VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 19.03.2024 - 3 A 140/21 - asyl.net: M32395
https://www.asyl.net/rsdb/m32395
Leitsatz:

Eritreische Staatsangehörigkeit wird im Regelfall durch Geburt erworben:

1. Der Umstand, dass eine Person keine eritreische ID-Karte beantragt hat, steht der Annahme der eritreischen Staatsangehörigkeit nicht entgegen. Die Ausgabe einer eritreischen ID-Karte ist für den Erwerb der eritreischen Staatsangehörigkeit nicht konstitutiv, denn diese wird durch Geburt vermittelt.

2. Wurden die Eltern einer Person schon vor der Unabhängigkeit Eritreas auf dem Gebiet Eritreas geboren, ist von deren eritreischer Abstammung auszugehen, sodass auch deren Kind gemäß Art. 2 des eritreischen Staatsangehörigkeitsgesetzes die eritreische Staatsangehörigkeit durch Geburt erhält.

3. Der Rechtsauffassung, wonach in solchen Konstellationen die Staatsangehörigkeit Äthiopiens fortbestanden hätte, weil der äthiopische Staat die entsprechenden Personengruppen weiterhin als äthiopische Staatsangehörige behandelt habe, ist abzulehnen. Denn die faktische Handhabung durch die äthiopischen Behörden stand im Widerspruch zum damaligen äthiopischen Recht und ist deshalb für ein deutsches Gericht im Rahmen der Prüfung der Staatsangehörigkeit nicht bindend.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: VG Münster, Urteil vom 30.11.2020 - 9 K 2206/17.A - asyl.net: M31054; VG Hannover, Urteil vom 23.01.2018 - 3 A 6312/16 - Ni-Voris)

Schlagwörter: Eritrea, Äthiopien, Staatsangehörigkeit, Rücknahme, Flüchtlingseigenschaft, Erwerb der Staatsangehörigkeit, Verlust der Staatsangehörigkeit, Eltern, Unabhängigkeit, ius sanguinis
Normen: AsylG § 73, AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

Selbst wenn man entgegen den obigen Ausführungen zu Gunsten der Beklagten annehmen wollte, die Staatsangehörigkeit der Kläger sei für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft maßgeblich gewesen, teilt das Gericht nicht die Einschätzung der Beklagten, die Kläger hätten die äthiopische, nicht die eritreische Staatsangehörigkeit. [...]

Denn das Gericht nimmt Bezug auf seine Ausführungen im Urteil vom 16.02.2022 - 3 A 363/18 -, bestätigt durch Nds. OVG, Beschluss vom 26.05.2023 - 4 LA 30/22 -, die sich auf diesen Fall vollständig mit der Folge übertragen lassen, dass die Klägerin die eritreische Staatsangehörigkeit innehat. Darin heißt es:

Das VG Hannover (Urteil vom 23. Januar 2018 – 3 A 6312/16 –, Rn. 25 - 58, juris m. w. N.) hat zum Status als eritreischer Staatsangehöriger ausgeführt [...]:

"Die Frage, welche Staatsangehörigkeit eine Person innehat, bestimmt sich nach dem Staatsangehörigkeitsrecht des in Frage kommenden Staates, denn Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit werden grundsätzlich durch innerstaatliche Rechtsvorschriften geregelt (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 21. Januar 2003 - A 9 S 397/00 -, juris, Rn. 24). [...]

Die Anwendung dieser Rechtsnormen ergibt, dass der Kläger eritreischer Staatsangehöriger ist. Bei seiner Geburt besaß der Kläger die äthiopische Staatsangehörigkeit. Im Zeitpunkt der Geburt [...] gab es den Staat Eritrea noch nicht, sodass sowohl seine im damaligen Äthiopien geborenen Eltern als auch er selbst äthiopische Staatsangehörige waren.

