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OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 14.02.2024 - 11 A 1255/22.A - asyl.net: M32334
https://www.asyl.net/rsdb/m32334
Leitsatz:

Vorlage an den EuGH zu systemischen Mängeln bei Weigerung der Rücknahme von Dublin-Rückkehrenden:

1. Es ist in der Rechtsprechung des EuGH nicht geklärt, ob die Anordnung eines Mitgliedstaats, ab sofort und für einen unbestimmten Zeitraum keine Überstellungen mehr zu akzeptieren - wie die der italienischen Behörden im Dezember 2022 - systemische Schwachstellen gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO [VO 604/2013] begründet.

2. Der Senat ist der Ansicht, dass der mit Rundschreiben der italienischen Dublin-Unit vom 5. und 7. Dezember 2022 verfügte Aufnahmestopp systemische Schwachstellen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO begründet. Nach den Rundschreiben und der entsprechenden Praxis der italienischen Dublin-Unit ist offenkundig, dass Italien sein Handeln bewusst nicht dem Regelungsgefüge der Dublin-III-VO unterwirft und Antragsteller*innen im Falle ihrer Überstellung bereits den Zugang zum Asylverfahren und die Aufnahme verweigert.

(Leitsätze der Redaktion; vorhergehend: BVerwG, Beschluss vom 13.11.2023 - 1 B 31.23 - asyl.net: M32115; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16.06.2023 - 11 A 1132/22.A (Asylmagazin 7-8/2023, S. 254 f.) - asyl.net: M31640; unter Bezug auf: BVerfG, Beschluss vom 02.08.2023 - 2 BvR 593/23 - bundesverfassungsgericht.de)

Schlagwörter: Italien, Dublinverfahren, systemische Mängel, Vorlagebeschluss, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 34a, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 dahingehend auszulegen, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in dem zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU–Grundrechtecharta mit sich bringen, wenn dieser Mitgliedstaat aufgrund staatlich angeordneter Aussetzung der Annahme von Überstellungen die (Wieder-)Aufnahme von Asylantragstellern für einen unbestimmten Zeitraum grundsätzlich verweigert?

2. Falls Frage1 zu verneinen ist: Ist Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 dahingehend auszulegen, dass die unionsrechtlichen Vorgaben an die Sachverhaltsaufklärung, die die Feststellung objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben zum Asylverfahren und den Aufnahmebedingungen zu überstellender Antragsteller erfordern, eine Einschränkung erfahren, wenn das erkennende Gericht diese Angaben nicht erhalten kann, sondern nur einen hypothetischen Sachverhalt ermitteln könnte, weil der in den Blick zu nehmende Mitgliedstaat grundsätzlich die (Wieder-)Aufnahme von Asylantragstellern aufgrund staatlich angeordneter Aussetzung der Annahme von Überstellungen für einen unbestimmten Zeitraum grundsätzlich verweigert? [...]

Während des laufenden Berufungsverfahrens führte die italienische Dublin-Unit mit an alle Dublin-Units gerichtetem Rundschreiben vom 5. Dezember 2022 aus:

"This is to inform you that due to suddenly appeared technical reasons related to unavailability of reception facilities Member States are requested to temporarily suspend transfers to Italy from tomorrow, with the exception of cases of family reunification of unaccompanied minors. Further and more detailed information regarding the duration of the suspension will follow."

Mit weiterem Rundschreiben vom 7. Dezember 2022 führte die italienische Dublin-Unit aus:

"I write following the previous communication on 5th December, concerning the suspension of transfers, with the exception of cases of family reunification of minors, due to the unavailability of reception facilities. At this regard, considering the high number of arrivals both at sea and land borders, this is to inform you about the need for a re-scheduling of the reception activities for third countries nationals, also taking into account the lack of available reception places."

Bislang ist keine weitere Erklärung der italienische Dublin-Unit bekanntgegeben worden.

Mit Beschluss vom 21. Juni 2023 hat der vorlegende Senat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Die Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamts sei rechtswidrig, weil die Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 für das Asylverfahren des Klägers zuständig geworden sei. Denn es könne keine Überstellung gemäß diesem Absatz an den aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat vorgenommen werden. Die sich aus Art. 13 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 ergebende Zuständigkeit Italiens sei gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 entfallen, weil die italienischen Behörden Rückkehrern, die nach Maßgaben dieser Verordnung nach Italien überstellt werden sollen (im Folgenden: Dublin-Rückkehrer) den Zugang zum Asylverfahren und die Aufnahme insgesamt verweigerten.

Das Bundesverwaltungsgericht hat den Beschluss des Senats vom 21. Juni 2023 aufgehoben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das vorlegende Gericht zurückverwiesen.

Mit Schriftsatz vom 8. Februar 2024 hat das Bundesamt mitgeteilt, dass im Jahr 2023 elf Überstellungen im Rahmen des Dublin-Verfahrens aus Deutschland in den Mitgliedstaat Italien erfolgt seien. [...]

II.

