Das Notvertretungsrecht des Jugendamts genügt den prozeduralen Anforderungen aus Art. 8 EMRK:
1. Für die Prozessfähigkeit und die verwaltungsverfahrensrechtliche Handlungsfähigkeit kommt es nicht auf das vom Beteiligten angegebene Alter an, sondern auf das zur Überzeugung des Gerichts feststehende Alter.
2. § 42a Abs. 3 SGB VIII entzieht einer objektiv volljährigen Person nicht die Geschäfts- und Handlungsfähigkeit
3. Das Notvertretungsrecht des Jugendamts aus § 42a Abs. 3 SGB VIII genügt den prozeduralen Anforderungen aus Art. 8 EMRK, wenn die Aufgabe der Notvertretung innerhalb des Jugendamts von der Aufgabe der Altersfeststellung personell und organisatorisch getrennt ist und die Notvertretung von Amts wegen unverzüglich darüber informiert wird, dass sich eine Person als unbegleiteter minderjähriger Ausländer gemeldet hat sowie wann und wo die qualifizierte Inaugenscheinnahme stattfinden soll.
4. Die prozeduralen Rechte aus Art. 8 EMRK stehen im Altersfeststellungsverfahren auch Personen zu, die sich als volljährig herausstellen.
5. War die Notvertretung nicht wie geboten in das Altersfeststellungsverfahren eingebunden, liegt dennoch kein Verstoß gegen Art. 8 EMRK (mehr) vor, wenn der Betroffene im Widerspruchsverfahren anwaltlich vertreten war und ein Widerspruchsbescheid erlassen wurde.
(Amtliche Leitsätze, a.A.: VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 09.04.2024 - 12 S 77/24 - asyl.net: M32349)
[...]
I. Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme. [...]
2. Die Beschwerde ist unbegründet. Insbesondere ergibt sich aus dem Beschwerdevorbringen nicht, [...] (d)) dass Verfahrensgarantien aus der Europäischen Menschenrechtskonvention aktuell noch verletzt sind. [...]
d) Seit dem Erlass des Widerspruchsbescheids sind auch keine aus Art. 8 EMRK abzuleitenden Verfahrensrechte des Antragstellers mehr verletzt.
aa) Nach ständiger Rechtsprechung des EGMR müssen Entscheidungsprozesse, die zu Beeinträchtigungen des Privat- und/oder Familienlebens führen können, fair und so ausgestaltet sein, dass die gebührende Beachtung der durch Art. 8 EMRK geschützten Interessen sichergestellt ist [...].
bb) Das Alter einer Person ist ein bedeutsames Merkmal ihrer Identität; eine Inobhutnahme hat weitreichende Auswirkungen auf ihr soziales Leben. Damit handelt es sich um Umstände, die unter den weiten Begriff des „Privatlebens“ im Sinne von Art. 8 EMRK fallen [...]. Das Verfahren zur Feststellung des Alters von Personen, die behaupten, unbegleitete minderjährige Ausländer zu sein, berührt mithin durch Art. 8 EMRK geschützte Interessen. Daraus folgt insbesondere, dass (1) der Person, die behauptet minderjährig zu sein, unverzüglich ein Vormund oder gesetzlicher Vertreter zur Seite zu stellen ist [...] und (3) im Falle der Einschätzung als volljährig eine förmliche behördliche oder gerichtliche Entscheidung ergehen muss, gegen die der Betroffene einen Rechtsbehelf einlegen kann [...]. Bei der Frage, wie sie ihre prozeduralen Verpflichtungen aus Art. 8 EMRK im Einzelnen erfüllen, räumt der EGMR den Vertragsstaaten einen weiten Beurteilungsspielraum (margin of appreciation) ein [...].
Angesichts dieses Beurteilungsspielraums der Mitgliedsstaaten kann die Wortwahl des EGMR, es sei ein „legal representative or guardian“ zu bestellen, nicht so verstanden werden, dass damit zwingend ein Vormund (§ 1773 ff. BGB) oder Ergänzungspfleger (§ 1809 BGB) im Sinne des deutschen Rechts gemeint ist. § 42a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII berechtigt und verpflichtet das Jugendamt, während der vorläufigen Inobhutnahme alle Rechtshandlungen vorzunehmen, die zum Wohl des Kindes oder Jugendlichen notwendig sind. Dadurch ist eine „legal representation“ gewährleistet und den Anforderungen des EGMR somit grundsätzlich genügt.
Allerdings ist die Notvertretung nur dann gleichwertig zu dem Schutz, den die Bestellung eines Vormunds im Altersfeststellungsverfahren böte, wenn innerhalb des Jugendamts eine personelle und organisatorische Trennung zwischen der Aufgabe der Notvertretung und der Aufgabe der vorläufigen Inobhutnahme samt Altersfeststellung gegeben ist, die Interessenkollisionen vermeidet [...]. Dies ist vorliegend der Fall: Die Aufgaben der vorläufigen Inobhutnahme/ Altersfeststellung und die Notvertretung werden innerhalb des Jugendamts der Antragsgegnerin von unterschiedlichen Fachdiensten wahrgenommen. Die Notvertretung übernehmen Mitarbeitende des Fachdienstes Amtsvormundschaft, also dieselben Personen, die auch als Vormünder agieren. Bei der Wahrnehmung der Notvertretung handeln sie weisungsfrei [...].
