Rechtswidrigkeit der Binnengrenzkontrollen an der österreichisch-deutschen Grenze:
1. Die auf der Grundlage einer Anordnung des BMI vom 14. April 2022 stattfindenden Binnengrenzkontrollen an der österreichisch-deutschen Grenze sind rechtswidrig, da sie den zulässigen Höchstzeitraum von vorübergehenden Grenzkontrollen von 6 Monaten überschritten.
2. Es fehlt allerdings an einem schützenswerten Fortsetzungsfeststellungsinteresse der einzelnen Person, weil es sich um einen geringfügigen Grundrechtseingriff handelt und die Kontrollen lediglich sporadisch und stichprobenartig durchgeführt werden.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
23 Die Klage bleibt ohne Erfolg.
24 Sie ist bereits unzulässig, da der Kläger kein relevantes Fortsetzungsfeststellungsinteresse im Rahmen seines statthaften Fortsetzungsfeststellungsbegehrens analog § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO beanspruchen kann. [...]
27[...] Keinesfalls vermag das Gericht zu erkennen, dass der Kläger bei jedem Grenzübertritt erwartbar und zwangsläufig einer Kontrollmaßnahme unterzogen würde; dem entspricht es, dass die Beklagte stets darauf hinweist, dass temporäre Binnengrenzkontrollen flexibel, lageabhängig, in unterschiedlicher Kontrollintensität und stichprobenartig stattfinden. Dass die Kontrollen tatsächlich nur sporadisch und stichprobenartig stattfinden, wird gerade am Fall des Klägers deutlich, der trotz häufiger Grenzübertritte nach seinen Angaben seit Juni 2022 insgesamt nur noch zweimal (einmal im Herbst 2022, einmal im Herbst 2023) kontrolliert worden ist. Damit ist liegt nur eine potentielle Betroffenheit vor, die für eine konkrete Wiederholungsgefahr nicht ausreicht (wie VG München, U. v. 8. 12.2021 - M 23 K 19.5873 und 5811). [...]
29 Nach diesen Maßstäben ist eine qualifizierte Grundrechtsbetroffenheit hier nicht gegeben. Unter grundrechtlichen Gesichtspunkten steht allenfalls eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) im Raum. Damit ist jedoch im vorliegenden Fall kein tiefgreifender Grundrechtseingriff verbunden. Bei einer Identitätskontrolle handelt es sich grundsätzlich, was auch der Kläger selbst einräumt, um einen relativ geringfügigen Eingriff (vgl. Schenke in Schenke/Graulich/Ruthig, Sicherheitsrecht des Bundes, 2. Aufl. 2019, § 23 BPolG Rn. 13), Maßnahmen zur Identitätsfeststellung greifen von ihrer Zielrichtung, der geringfügigen Dauer von wenigen Minuten und der Intensität der Beeinträchtigung des geschützten Rechtsguts lediglich in unbedeutender Weise und ohne erkennbare nachhaltige Wirkung in das allgemeine Persönlichkeitsrecht oder die allgemeine Handlungsfreiheit des Betroffenen ein. Im vorliegenden Fall sind besondere Umstände, die die Identitätskontrolle ausnahmsweise zu einem für den Kläger besonders belastenden oder tiefgreifenden Eingriff gemacht hätten, weder vorgetragen noch sonst für das Gericht ersichtlich. Auch als objektiv willkürlich sind - trotz der materiellen Bedenken, die das Gericht obiter dictum gegen die Grenzkontrolle hegt (s. u.) - die Kontrollen der Beklagten nicht anzusehen, insbesondere schon deshalb nicht, weil schlechthin jedermann, der die Grenze an den Kontrollpunkten übertritt, von den Kontrollen betroffen ist, sodass ein Verstoß gegen das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG schon deshalb nicht inmitten steht. [...]
34 5. Das Gericht sieht sich dennoch veranlasst, zur Vereinbarkeit der vorliegend streitgegenständlichen Grenzkontrolle mit dem Schengener Grenzkodex Folgendes auszuführen:
35 In Anbetracht des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 26. April 2022 (C-368/20, Celex-Nr. 62020CJ0368) dürfte die streitgegenständliche Grenzkontrolle vom 11. Juni 2022 gegen Art. 25 Abs. 4 des SGK verstoßen haben, der für die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen einen Gesamtzeitraum von höchstens 6 Monaten vorsieht. Dieser Gesamtzeitraum von höchstens 6 Monaten ist nach dem EuGH-Urteil (vgl. Rn. 78 ff.) zwingend, sodass seine Überschreitung zwangsläufig dazu führt, dass alle nach Ablauf dieses Zeitraums gemäß den Art. 25 und 27 des SGK wiedereingeführten Kontrollen an den Binnengrenzen mit dem SGK unvereinbar sind. Dies hat der EuGH unmissverständlich festgestellt. Die vorliegende Grenzkontrolle am 11. Juni 2022 erfolgte auf der Grundlage des Notifizierungsschreibens des Bundesministeriums des Innern und für Heimat vom 14. April 2022, welche die vorübergehende Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen an der österreichisch-deutschen Landgrenze aus migrations- und damit einhergehend sicherheitspolitischen Gründen mit Wirkung zum 12. Mai 2022 für einen 6-monatigen Zeitraum auf der Grundlage der Art. 25 bis 27 des SGK "neu anordnete". Das vorangegangene Notifizierungsschreiben des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat vom 15. Oktober 2021 hatte aus denselben Gründen die vorübergehende Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen angeordnet. Allein hieraus ergibt sich, dass damit und trotz der Formulierung der "Neu"- Anordnung der Gesamtzeitraum von 6 Monaten bereits ausgeschöpft war, abgesehen davon, dass sich auch dieses und die vorangegangenen Notifizierungsschreiben tatsächlich jeweils nicht auf neue Bedrohungslagen gestützt haben. Das Gericht kann die mangels weiterer vorgetragener bzw. vorgelegter Details von Beklagtenseite zu etwaigen damals vorhandenen internen Erkenntnissen zu Bedrohungslagen/zur Sicherheitslage lediglich anhand der der Europäischen Kommission übermittelten Gründe abschätzen. Eine erneute Anwendung dieses Höchstzeitraums dürfte mangels Nachweises einer im Kern tatsächlich neuen ernsthaften Bedrohung für die öffentliche Ordnung oder innere Sicherheit, die sich von der ursprünglich festgestellten nicht nur in Randerscheinungen v.a. des Migrationsgeschehens unterscheidet (vgl. EuGH, a.a.O. Rn. 79, 81) ausscheiden. Die vorgenannten Grenzkontrollen dürften damit den Schengener Grenzkodex verletzt haben, zumindest seit sie mit Beendigung der Pandemielage seitdem im Wesentlichen fortlaufend mit migrations- und sicherheitspolitischen Aspekten/Sekundärmigration begründet wurden. Das Gericht teilt daher insoweit im Kern die klägerische Argumentation.
6. Die Berufung wird zugelassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, § 124a Abs. 1 Satz 1, § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO. Die Frage der Zulässigkeit verwaltungsgerichtlicher Überprüfbarkeit von Grenzkontrollen an der österreichisch-deutschen Grenze betrifft potenziell eine Vielzahl vergleichbarer Sachverhalte und ist derzeit nicht abschließend geklärt (vgl. Anfrage des 6. Senats an den 8. Senat des BVerwG vom 29. 11.2023 - Az. 6 C 2.22/5 A 2000/20). [...]