VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 11.03.2024 - 13 K 7580/22.A - asyl.net: M32343
https://www.asyl.net/rsdb/m32343
Leitsatz:

Flüchtlingseigenschaft wegen politischer Verfolgung für kurdische Person aus der Türkei:

1. Ob ein Kausalzusammenhang zwischen Verfolgung und Flucht besteht, d.h. ob die Flucht unter dem Druck erlittener Verfolgung erfolgt ist, ist bei Prüfung der unionsrechtlich normierten Flüchtlingseigenschaft unerheblich. Welche Folgen ein Verbleib im Herkunftsland nach bereits erlittener oder unmittelbar drohender Verfolgung hat, ist nur hinsichtlich der Frage relevant, ob eine "begründete Furcht vor Verfolgung" gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG besteht und hinsichtlich der Frage, ob die Beweiserleichterung gemäß Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie greift.

2. Jedenfalls seit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 kann in politischen Strafverfahren wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in der PKK, DHKP-C und Gülen-Bewegung nur noch sehr eingeschränkt von der Unabhängigkeit der Justiz ausgegangen werden. Darüber hinaus wurde das Strafrecht gezielt auch zur Bekämpfung politischer Gegner eingesetzt. Das betraf auch und gerade die HDP.

3. Die erlittenen Strafverfolgungsmaßnahmen (Inhaftierung, laufende Strafverfahren) stellen sich vor diesem Hintergrund als Verfolgungshandlungen gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 2, Nr. 3 AsylG dar. Die Klägerin kann sich wegen bereits erlittener Verfolgung auf die Beweiserleichterung gemäß Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie berufen.

4. Dass die Klägerin weder Mitglied in der HDP noc in größerem Umfang für sie aktiv war, steht der Annahme politischer Verfolgung nicht entgegen. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit einer Strafverfolgung bei Personen mit herausgehobener Funktion größer sein dürfte, gehört es zur Taktik der Einschüchterung, dass letztlich jede Person, die sich in der HDP oder sonst für kurdische Belange engagiert, mit Strafverfolgung rechnen muss.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 16.10.2019 - A 12 S 2881/18 - Asylmagazin 1-2/2020, S. 34 - asyl.net: M27775)

Schlagwörter: Türkei, faires Verfahren, politische Verfolgung, Verfolgungshandlung, Vorverfolgung, Strafverfahren, Haft, HDP, DEM-Parti, Kurden,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 2, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 3, RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

Die Klägerin ist vorverfolgt ausgereist und kann sich auf die Vermutungsregelung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie berufen.

Zur Überzeugung des Gerichts steht fest, dass die Klägerin wegen des Vorwurfs der Mitgliedsohaft in einer bewaffneten Terrororganisation gemäß Art. 314 Abs. 2 türkisches StGB mit zahlreichen anderen HDP-Mitgliedem und -Aktivisten am ... 2019 zunächst in Gewahrsam genommen wurde, aufgrund Haftbefehls vom … 2019 sodann in Haft kam und erst nach über einem halben Jahr wieder freigelassen wurde. Dies ergibt sich aus dem diesbezüglichen Vorbringen der Klägerin beim Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung sowie den von der Klägerin vorgelegten Unterlagen. Das Gericht sieht keine Gründe dafür, die Glaubhaftigkeit dieser Angaben und die Echtheit der vorgelegten Unterlagen zu bezweifeln. [...]

Darüber hinaus hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung über ihren E-Devlet-Zugang die Verfahrensübersicht im UYAP-System aufgerufen, wo auch dieses Verfahren erschien und sich dementsprechend Dokumente zu dem Verfahren aufrufen ließen.

Soweit das Bundesamt ferner geltend macht, dass die Ausreise nicht unter dem Druck der Verfolgung erfolgt sei, so kommt es auf die Frage, ob ein Kausalzusammenhang zwischen Verfolgung und Flucht besteht, d.h. ob die Flucht unter dem Druck erlittener Verfolgung erfolgt ist, im Rahmen der Prüfung der unionsrechtlich normierten Flüchtlingseigenschaft nicht an. [...] Welche Folgen ein Verbleib des Ausländers im Heimatland nach dort bereits erlittener oder unmittelbar drohender Verfolgung hat, ist vielmehr eine Frage der "begründeten Furcht vor Verfolgung" im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG bzw. der Frage, ob die Beweiserleichterung gemäß Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie greift. [...]

Gemäß § 3a Abs. 2 AsylG können als Verfolgung i.S.d. § 3a Abs. 1 AsylG unter anderem auch gelten gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden (Nr. 2), ferner unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung (Nr. 3). [...]

Ein solcher Fall hier vor.

