolgreich gewesen wäre, wenn er vom Gericht rechtzeitig hätte bearbeitet werden können. [...]

18 aa) Der Antragsteller dürfte aller Voraussicht nach vollziehbar ausreisepflichtig sein, wenn man die Bestandskraft der Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung aus dem Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge auf Grund der fiktiven Klagerücknahme gemäß § 81 AsylG wegen Nichtbetreibens des Verfahrens im Asylklageverfahren A 4 K 3765/17 als rechtswirksam ansieht. [...]

19 bb) Offenbleiben kann auch, ob die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an den Antragsteller von vornherein ausgeschlossen war, weshalb dann auch ein Antrag auf sog. Verfahrens-Duldung bis zum Abschluss des Titelerteilungsverfahrens hier nicht bestanden hätte. [...]

20 b) Ein Erfolg des Rechtsschutzbegehrens des Antragstellers stand aber jedenfalls hier schon deshalb im Raum, weil spezifisch vollstreckungsrechtliche Voraussetzungen, auch wenn der Antragsteller vollziehbar ausreisepflichtig gewesen sein sollte, nicht hinlänglich beachtet wurden.

21 aa) Es ist seit jeher anerkannt, dass eine Behörde, die in ihrem Zuständigkeitsbereich gegen rechtswidrige Zustände vorgeht, dann, wenn eine Vielzahl von Fällen parallel zu bearbeiten sind, in besonderem Maße den Gleichbehandlungsgrundsatz berücksichtigen muss. Dieser erfordert, dass gleiche Sacherhalte gleich zu behandeln sind und daraus folgt, dass die Behörde ihr Ermessen, wo sie nun einschreitet, nicht ohne erkennbaren Grund unterschiedlich, systemwidrig und planlos ausüben darf [...]. Zwar muss die Behörde rechtswidrige Zustände, wie hier etwa den rechtswidrigen Inlandsaufenthalt vollziehbar Ausreisepflichtiger, nicht stets bei allen Personen gleichzeitig und gemeinsam bekämpfen, vielmehr darf sie sich auf die Abarbeitung von Einzelfällen beschränken, wenn sie hierfür sachliche Gründe anzuführen vermag. Dem behördlichen Einschreiten muss aber ein bestimmtes, der jeweiligen Sachlage angemessenes System zugrunde liegen [...]. Dem behördlichen Einschreiten kann daher entgegengehalten werden, dass es nach der Art des Einschreitens an einem glaubwürdigen System fehlt und für die gewählte Art des Vorgehens keinerlei einleuchtende Gründe sprechen und die Handhabung deshalb als willkürlich angesehen werden muss [...]

22 Weil es insoweit um die Anwendung fundamentaler Verfassungsgrundsätze geht, gilt dies mit Blick auf das aus dem Rechtsstaatsprinzip erwachsende Gebot der Einheitlichkeit der Rechtsordnung gleichermaßen auf dem Gebiet des Ausländerrechts und dies gilt dann auch auf dem spezifischen Feld des Vollstreckungsrechts, wenn es also darum geht, wann und gegen welchen vollziehbar Ausreisepflichtigen Vollstreckungsmaßnahmen tatsächlich ergriffen werden (Abschiebung).

23 bb) Der Antragsgegnerin scheinen diese rechtsstaatlichen Erfordernisse im Grundsatz bewusst zu sein. So hat sie auf Anfrage des Gerichts mitgeteilt, derzeit gebe es in ihrem Zuständigkeitsbereich 2369 geduldete gambische Staatsangehörige (von 26450 geduldeten Ausländern insgesamt). Eine "Auswahl" nach Kriterien erfolge grundsätzlich nicht und sei in der Praxis auch nicht erforderlich, da immer nur bei einem relativ geringen Anteil der Geduldeten gleichzeitig alle tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen für eine Abschiebung vorlägen. Speziell beim Herkunftsland Gambia bestehe aber die Besonderheit, dass hier in den letzten Jahren weitaus mehr rückführbare Personen (mit gültigen Reisedokumenten) vorhanden waren, als Rückführungsflüge zur Verfügung standen. Hier sei dann "ausnahmsweise erforderlich und in Abstimmung mit dem zuständigen Ministerium entschieden, aufgrund grundrechtlicher Schutzpflichten vorrangig insbesondere Straftäter abzuschieben".

