Anstaltsärztliche Bescheinigung über Reiseunfähigkeit verpflichtet zur Amtsermittlung:
1. "Ein Antrag der zuständigen Verwaltungsbehörde ist für die Anordnung der sofortigen Wirksamkeit der Haftanordnung nicht erforderlich."
2. "Bescheinigt der im ärztlichen Dienst der Abschiebehafteinrichtung tätige Arzt, dass es an der Reisefähigkeit des Betroffenen fehlt, kann dies einen tatsächlichen Anhaltspunkt für das Vorliegen einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, begründen. In einem solchen Fall kann die Verwaltungsbehörde gehalten sein, weitere Ermittlungen zum Gesundheitszustand des Betroffenen anzustellen, auch wenn die Bescheinigung die Voraussetzungen des § 60a Abs. 2c Satz 2 bis 4 AufenthG nicht erfüllt."
(Amtliche Leitsätze)
[...]
14 bb) Zutreffend hat das Beschwerdegericht angenommen, dass ein Antrag der beteiligten Behörde auf Anordnung der sofortigen Wirksamkeit der Entscheidung gemäß § 422 Abs. 2 FamFG keine Voraussetzung für die Zulässigkeit einer solchen Anordnung ist (Grotkopp, Abschiebungshaft, 2020 Rn. 536). Das ergibt sich bereits aus dem klaren Wortlaut der § 417 Abs. 1, § 422 Abs. 2 FamFG. Danach darf das Gericht eine Freiheitsentziehung zwar nur auf Antrag anordnen·(§ 417 Abs. 1 FamFG). Ergeht eine solche Anordnung, steht es aber im Ermessen des Gerichts („kann“), ob es - gegebenenfalls auch von Amts wegen - die sofortige Wirksamkeit des Beschlusses anordnet (ebenso für § 324 Abs. 2 FamFG Schmidt-Recla in MüKoFamFG, 3. Aufl., § 324 Rn. 3). [...] Ohnehin kann aber ein entsprechender Antrag auch der Antragsschrift entnommen werden. Die beteiligte Behörde beantragt ausdrücklich, den Ausreisegewahrsam vom 21. September bis einschließlich 28. September 2021 anzuordnen und mithin auch die Anordnung der sofortigen Wirksamkeit des Beschlusses. [...]
b) Eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht gemäß § 26 FamFG liegt aber darin, dass das Amtsgericht, nachdem es am 23. September 2021 vom Attest der Anstaltsärztin vom 22. September 2021 Kenntnis erlangt hat, keine weiteren Ermittlungen zur möglichen Reiseunfähigkeit der Betroffenen durchgeführt hat.
aa) Nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung auszusetzen, solange sie aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist. [...] Nach § 60a Abs. 2c AufenthG wird vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. Der Ausländer muss eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen. [...] Verletzt der Ausländer die sich aus § 60a Abs. 2d Satz 1 AufenthG ergebende Pflicht zur unverzüglichen Vorlage der ärztlichen Bescheinigung nach Absatz 2c, darf die zuständige Behörde das Vorbringen des Ausländers zu seiner Erkrankung nicht berücksichtigen, es sei denn, der Ausländer war unverschuldet an der Einholung einer solchen Bescheinigung gehindert oder es liegen anderweitig tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde. [...]
bb) Solche anderweitigen tatsächlichen Anhaltspunkte für eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung der Betroffenen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, ergaben sich aus dem Attest der Anstaltsärztin vom 22. September 2021.
(1') Der Einschätzung der im ärztlichen Dienst der Abschiebehaftanstalt tätigen Ärzte kommt anders als vom Ausreisepflichtigen selbst vorgelegten Attesten besonderes Gewicht zu, weil sie ständig und im Auftrag der Länder mit der Beurteilung der Haftfähigkeit und Reisetauglichkeit der Ausländer in Abschiebungshaft befasst sind. Die Schwierigkeiten, denen § 60a Abs. c und 2d AufenthG begegnen wollen, sind in Bezug auf Atteste der Anstaltsärzte nicht zu erwarten. Bescheinigt der im ärztlichen Dienst der Abschiebungshafteinrichtung tätige Arzt, dass es an der Reisefähigkeit des Betroffenen fehlt, kann dies daher einen tatsächlichen Anhaltspunkt für das Vorliegen einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, begründen. In einem solchen Fall kann die Verwaltungsbehörde gehalten sein, weitere Ermittlungen zum Gesundheitszustand des Betroffenen anzustellen, auch wenn die Bescheinigung die Voraussetzungen des § 60a Abs. 2c Satz 2 bis 4 AufenthG nicht erfüllt.
(2) So liegt es hier. Die Anstaltsärztin hat die Reisefähigkeit der Betroffenen für den geplanten Abschiebungstermin verneint, weil die Fortsetzung einer erforderlichen Substitutionsbehandlung und Schmerztherapie im Heimatland nicht gesichert sei. Auch wenn dieses Attest die Voraussetzungen des § 60a Abs. 2c AufenthG nicht erfüllte, begründete es einen tatsächlichen Anhaltspunkt dafür, dass der Abschiebung ein aus § 60a Abs. 2 AufenthG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgendes Hindernis entgegenstehen konnte.
cc) Das ihm am 23. September 2021 vorgelegte Attest hätte der Haftrichter nicht unbeachtet lassen dürfen. [...] Der Haftrichter hätte daher bei der Anstaltsärztin ein den Anforderungen des § 60a Abs. 2c AufenthG genügendes Attest anfordern und aufklären müssen, ob ein aus§ 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgendes Abschiebungsverbot bestand.
dd) Unterlässt es das Gericht, in die gebotene Sachaufklärung einzutreten, verletzt die weitere Freiheitsentziehung den Betroffenen in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. [...]