Der Rechtsstreit wird in entsprechender Anwendung des § 94 VwGO ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Union (im Folgenden: EuGH) gemäß Art. 267 AEUV vorgelegt zur Beantwortung der im Tenor wiedergegebenen Fragen zu Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013[...] sog. Dublin III-VO [...]. Die vorgelegten Fragen zur Auslegung des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 sind entscheidungserheblich und bedürfen einer Klärung durch den EuGH. [...]

2. Die vorgelegten Fragen zur Auslegung von Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 sind im vorliegenden Verfahren entscheidungserheblich.

a) Die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a) AsylG liegen vor, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig ist. Nach Art. 13 Abs. 1, Art. 22 Abs. 7 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 ist der Mitgliedstaat Italien für das Asylverfahren des Klägers zuständig, es sei denn, die Zuständigkeit ist nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen.

Der EuGH hat die rechtlichen Grenzen für Überstellungen nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 dahingehend gezogen, dass systemische Schwachstellen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 im zuständigen Mitgliedstaat "nur dann" Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK unterfallen, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falls abhängt und die dann erreicht wäre, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. [...]

Nach der Einschätzung des vorlegenden Senats ist Italien zur (Wieder-)Aufnahme des Klägers wie auch anderer Dublin-Rückkehrer mit Ausnahme weniger und nicht ins Gewicht fallender Einzelfälle für einen unbestimmten Zeitraum nicht bereit. [...]

Ob schon die Anordnung eines Mitgliedstaats, ab sofort und für einen nicht näher bestimmten bzw. begrenzten Zeitraum keine Überstellungen mehr zu akzeptieren, systemische Schwachstellen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 begründet, ist nicht geklärt. Der EuGH hat diese Frage noch nicht entschieden.

Der Senat ist der Ansicht, dass der mit Rundschreiben der italienischen Dublin-Unit vom 5. und 7. Dezember 2022 verfügte Aufnahmestopp systemische Schwachstellen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 begründet. Nach den Rundschreiben und der diesen entsprechenden Praxis der italienischen Dublin-Unit ist offenkundig, dass Italien sein Handeln bewusst nicht dem Regelungsgefüge der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 unterwirft und Antragstellern im Falle ihrer Überstellung bereits den Zugang zum Asylverfahren und die Aufnahme verweigert (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 5. Juli 2023 - 11 A 1722/22.A -, juris, Rn. 46 ff., m. w. N.; in diesem Sinne wohl auch: BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 2. August 2023 - 2 BvR 593/23 -, juris, Rn. 12 [...]).

Im Übrigen ging der Senat bis zu der nunmehr manifestierten Aufnahmeverweigerung Italiens davon aus, dass das italienische Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen grundsätzlich keine systemischen Schwachstellen aufweisen, wenn der Kläger – wie hier – in Italien noch keinen Asylantrag gestellt hat (vgl. hierzu OVG NRW, Beschluss vom 26. Juli 2022 - 11 A 1497/21.A -, juris, Rn. 64 ff.).

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013, die (ausschließlich) auf die Situation im zuständigen Mitgliedstaat abstellten, nicht schon ohne Weiteres dadurch erfüllt, dass dieser Mitgliedstaat die Aufnahme der betreffenden Personen von vorneherein ablehne. Allein die fehlende Aufnahmebereitschaft reiche nicht für die Schlussfolgerung, es lägen systemische Mängel im Sinne des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 vor. Die Erklärung Italiens könne lediglich ein Indiz begründen; es bedürfe jedoch einer weiteren Darlegung, welche Lebensumstände den Asylantragsteller im Falle einer – unterstellten – Überstellung nach Italien erwarteten (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. November 2023 - 1 B 29.23 -, juris, Rn. 10, 15).

Das Bundesverfassungsgericht hat betreffend den von Italien verfügten Aufnahmestopp hingegen in einem eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung annehmenden Beschluss festgestellt, das Verwaltungsgericht habe die ihm obliegende Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung verletzt, weil es sich nicht hinreichend mit den Hinweisen der Beschwerdeführerin auf die systemischen Schwachstellen des italienischen Asylsystems auseinandergesetzt und es vor allem unterlassen habe, sich im Rahmen der Amtsermittlung über die aktuelle Aufnahmesituation in Italien zu informieren und die Mitteilungen hinsichtlich des Aufnahmestopps zu berücksichtigen (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 2. August 2023 - 2 BvR 593/23 -, juris, Rn. 12).

b) Frage 2 wird für den Fall der Verneinung von Frage 1 gestellt.

Vor der Bejahung einer Gefahr im Sinne des Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK ist das Gericht verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob im Asylverfahren und aufgrund der Aufnahmebedingungen entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt zu werden [...].

Objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben über das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für zurückkehrende Antragsteller sind aber nicht zu erhalten, wenn der in den Blick zu nehmende Mitgliedstaat – wie hier Italien – die (Wieder-)Aufnahme von Antragstellern verweigert. [...]

3. Der Senat beantragt die Durchführung eines beschleunigten Verfahrens gemäß Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs. Mit Blick auf die große Zahl der in Deutschland aufhältigen Flüchtlinge, die in Deutschland einen Asylantrag gestellt haben, dessen Prüfung jedoch an sich einem anderen Mitgliedstaat nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 obliegt, ist eine rasche Klärung erforderlich. [...]