LG Kassel

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Zitieren als:
LG Kassel, Beschluss vom 19.04.2024 - 3 T 80/23 - asyl.net: M32385
https://www.asyl.net/rsdb/m32385
Leitsatz:

Rückflugtickets zur Widerlegung der Vermutung der Fluchtgefahr

1. Das Haftgericht muss bei Vorlage eines Rückflugtickets prüfen, ob Haftgrund der Fluchtgefahr entfallen ist.

2. Was die betroffene Person nach ihrer Ausreise oder Abschiebung beabsichtigt, spielt keine Rolle. Um die Ausreisepflicht zu erfüllen, bedarf es nicht des Willens, dauerhaft im Zielstaat zu verbleiben.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Einreise- und Aufenthaltsverbot, freiwillige Ausreise, Haftgründe, Haftgrund,
Normen: AufenthG § 62 Abs. 1; AufenthG § 62 Abs. 3 Nr. 1; FamFG § 26
Auszüge:

[...]

cc) Es fehlt vorliegend jedoch an einem Haftgrund. [...]

Grundsätzlich ist das Regierungspräsidium zunächst zu Recht vom Haftgrund der Fluchtgefahr ausgegangen. [...] Der Beschwerdeführer hat folglich mehrfach gegen das gegen ihn verhängte Einreise- und Aufenthaltsverbot verstoßen, so dass die Fluchtgefahr aus diesem Grund ursprünglich vermutet werden konnte.

Darüber hinaus konnte die Fluchtgefahr zunächst auch vermutet werden, weil sich der Beschwerdeführer bereits in der Vergangenheit einmal der Abschiebung entzogen hat. [...]

Der Beschwerdeführer hat jedoch im Rahmen der Anhörung vor dem Amtsrichter dargelegt, dass gerade in seinem Fall die Gefahr eines Entziehens von der Abschiebung nicht besteht und hat damit die Vermutungstatbestände widerlegt. Nach der Gesetzesbegründung soll durch die Möglichkeit der Widerlegung der Vermutungstatbestände eine Einzelfallentscheidung unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände gewährleistet werden, die durch § 62 Abs. 1 S. 1 AufenthG festgeschrieben ist (BT-Drs. 19/10047, 41). Somit kann auch dann, wenn einer der Vermutungsfälle vorliegt, Sicherungshaft nicht automatisch angeordnet werden, sondern das Gericht muss sich mit dem Vorbringen des Betroffenen auseinandersetzen und erforderlichenfalls weitere Ermittlungen i.S.d. § 26 FamFG anstellen (vgl. NK-AuslR/Keßler, 3. Aufl. 2023, AufenthG § 62 Rn. 26). Dabei kann der Ausländer gerade durch die Vorlage eines Flugtickets glaubhaft machen, dass er sich der Abschiebung nicht entziehen will (vgl. Bergmann/Dienelt/Winkelmann/Broscheit, 14. Aufl. 2022, AufenthG § 62, 62.2.0.1 ).

So liegt der Fall hier. Der Beschwerdeführer hat im Rahmen der Anhörung vor dem Amtsrichter ausgeführt, er habe für den ... 2023 ein Flugticket zurück nach Bulgarien gebucht und habe dort am ... 2023 einen Termin bei der Botschaft in Sofia. Das Ticket sei jedoch zu Hause.

Diesen Angaben hätte das Amtsgericht nachgehen müssen, da der eigenständige Rückflug ein milderes Mittel darstellte. Es hätte demnach keine Entscheidung in der Hauptsache treffen dürfen, sondern - wenn das Ticket nicht bereits im Anhörungstermin hätte herbeigeschafft werden können - zunächst eine vorläufige Freiheitsentziehung anordnen müssen.

Der Beschwerdeführer konnte letztlich noch am selben Tag der Anhörung mit seiner Beschwerdeschrift das gebuchte Ticket, sowie die Terminsbestätigung der Botschaft in Sofia vorlegen und seine Angaben damit glaubhaft machen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war der Haftgrund der Fluchtgefahr widerlegt und die Haft zur Sicherung der Abschiebung unverhältnismäßig. Dafür, dass der Beschwerdeführer seinen selbst gebuchten Flug nicht wahrnehmen und in Deutschland verbleiben würde, sind keine Anhaltspunkte ersichtlich. Vielmehr war ihm daran gelegen, in Sofia den Termin wahrzunehmen, so dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen war, dass er den Flug und damit die Ausreise aus dem Bundesgebiet wahrnehmen würde, zumal beides bereits vor der Inhaftierung gebucht worden war.
Schließlich war der Beschwerdeführer auch in Bulgarien als Flüchtling anerkannt und hatte einen Einreiseanspruch. [...]

Was der Ausländer nach seiner Ausreise oder Abschiebung beabsichtigt, spielt keine Rolle. Um die Ausreisepflicht zu erfüllen, bedarf es gerade nicht den Willen, dauerhaft in dem Zielstaat zu verbleiben. [...]

Dass der Ausländer im Zielstaat dauerhaft verbleibt, wird auch bei einer Abschiebung nicht kontrolliert. Auch dort ist der Ausländer nach Passieren der Grenzübergangsstelle "auf sich gestellt" und kann sich frei bewegen. Dass eine Abschiebung auch nicht geeignet ist, die unerlaubte Wiedereinreise in die Bundesrepublik zu verhindern, zeigt sich bereits darin, dass der Beschwerdeführer schon zweimal abgeschoben wurde und in der Folgezeit beide Male wieder nach Deutschland eingereist ist. Da eine Abschiebung daher vorliegend keinerlei "Mehrwert" zu der eigenständigen Ausreise des Beschwerdeführers am 27.02.2023 hatte, hätte die Abschiebung und die zu deren Sicherung angeordnete Haft nicht erfolgen dürfen. [...]