Jedoch muss zur Wahrung der Verfahrensrechte aus Art. 8 EMRK hinzukommen, dass die Notvertretung nicht nur auf dem Papier besteht, sondern von dem Fachdienst des Jugendamtes, der für die Altersfeststellung zuständig ist, so informiert wird, dass sie auch tatsächlich die Möglichkeit hat, sich am Altersfeststellungsverfahren zu beteiligen. Denn die EMRK will nach ständiger Rechtsprechung des EGMR nicht lediglich theoretische, sondern praktisch effektive Rechte schützen [...]. Dies setzt voraus, dass die für die Notvertretung zuständigen Mitarbeitenden unverzüglich nachdem sich eine Person als möglicherweise unbegleiteter minderjähriger Ausländer gemeldet hat über diese Meldung so informiert werden, dass ihnen eine Kontaktaufnahme mit dieser Person möglich ist, und dass ihnen der Termin für die qualifizierte Inaugenscheinnahme so mitgeteilt wird, dass sie über eine Teilnahme daran entscheiden können. Hingegen ist nicht menschenrechtlich vorgegeben, wie die Notvertretung ihre Aufgabe im konkreten Fall im Einzelnen wahrnimmt, insbesondere ob sie eine Anwesenheit bei der qualifizierten Inaugenscheinnahme für notwendig hält. Dies liegt in ihrem pädagogischen Ermessen; eine andere Sichtweise wäre nicht zuletzt mit der Weisungsfreiheit der Notvertretung kaum zu vereinbaren.
Die Vorgehensweise der Antragsgegnerin genügt den vorgenannten Anforderungen nicht. Sie informiert zwar beim Erstkontakt die Person, die behauptet minderjährig zu sein, über die Möglichkeit, die Notvertretung zu kontaktieren, nicht aber die Notvertretung darüber, dass ein neuer Erstkontakt mit einer Person, die behauptet minderjährig zu sein, stattgefunden hat. Nur in Fällen, in denen eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung beabsichtigt ist (§ 42f Abs. 2 SGB VIII), informiert die Antragsgegnerin die Notvertretung von Amts wegen (vgl. Schriftsatz der Antragstellerin vom 10.04.2024). In allen Fällen, in denen keine ärztliche Untersuchung in Erwägung gezogen wird, wird es somit allein dem möglicherweise Minderjährigen überlassen, ob die Notvertretung in seinem Interesse tätig werden kann. Dies sichert eine gebührende Beachtung der durch Art. 8 EMRK geschützten Interessen nicht.
Anders als für die rein nach nationalem Recht zu beurteilende Frage der verwaltungsverfahrensrechtlichen Handlungsfähigkeit und der Prozessfähigkeit kommt es für die aus Art. 8 EMRK abgeleiteten Verfahrensgarantien nicht darauf an, ob der Betroffene objektiv voll- oder minderjährig ist. Die Verfahrensgarantien sollen gerade sicherstellen, dass die Altersfeststellung auf verlässlicher Grundlage getroffen werden kann. [...]
Damit genügte das Altersfeststellungsverfahren im Fall des Antragstellers zunächst nicht den Anforderungen aus Art. 8 EMRK.
cc) Eine gebührende Beachtung der durch Art. 8 EMRK geschützten Interessen wurde aber im Widerspruchsverfahren sichergestellt. Seit dem Erlass des Widerspruchsbescheides liegt daher kein Verstoß gegen Art. 8 EMRK mehr vor. [...]
In diesem Widerspruchsverfahren wurde er anwaltlich vertreten. Damit stand ihm im Widerspruchsverfahren eine fachkundige Person zur Seite, die ihn bei der Wahrnehmung seiner Rechte und Interessen unterstützt hat. [...] Im Widerspruchsverfahren haben sowohl das Jugendamt als auch die vorgesetzte Behörde die Entscheidung noch einmal vollständig überprüft und mit dem Widerspruchsbescheid eine neue, förmliche, mit Gründen versehene und gerichtlich anfechtbare Entscheidung über die Einschätzung des Antragstellers als volljährig erlassen. Bei dieser Sachlage ist bei einer Gesamtbetrachtung des Verfahrens nicht ersichtlich, was eine Einbindung der Notvertretung, eines Vormunds oder eines Ergänzungspflegers in der Phase vor dem Erlass des Ausgangsbescheides an echtem, substantiellem Mehrwert für den Schutz der Rechte des Antragstellers ergeben hätte. Den Bescheid über die Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme in der Gestalt des Widerspruchsbescheides dennoch als rechtswidrig anzusehen, weil eine solche Einbindung unterblieben ist, und die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen, wäre bloße Förmelei. [...]