24 aaa) Eine solche Festlegung durch Abstimmung mit der Rechtsaufsicht, hier dem Ministerium, dürfte dem Erfordernis eines Konzeptes genügen. [...]

25 bbb) Allerdings muss ein solches Konzept auf sachlichen Erwägungen beruhen und ein bestimmtes, der jeweiligen Sachlage angemessenes System erkennen lassen (vgl. oben). Bei der Verwendung  unbestimmter Rechtsbegriffe, mehr aber noch bei der Verwendung rechts-soziologischer Begriffe, muss sichergestellt sein, dass das Vollstreckungskonzept dann zu einem sachgerechten und damit willkür-freien Ergebnis führt. Daran hat es vorliegend gefehlt.

26 aaaa) Nach Ansicht der Antragsgegnerin unterfällt der Antragsteller ihrem Vollstreckungskonzept, weil er ein "Straftäter" ist (nicht war). Nach ihrem Vortrag im Verfahren, "handelt es sich dabei nach gemeinsamem Verständnis um Personen, gegen die eine strafrechtliche Verurteilung vorliegt, die noch nicht im Bundeszentralregister getilgt ist". Der "Erlass" einer Bewährungsstrafe ändere somit nichts. [...]

30 bbbb) Dies ergibt sich im Übrigen auch und gerade aus der von der Antragsgegnerin herangezogenen Begründung. Man habe sich mit dem Ministerium auf das Konzept, vorrangig "Straftäter" abzuschieben wegen "grundrechtlicher Schutzpflichten" verständigt. Wenn dem so wäre, wäre völlig zutreffend erkannt worden, dass die Ausländerbehörde auf dem Gebiet des Ausländerrechts als besondere Polizeibehörde agiert nach den Grundsätzen der Gefahrenabwehr. Ziel ist es, die öffentliche Sicherheit und die öffentliche Ordnung zu gewährleisten durch die Beseitigung von eingetretenen Störungen und durch die Abwendung von drohenden Gefährdungen. Nicht zulässig ist es danach, ausländerrechtliche Maßnahmen allein als Sanktion für vorangegangenes Tun zu verfügen. [...]

31 Daraus folgt, um eine Person vollstreckungsrechtlich als "Straftäter" zu qualifizieren, muss von dieser Person eine (weitere) Gefahr ausgehen. Nur dann handelt die Behörde in Ansehung "grundrechtlicher Schutzpflichten", wie es die Antragsgegnerin ja für sich in Anspruch nimmt. Davon kann hier aber keine Rede sein. Die Antragsgegnerin hat noch nicht einmal das Strafurteil des Landgerichts einbezogen um in Erfahrung zu bringen, was das Landgericht zum Ausspruch einer Bewährungsstrafe veranlasst hat (z.B. "durch Untersuchungshaft nachhaltig beeindruckt"). Jedenfalls ist der Antragsteller in hohem Maße resozialisiert. Er hat selbständig der unteren Ausländerbehörde einen Reisepass vorgelegt, bezieht keine Sozialleistungen, ist nach der Mitteilung seines Ausbildungsbetriebes allseits geschätzt, fleißig und begabt. Den Antragsteller gleichwohl in das Vollstreckungskonzept "Gefährliche first !" einzubeziehen erweist sich als willkürlich.

32 cccc) In diesem Sinne ist jedenfalls auffallend, in wie vielen Presseerklärungen der jüngsten Vergangenheit das zuständige Ministerium darauf verweist, wie viele "Straftäter" in den letzte Monaten abgeschoben werden konnten. [...]