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OVG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 21.01.2022 - 2 M 162/21 - asyl.net: M32370
https://www.asyl.net/rsdb/m32370
Leitsatz:

Vorsprache zur Reisefähigkeitsprüfung bei der Ausländerbehörde im Einzelfall unzumutbar:

1. Die Anordnung des persönlichen Erscheinens in der Ausländerbehörde zur ärztlichen Untersuchung der Reisefähigkeit gemäß § 82 Abs. 4 S. 1 AufenthG muss verhältnismäßig, das heißt geeignet, erforderlich und angemessen sein. Ist dies zu bejahen, hat die Ausländerbehörde darüber hinaus das ihr eingeräumte Ermessen auszuüben und dabei insbesondere Fragen der Zumutbarkeit zu berücksichtigen.

2. Selbst wenn eine nochmalige ärztliche Untersuchung der betroffenen Person erforderlich sein sollte, um ihre Reisefähigkeit zu prüfen, kann die Anordnung, die Untersuchung in den Räumen der Ausländerbehörde durchführen zu lassen, nicht oder weniger geeignet sein, als etwa die Anordnung, die Untersuchung in den Räumen eines Facharztes durchführen zu lassen. Die Vorschrift des § 82 Abs. 4 S. 1 AufenthG verlangt insbesondere nicht, dass die angeordnete Untersuchung in der Ausländerbehörde stattzufinden hat.

3. Im vorliegenden Fall ist die Anordnung der ärztlichen Untersuchung in den Räumlichkeiten der Ausländerbehörde unzumutbar, weil eine vorherige ärztliche Untersuchung dort zu einer psychischen Krise geführt hat.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: psychische Erkrankung, Reisefähigkeit, Sachverständigengutachten, ärztliche Begutachtung, Reisefähigkeit, Anordnung der Vorsprache, Reisefähigkeitsprüfung
Normen: AufenthG § 82 Abs. 4 S. 1, AufenthG § 60a Abs. 2c,
Auszüge:

[...]

Rechtlicher Anknüpfungspunkt für die streitige Anordnung ist § 82 Abs. 4 Satz 1 AufenthG. Danach kann, soweit es zur Vorbereitung und Durchführung von Maßnahmen nach diesem Gesetz und nach ausländerrechtlichen Bestimmungen in anderen Gesetzen erforderlich ist, angeordnet werden, dass ein Ausländer bei der zuständigen Behörde sowie den Vertretungen oder ermächtigten Bediensteten des Staates, dessen Staatsangehörigkeit er vermutlich besitzt, persönlich erscheint sowie eine ärztliche Untersuchung zur Feststellung der Reisefähigkeit durchgeführt wird. [...] Die Ausländerbehörde hat vor Anordnung des persönlichen Erscheinens stets sorgfältig zu prüfen, ob dies zur Vorbereitung oder Durchführung von Maßnahmen nach ausländerrechtlichen Regelungen verhältnismäßig, das heißt geeignet, erforderlich und angemessen ist. Ist dies zu bejahen, hat die Ausländerbehörde darüber hinaus das ihr eingeräumte Ermessen auszuüben und dabei insbesondere Fragen der Zumutbarkeit zu berücksichtigen [...].

Gemessen daran erweist sich die angefochtene Anordnung als voraussichtlich rechtswidrig. Der Senat teilt letztlich die Auffassung der Vorinstanz, dass die angeordnete ärztliche Untersuchung in den Räumlichkeiten der Ausländerbehörde des Antragsgegners zur Feststellung der Reisefähigkeit der Antragstellerin nicht erforderlich und der Antragstellerin aufgrund ihrer Erkrankung nicht zumutbar sein dürfte. Es spricht Überwiegendes dafür, dass für diese Feststellung ein milderes, die Antragstellerin weniger belastendes Mittel zur Verfügung steht.

