VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 03.04.2024 - 3 A 135/21 - asyl.net: M32394
https://www.asyl.net/rsdb/m32394
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen Zwangsehe und Menschenhandel für Frau aus Sambia:

1. Die der Klägerin aufgrund der Entziehung von Zwangsehe und Menschenhandel drohende Verfolgung trifft sie gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG als Angehörige der sozialen Gruppe der Frauen in Sambia.

2. Der sambische Staat ist nicht willens und nicht in der Lage, auch nur ansatzweise effektiv gegen derartige soziale Missstände vorzugehen, sodass die nichtstaatlichen Akteure Verfolgungsakteur im Sinne von § 3 c Nr. 3 AsylG sind.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: EuGH, Urteil vom 16.01.2024 - C-621/21 - WS gegen Bulgarien - asyl.net: M3211; siehe auch: VG Ansbach, Urteil vom 06.09.2022 - AN 4 K 20.30014 - milo.bamf.de)

Schlagwörter: Sambia, Frauen, Zwangsehe, Genitalverstümmelung, soziale Gruppe, EuGH, Menschenhandel, Zwangsprostitution, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzbereitschaft, geschlechtsspezifische Verfolgung,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 6, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3c Nr. 3, AsylG § 3d Abs. 1 Nr. 1
Auszüge:

[...]

Anders als das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im angefochtenen Bescheid hält der Einzelrichter das Vorliegen einer sozialen Gruppe im Sinne der vorgenannten Vorschriften in der Form für gegeben, als die Klägerin in Sambia seit ihrem 12. Lebensjahr bis zu ihrer Ausreise von Zwangsverheiratung bedroht gewesen ist und sich seitdem bis zu ihrer Ausreise entfernt von ihrer Großfamilie und als zudem alleinerziehende Mutter eines unehelichen Kindes, welches sie im ..., also mit sechzehneinhalb Jahren bekommen hatte, stigmatisiert durch die umgebende Gesellschaft durch den Verkauf von Früchten und die Hilfe der Eltern einer Freundin über Wasser halten musste. So zweifelt bereits das Bundesamt das vollumfänglich nachvollziehbare Vorbringen der Klägerin zu ihrem Schicksal in Sambia im angefochtenen Bescheid nicht an. Auch das von der Klägerin in ihren Anhörungen ausführlich geschilderte weitere Geschehen, welches sie zum Opfer von Menschenhandel verbunden mit sexueller Ausbeutung in Gestalt von Zwang zu sexuellen Handlungen gegen ihren Willen bzw. durch medikamentöse Ausschaltung ihres Willens gemacht hat, hält bereits das Bundesamt – wie der Einzelrichter – für glaubhaft dargelegt.

Die Klägerin war – entgegen der Auffassung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge im angefochtenen Bescheid, der vor der klarstellenden, im Folgenden ausführlich dargestellten Entscheidung des EuGH ergangen ist, mithin Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a Abs. 2 Nr. 1 und 6 AsylG ausgesetzt. Diese Verfolgung knüpft an ein asylerhebliches Merkmal an, so dass der Anwendungsbereich des §§ 3 Abs. 1, 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG eröffnet ist. Entziehung von Zwangsehe und Menschenhandel treffen die Klägerin als Angehörige einer sozialen Gruppe im Sinne der genannten Vorschriften. Das Gericht folgt der aktuellen Rechtsprechung des EuGH, der in seinem Urteil vom 16.01.2024 –C 621/21 -, zitiert nach juris ausgeführt hat: [...]

" [...] Folglich können Frauen insgesamt als einer "bestimmten sozialen Gruppe" im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 zugehörig angesehen werden, wenn feststeht, dass sie in ihrem Herkunftsland aufgrund ihres Geschlechts physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt und häuslicher Gewalt, ausgesetzt sind. […]

Nach alledem ist auf die vierte Frage zu antworten, dass Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass es, wenn eine antragstellende Person angibt, in ihrem Herkunftsland Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure zu befürchten, nicht erforderlich ist, eine Verknüpfung zwischen einem der in Art. 10 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Verfolgungsgründe und solchen Verfolgungshandlungen festzustellen, wenn eine solche Verknüpfung zwischen einem dieser Verfolgungsgründe und dem Fehlen von Schutz vor diesen Handlungen durch die in Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Akteure, die Schutz bieten können, festgestellt werden kann."

Als Frau, die sich einer Zwangsehe entzogen hat und stigmatisiert von der sambischen Mehrheitsgesellschaft in die Hände von Menschenhändlern gelangt ist, und einem Land wie Sambia, in dem gegen Zwangsehen und die als "traditionell" angesehene Ausgrenzung nicht vorgegangen wird (vgl. z. B. Briefing Notes, BAMF vom 11.03.2024, S. 5: Versagen der Regierung von Sambia wird ein Versagen beim Schutz der Menschenrechte von Frauen im informellen und grenzüberschreitenden Arbeitsmarkt), ist die Klägerin als Angehörige einer bestimmten sozialen Gruppe anzusehen. Der sambische Staat ist, wie nachfolgend zu zeigen ist, nicht willens und nicht zuletzt wegen fehlender Ressourcen nicht in der Lage, auch nur ansatzweise effektiv gegen derartige familienbezogene soziale Missstände vorzugehen, so dass auch ein Verfolgungsakteur im Sinne von § 3 c Nr. 3 AsylG gegeben ist. [...]

Anhaltspunkte dafür, dass davon betroffene Mädchen und Frauen effektive Hilfe vom Staat oder von ihm unterstützten Organisationen erlangen könnten, wenn sie – wie die Klägerin – nach abgebrochenen Schulbesuch und ohne hinreichende Kenntnis ihrer theoretisch bestehenden Rechte von Zwangsverheiratung bedroht sind, sind nicht ersichtlich. [...]

Insgesamt besteht in Sambia eine weitreichende gesellschaftliche Akzeptanz der Zwangsehe. Der Staat bietet jedenfalls im Einzelfall der Klägerin nicht den von § 3c Nr. 3 AsylG vorausgesetzten effektiven und umfassenden Schutz dagegen.

Auf internen Schutz im Sinne von § 3e AsylG kann die Klägerin nicht verwiesen werden. Sie ist in ihrer Heimat ohne familiäre Unterstützung nicht ansatzweise in der Lage, sich ihr wirtschaftliches Existenzminimum zu sichern. [...]

Nach dem Vorstehenden kann die Frage dahinstehen, ob die nunmehr ...-jährige Klägerin bei einer Rückkehr nach Sambia weiterhin von FGM bedroht wäre, wovon angesichts der nach ihrer Schilderung in ihrer Familie herrschenden Tradition auszugehen sein dürfte, demgegenüber steht jedoch die vorstehend dargelegte Notwendigkeit für die Klägerin bei einer Rückkehr gerade dorthin nicht zu gehen, sodass insoweit ein sozialer Druck zur Durchführung von FGM jedenfalls nicht beachtlich wahrscheinlich ist. [...]

Damit liegen für die über Frankreich nach Deutschland gekommene Klägerin die Voraussetzungen vor, die Beklagte zu verpflichten, ihr die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. In diesem Zusammenhang sind sämtliche dem entgegenstehenden Regelungen im angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge aufzuheben. [...]