Es entspricht der Erkenntnislage, dass (bereits) im Zeitpunkt der Vorverfolgung bei - wie hier - Terrorismusvorwürfen weder mit fairen Strafverfahren gerechnet werden konnte, noch ein hinreichender Schutz vor Folter und Misshandlung bestand. [...]

Jedenfalls seit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 konnte ausweislich des Lageberichtes des Auswärtigen Amtes von … 2019 in politischen Strafverfahren wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in der PKK/DHKP-C und Gülen-Bewegung nur noch sehr eingeschränkt von einer unabhängigen Justiz ausgegangen werden. [...]

Darüber hinaus wurde das Strafrecht gezielt auch zur Bekämpfung politischer Gegner eingesetzt. [...]

Dies betraf auch und gerade die HDP. [...]

Dies zugrunde gelegt, stellt sich auch im Falle der Klägerin die Strafverfolgung als politische Verfolgung dar. Dass die Klägerin weder Mitglied in der HDP noch dort in größerem Umfang aktiv war, steht dem nicht entgegen. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit einer Strafverfolgung bei Personen mit herausgehobener Funktion größer sein dürfte, ist festzuhalten, dass es zur Taktik der Einschüchterung gehört, dass letztlich jeder, der sich für die HDP oder sonst für kurdische Belange engagiert, mit Strafverfolgung rechnen muss. [...] Zudem spricht auch der Umstand, dass die Klägerin zusammen mit zahlreichen HDP-Mitgliedern verhaftet worden ist, für die politische Zielrichtung, ebenso wie der Umstand, dass sie in enger Beziehung zu Personen stand, die ebenfalls im Zusammenhang mit ihrem Engagement für die HDP strafrechtlich verfolgt wurden [...]. Dass die Klägerin letztlich freigesprochen worden ist, führt zu keinem anderen Ergebnis, weil sich bereits die vorangegangenen Strafverfolgungsmaßnahmen als Verfolgung darstellen. Dahinstehen kann daher, ob der Freispruch überhaupt schon rechtskräftig ist; diese Frage ließ sich in der mündlichen Verhandlung nicht eindeutig klären.

Die somit eingreifende Vermutungsregelung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie ist auch nicht entkräftet. Es sprechen keine stichhaltigen Gründe dagegen, dass die Klägerin bei einer Rückkehr in ihre Herkunftsregion erneut von Verfolgung bedroht sein wird. [...]

Auch speziell die Situation der Klägerin bietet keine Anhaltspunkte für die Ausräumung der Verfolgungsvermutung, ungeachtet dessen, dass sie nach der Entlassung aus der Haft noch über ein Jahr in der Türkei war, ohne dass etwas vorgefallen ist. Dies ergibt sich jedenfalls daraus, dass inzwischen erneut Ermittlungsverfahren gegen die Klägerin anhängig sind, bei denen von einem Politmalus auszugehen ist. [...]

Ausgehend von diesen Erkenntnissen ist auch bezüglich des vorliegend in Rede stehenden Strafverfahrens von einer politischen Zielrichtung der Strafverfolgung auszugehen. Das Gericht ist der Überzeugung, dass es dem türkischen Staat bei seiner willkürlichen Anwendung von Straftatbeständen auf regierungskritische Äußerungen in den sozialen Netzwerken in erster Linie darum geht, die Beschuldigten in ihrer politischen Überzeugung zu treffen und sie wegen ihrer Meinung als außerhalb der staatlichen Friedensordnung stehend zu kriminalisieren. Die politische Überzeugung wird gerade nicht unbehelligt gelassen, sondern zum Anknüpfungspunkt für unverhältnismäßige und diskriminierende strafrechtliche Sanktionen genommen. Von diesen betroffen sind insbesondere auch Anhänger prokurdischer Überzeugungen, die der türkische Staat im politischen Meinungskampf möglichst "unschädlich" machen möchte, nicht zuletzt auch in generalpräventiver Hinsicht, indem er auf eine Abschreckung politisch Andersdenkender setzt.

Dass im vorliegenden Fall nicht der insoweit "klassische" Vorwurf der Verbreitung von Propaganda für eine terroristische Organisation in Rede stellt, sondern der Vorwurf der öffentlichen Beleidigung des Angedenkens an Atatürk gemäß Art 1 Abs. 1 des Gesetzes über die Straftaten, die gegen Atatürk begangen werden (Gesetz Nr. 5816), führt zu keinem anderen Ergebnis. [...]

Ist die Klägerin nach alledem vorverfolgt ausgereist und die Verfolgungsvermutung nicht widerlegt, sondern durch die neuerliche Anklage bestätigt, kann die Klägerin auch nicht gemäß § 3e AsylG auf die Möglichkeit der Inanspruchnahme internen Schutzes verwiesen werden, denn die Gefahr der Strafverfolgung besteht landesweit. [...]