Der Kläger hat jedoch [...] durch die Unabhängigkeit Eritreas und dessen völkerrechtliche Anerkennung als souveräner Staat als Mitglied des Staatsvolkes Eritreas nach Maßgabe des eritreischen Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1992 die eritreische Staatsangehörigkeit erworben und zugleich unter Heranziehung des äthiopischen Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1930 die äthiopische Staatsangehörigkeit verloren. Art. 2 StAG Eritrea 1992 regelt die Staatsangehörigkeit durch Geburt, also nach dem Abstammungsprinzip. Nach Art. 2 Abs. 1 StAG Eritrea 1992 ist jede Person eritreische Staatsangehörige durch Geburt, deren Vater oder Mutter eritreischer Herkunft ist. Auf den Geburtsort kommt es nicht an [...]. Dies legt nahe, dass die Staatsangehörigkeit Eritreas kraft Gesetzes erworben wird, denn "ist" beschreibt einen Zustand, der hier in der Staatsangehörigkeit besteht, und nicht ein Anrecht auf den Erwerb dieser Staatsangehörigkeit. Dies bestätigt Art. 2 Abs. 4 StAG Eritrea 1992, der anordnet, dass jede Person, die Eritreer durch Geburt oder Herkunft ist, auf Antrag eine Bescheinigung über ihre Nationalität erhält [...]. Auch dieser Wortlaut zeigt, dass im Zeitpunkt der Antragstellung nach Art. 2 Abs. 4 StAG 1992 die Staatsangehörigkeit schon kraft Gesetzes vorliegt, denn eine Bescheinigung ("certificate") ist der Begriffsbedeutung nach der Nachweis für einen (rechtlichen) Zustand und nicht die Veränderung eines solchen. [...]

Eritreischer Herkunft ist nach Art. 2 Abs. 2 StAG Eritrea 1992, wer 1933 in Eritrea, genauer gesagt: auf dem Territorium des heutigen Eritreas, gelebt hat [...]. Damit wären nach dem Wortlaut zwar auch bei Zugrundelegung des Vortrages des Klägers [...] seine Eltern nicht eritreischer Herkunft, denn es ist - auch wenn ihr genaues Alter nicht bekannt ist - davon auszugehen, dass die Eltern 1933 jedenfalls noch nicht geboren waren. Allenfalls könnten die Groß- oder Urgroßeltern der Klägerin [...] 1933 auf dem heutigen Staatsgebiet Eritreas gelebt haben, sodass man bei diesen von eritreischer Herkunft im Sinne des Art. 2 Abs. 2 StAG Eritrea 1992 ausgehen könnte. Deren Kinder - die Großeltern oder Eltern des Klägers - wären dann aber im Zeitpunkt der Entstehung Eritreas als Staat aufgrund des in Art. 2 Abs. 1 StAG Eritrea 1992 geregelten Abstammungsprinzips Eritreer geworden. Für die Kinder von gebürtigen Eritreern i.S.v. Art. 2 Abs. 1 StAG Eritrea 1992 enthält das Staatsangehörigkeitsgesetz hingegen keine Regelung. [...] Art. 2 Abs. 1 StAG Eritrea 1992 kann daher nur so zu verstehen sein, dass nicht nur die Kinder von "Herkunftseritreern", sondern auch diejenigen von "Abstammungseritreern" durch Geburt eritreische Staatsangehörige sind. [...]

Diese Rechtslage verkennt das Bundesamt, wenn es meint, dass der Kläger die eritreische Staatsangehörigkeit schon deshalb nicht innehaben könne, weil […der Kläger schon gar keine solche ID-Karte beantragt habe…]. […Die…] Ausgabe einer solchen ID-Karte […ist…] nach dem zuvor Gesagten nicht konstitutiv für den Erwerb der eritreischen Staatsangehörigkeit […], weil die Staatsangehörigkeit im Regelfall des Art. 2 Abs. 1, 4 StAG Eritrea 1992 nicht auf Antrag verliehen, sondern durch Geburt vermittelt wird [...].

