VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 21.03.2024 - A 14 K 3836/21 - asyl.net: M32357
https://www.asyl.net/rsdb/m32357
Leitsatz:

Mädchen droht in Sierra-Leone Genitalverstümmelung/-beschneidung:

1. Unbeschnittene Mädchen bzw. minderjährige Frauen werden in Sierra Leone grundsätzlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Opfer weiblicher Genitalverstümmelung/-beschneidung (auch: "Female Genitale Mutilation/Cutting", kurz: "FGM/C").

2. Dies gilt aufgrund der hohen Verbreitung - auch in urbanen Gebieten -, des vorherrschenden sozialen Drucks sowie der gesellschaftlichen Stellung der Beschneiderinnen regelmäßig selbst dann, wenn die Eltern der Betroffenen gegen die Beschneidung sein sollten.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: VG München, Urteil vom 09.05.2022 - M 30 K 21.32746 - asyl.net: M30725)

Schlagwörter: Sierra Leone, Genitalverstümmelung, FGM, FGM/C, Familie, Kind, Mädchen, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Beschneidung
Normen: AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 6, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

34 2. Gemessen an diesen Grundsätzen hat die Klägerin einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen ihr drohender weiblicher Genitalverstümmelung (Female Genital Mutilation/Cutting - FGM/C).

35 a) Die gegen den Willen der Betroffenen durchgeführte weibliche Geneitalverstümmelung ist eine geschlechtsspezifische Verfolgung i.S.d. §§ 3 Abs. 1, 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG, die i.S.d. § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 6 AsylG eine schwerwiegende, der Folter vergleichbare Verletzung der körperlichen Unversehrtheit, des Rechts auf Leben und des Selbstbestimmungsrechts darstellt (vgl. VG München, Urteil vom 21.07.2022 - M 30 K 17.44576 -, Rn. 29, juris). Die in Sierra Leone durchgeführte Form der FGM erfüllt die Anforderungen nach § 3a AsylG: FGM wird - entsprechend der Klassifizierung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) - in 89% der Fälle nach Typ II (sog. Exzision: vollständige Entfernung des äußerlich sichtbaren Teils der Klitoris und der inneren Schamlippen mit oder ohne Beschneidung der äußeren Labien) und in 9 % der Fälle nach Typ III (sog. Infibulation: Herausschneiden des gesamten äußerlich sichtbaren Genitals und Zunähen der offenen Wunde bis auf ein kleines Loch, durch das Menstruationsblut und Urin abfließen sollen) vorgenommen [...].

36 b) Die in Sierra Leone durchgeführten weiblichen Genitalverstümmelungen gehen auch von einem nichtstaatlichen Akteur i.S.d. § 3c Nr. 3 AsylG aus, da die Staatsmacht Sierra Leones weder Willens noch in der Lage ist, Schutz vor Verfolgung zu bieten.

37 In Sierra Leone gibt es kein gesetzliches Verbot der weiblichen Zwangsbeschneidung und Genitalverstümmelung. FGM ist in Sierra Leone weder in der Verfassung noch durch einfaches Gesetz unmittelbar verboten [...].

40 c) Anderweitige Akteure i.S.d. § 3d AsylG, die Schutz vor Verfolgung bieten würden, sind auf Grundlage der der Entscheidung zugrundeliegenden Erkenntnismittel nicht erkennbar. Zwar gibt es auch in Sierra Leone Nichtregierungsorganisationen, die sich gegen FGM aussprechen und entsprechend engagieren. Ihr Einfluss und die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel reichen zur Überzeugung des Gerichts jedoch nicht aus, wirksamen und nicht nur vorübergehenden Schutz vor FGM zu bieten oder gar (dauerhafte) Zufluchtsorte zu schaffen. [...]

41 d) Es ist auch beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerin im Fall einer Abschiebung nach Sierra Leone Opfer von FGM wird.

42 aa) FGM wird mit Ausnahme der Krio, welche FGM gänzlich ablehnen, von allen ethnischen Gruppen Sierra Leones, insbesondere den Gruppen der Mende und der Temne, praktiziert [...]. In Sierra Leone sind – in absoluter Hinsicht – aktuell fast neun von zehn Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren beschnitten [...]. Andere Quellen gehen von einer Prävalenz von 86 % aller Mädchen und Frauen aus [...].