Dem Antragsgegner mag darin beizupflichten sein, dass die Reisefähigkeit der Antragstellerin im Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Anordnung offen war, weil die beiden vom Antragsgegner im Anschluss an den Beschluss des Senats vom 15. Juni 2021 im Verfahren 2 M 43/21 eingeholten fachärztlichen Gutachten des Diplompsychologen und Facharztes ... u.a. für Psychiatrie vom ... 2021 und der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie ... vom ... 2021 hinsichtlich der Reisefähigkeit der Antragstellerin zu gegenteiligen Einschätzungen gelangt sind. Auch mag das Gutachten der Fachärztin ... an Mängeln leiden, die ihre Eignung als qualifizierte ärztliche Bescheinigung im Sinne von § 60a Abs. 2c AufenthG in Frage stellen. Zu Recht verweist der Antragsgegner ferner darauf, dass Atteste von Psychotherapeuten oder Psychologen gemäß § 60a Abs. 2c AufenthG bei der Beurteilung der Reisefähigkeit grundsätzlich nicht genügen, sondern allenfalls im Wege einer Gesamtschau ergänzend zu anderen Erkenntnissen, die nicht die Anforderungen an eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung im Sinne des § 60a Abs. 2c Satz 2 AufenthG erfüllen, zu anderweitigen tatsächlichen Anhaltspunkten für eine Erkrankung im Sinne des § 60a Abs. 2d Satz 2 AufenthG beitragen können [...]. Auch ist zweifelhaft, ob das von der Antragstellerin vorgelegte Gutachten vom ... 2021 ein ärztliches Gutachten darstellt. Es enthält zwar auch die Unterschriftsleiste des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie ..., dort findet sich aber nur die Unterschrift des Diplom-Psychologen ... mit dem Zusatz "i.V.". [...]. Die Unterzeichnung eines Gutachtens durch eine Person als Vertreter eines Arztes bedeutet, dass diese Person - aufgrund der ihm übertragenen Vertretungsbefugnis - selbst die Verantwortung für das Gutachten übernimmt; anders als bei einer Unterzeichnung mit dem Zusatz "im Auftrag", bei welchem der Unterzeichner erkennbar zum Ausdruck bringt, gemäß einer Weisung zu handeln, gibt der Vertreter eine eigene Erklärung ab und übernimmt für den Inhalt der Erklärung entsprechende Verantwortung [...]. Im Übrigen dürfte sich aus dem Gutachten selbst ergeben, dass die Untersuchung der Antragstellerin nur von einer Person durchgeführt wurde. An mehreren Stellen des Gutachtens (Seiten 6, 26 und 27) ist lediglich von "dem Gutachter" die Rede, so dass nicht ersichtlich ist, inwieweit der Facharzt ... überhaupt an der Erarbeitung des Gutachtens beteiligt war.

Aber auch wenn danach eine nochmalige Untersuchung der Antragstellerin erforderlich sein sollte, um die Reisefähigkeit der Antragstellerin festzustellen (die chronifizierte paranoide Schizophrenie wurde in allen bereits vorliegenden Gutachten diagnostiziert), spricht Vieles dafür, dass die Anordnung, die Untersuchung in den Räumen der Ausländerbehörde durchführen zu lassen, für diesen Zweck nicht oder weniger geeignet ist als etwa eine Anordnung, die Untersuchung in den Räumen eines Facharztes durchführen zu lassen; zudem bestehen erhebliche Zweifel daran, dass eine Untersuchung in dieser Form der Antragstellerin (erneut) zuzumuten ist. Die Vorschrift des § 82 Abs. 4 Satz 1 AufenthG verlangt nicht, dass die angeordnete Untersuchung in der Ausländerbehörde stattzufinden hat. [...] Gegen eine Untersuchung in den Räumen der Ausländerbehörde spricht der Verlauf der Begutachtung durch den Facharzt ... im zweiten Termin am ... 2021 in den Räumen der Ausländerbehörde. [...]

Demgegenüber verliefen die Untersuchungen bei der Fachärztin und im ohne Zwischenfälle dieser Art. Es spricht daher Vieles dafür, dass eine Begutachtung der Antragstellerin, die eine belastbare Aussage über ihre Reisefähigkeit erbringen und die Antragstellerin nicht mehr als nötig belasten soll, voraussichtlich mit Erfolg nur in einer Facharztpraxis durchgeführt werden kann. Es bleibt dem Antragsgegner unbenommen, eine solche ärztliche Untersuchung anzuordnen. [...]