Nach Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 21.11.2001 an den VGH Mannheim hat das zuständige "Department for Immigration and Nationality" Eritreas auf mündliche Nachfrage erklärt, dass im Ausland lebende Eritreer, die eine fremde Staatsangehörigkeit innehaben, keinen förmlichen Antrag im Sinne von Art. 2 Abs. 5 StAG Eritrea 1992 stellen müssen, um als eritreische Staatsangehörige anerkannt zu werden. Faktisch würde jeder im Ausland lebende Eritreer, auch wenn er eine fremde Staatsangehörigkeit besitzt, als eritreischer Staatsangehöriger anerkannt, wenn er seine Abstammung nachweisen kann. Es wurde ausdrücklich bestätigt, dass dies auch für Eritreer gelte, die vorher in Äthiopien lebten und möglicherweise die äthiopische Staatsangehörigkeit besitzen oder besaßen. [...]

Die gleiche Auskunft erhielt das VG Stuttgart vom Auswärtigen Amt am 01.03.2001. Auch hiernach wird eine in Äthiopien geborene Person unter der Voraussetzung, dass sie von eritreischen Eltern abstammt, von den eritreischen Behörden als eritreischer Staatsangehöriger behandelt. Die SFH befragte hierzu mehrere Experten, die im Falle eines 1990 im Sudan geborenen eritreisch-stämmigen Äthiopiers ebenfalls einhellig davon ausgingen, dass ihm mit der Souveränität Eritreas auch die Staatsangehörigkeit zufiel (SFH, Auskunft der SFH-Länderanalyse, Eritrea: Staatsangehörigkeit, m.w.N.).

Diese Verwaltungspraxis der eritreischen Behörden ist beachtlich, da - wie gezeigt - die Nichtanwendung von Art. 2 Abs. 5 StAG 1992 in derartigen Fällen nicht nur eine vertretbare, sondern auch aus verfassungsrechtlicher und systematischer Sicht die vorzugswürdige Auslegung darstellt [...].

Der Kläger [...] unterfällt nach diesen Maßgaben dem Art. 2 Abs. 1, 4 StAG Eritrea 1992 und ist deshalb eritreischer Staatsangehöriger.

Das erkennende Gericht geht [...] im vorliegenden Fall davon aus, dass die Eltern des Klägers gebürtige Eritreer sind. [...]. Für beide Elternteile ist deshalb von einer eritreischen Abstammung auszugehen. [...]

Abzulehnen ist insoweit die Auffassung, dass in solchen Konstellationen die äthiopische Staatsangehörigkeit fortbestanden habe. Diese Auffassung stellt allein darauf ab, dass für die äthiopischen Behörden seinerzeit Fragen von Bedeutung gewesen seien, wie die, ob die betreffende Person am eritreischen Unabhängigkeitsreferendum vom 24. Mai 1993 teilgenommen, Geldzahlungen an den eritreischen Staat erbracht oder diesen sonst unterstützt hatte. Im Übrigen seien nach dem Unabhängigkeitsreferendum in Äthiopien residierende Personen eritreischer Abstammung durch den äthiopischen Staat weiterhin als äthiopischen Staatsangehörige behandelt worden, einschließlich der Personen, die Inhaber eritreischer ID-Karten und damit Doppelstaatler wurden, sodass von einem Verlust der Staatsangehörigkeit nicht auszugehen sei [...].

Diese damalige faktische Handhabung durch die äthiopischen Behörden stand aber im Widerspruch zum damals geltenden StAG Äthiopien 1930 bzw. dem Wortlaut von dessen Art. 11 lit. a). Eine in evidentem Widerspruch zu der eigenen Rechtslage stehende Rechtspraxis ist jedoch für das Gericht als deutsches staatliches Gericht im Rahmen der Prüfung der Staatsangehörigkeit gerade nicht verbindlich [...]

Entgegen der Auffassung des Bundesamtes hat der Kläger [...] die äthiopische Staatsangehörigkeit auch nicht mit der Konsequenz zurückerlangt, dass er als Person mit doppelter Staatsangehörigkeit zu behandeln ist. [...]"

An dieser Rechtsprechung hält der erkennende Einzelrichter fest. [...]