43 Zwar haben Eltern einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Anwendungswahrscheinlichkeit von FGM. Aus den Erkenntnismitteln geht aber hervor, dass diese nicht die alleinige Entscheidungsgewalt hierüber besitzen. Sowohl die Großfamilie als auch das soziale oder traditionelle Umfeld üben ihren Einfluss aus [...]. Dabei können auch Parlamentarier oder Chiefs die Übernahme von Verantwortung für sich beanspruchen und entscheiden, dass Mädchen beschnitten werden [...]. Soweit das Auswärtige Amt in seiner Stellungnahme [...] ohne nähere Begründung ausführt, dass FGM gegen den Willen der Eltern minderjähriger Frauen äußerst selten sei, steht dem die Einschätzung von TERRE DES FEMMES (a.a.O., Nr. 3.7) entgegen. [...]

44 bb) Im Rahmen einer Gesamtwürdigung der vorgetragenen Umstände steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass unbeschnittene Mädchen bzw. minderjährige Frauen - wie vorliegend die Klägerin - in Sierra Leone grundsätzlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Opfer von FGM werden. Dies gilt aufgrund der besonders hohen Prävalenz – auch in den urbanen Gebieten –, dem vorherrschenden sozialen Druck sowie der gesellschaftlichen Stellung der Soweis und deren finanziellen Motivations- wie Interessenlage, es sei denn, es liegen besondere Umstände vor, die dazu führen würden – ausnahmsweise – die dargelegte beachtliche Wahrscheinlichkeit zu verneinen [...]. Solche besonderen Umstände sind vorliegend nicht ersichtlich. Die beachtliche Wahrscheinlichkeit entfällt - anders als vom Bundesamt angenommen - nicht aufgrund des Alters der Klägerin und des Alters, in dem FGM in Sierra Leone (als Bestandteil eines traditionellen Übergangsrituals (Initiation) am Übergang vom Mädchen- zum Frausein (vgl. TDF; a.a.O., Nr. 3.1)) typischerweise vorgenommen wird. [...] Nach dieser Betrachtung ist der Klägerin - bzw. ihren Eltern - eine Ausreise nach Sierra Leone aufgrund des - wie ausgeführt - erheblichen Gewichts der drohenden Verfolgungshandlung (FGM Typ II, III) auch vor dem Hintergrund einer nach mathematischen Gesichtspunkten mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erst in einigen Jahren drohender Verfolgungshandlung nicht zumutbar. [...]

45 Etwas Anderes gilt auch nicht aufgrund des Umstands, dass die Klägerin väterlicherseits keine Familie mehr in Sierra Leone hat. [...] Zwar kommt der Kern- und Großfamilie (insbesondere den weiblichen Mitgliedern) bei der Entscheidung eine ganz entscheidende Rolle zu; allerdings gibt es auch familienfremde Akteure (Parlamentarier und Parlamentarierinnen, Chiefs), die die Entscheidung zur Durchführung von FGM - gegen den Willen der Eltern - treffen und die Verantwortung hierfür übernehmen können (TDF, a.a.O., Nr. 3.3, 3.7). Diese Möglichkeit besteht nach den Ausführungen von TERRE DES FEMMES "zweifelsfrei" (a.a.O., Nr. 3.7) und ist nach den Gesamtumständen und der Überzeugung des Einzelrichters auch als beachtlich wahrscheinlich anzusehen [...].

46 Hilfsweise, für den Fall, dass man – dem Bundesamt folgend – aufgrund des vorliegenden Mangels einer Großfamilie mütterlicher- wie väterlicherseits eine beachtliche Wahrscheinlichkeit verneinen wollen würde, liegt im vorliegenden, konkreten Fall dennoch eine beachtliche Beschneidungswahrscheinlichkeit vor, da die Klägerin als besonders vulnerabel ist (vgl. zu einer besonderen Vulnerabilität aufgrund einer Schwerbehinderung des Vaters: VG München, Urteil vom 09.05.2022 - M 30 K 21.32746 -, Rn. 28, juris). Die besondere Vulnerabilität der Klägerin folgt daraus, dass ihr Vater im Fall einer Rückkehr nach Sierra Leone als alleinerziehend zu betrachten ist, da ihre - FGM ebenfalls ablehnende - Mutter (nur) guineische Staatsangehörige ist und daher nicht davon auszugehen ist, dass sie ohne Weiteres nach Sierra Leone einreisen kann. [...]