Rechtswidrige Abschiebungsandrohung wegen Nichtberücksichtigung des Kindeswohls:
Der EuGH hatte mit Beschluss vom 15.02.2023 - C-484/22 BR Deutschland gg. GS - asyl.net: M31329 festgestellt, dass beim Erlass einer Abschiebungsandrohung als Rückkehrentscheidung das Kindeswohl und familiäre Bindungen gebührend zu berücksichtigen sind. Da daher § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG als unionsrechtswidrig anzusehen ist, darf diese Vorschrift nicht angewendet werden. Auch wenn sich die EuGH-Entscheidung auf die Rückführung in Drittstaaten bezieht, ist sie auch auf die Rückführung in andere EU-Staaten anzuwenden, weil der EuGH auf den allgemeinen Rechtsgedanken abgestellt hat, dass das Kindeswohl und familiäre Bindungen vor Erlass einer Rückkehrentscheidung zu beachten sind. Wenn ein solches inländisches Vollzugshindernis vorliegt, kann es keinen Unterschied machen, in welchen Zielstaat die Abschiebung erfolgen soll.
(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: EuGH, Beschluss vom 15. Februar, EuGH - C-484/22 BR Deutschland gg. GS - asyl.net: M31329; siehe auch: VG Berlin, Urteil vom 06.04.2023 - 34 K 21/22 A (Asylmagazin 6/2023, S. 234 f.) - asyl.net: M31492)
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2. Jedoch erweist sich die Abschiebungsandrohung unter Ziffer 3 des Bescheides als rechtswidrig, denn die familiären Bindungen der Klägerin und die Belange des Kindeswohls stehen dem Erlass der Abschiebungsandrohung entgegen.
a) Ausweislich der jüngsten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Beschl. v. 15.2.2023 - C484/22 -, juris) hat das Bundesamt bei dem Erlass einer Abschiebungsandrohung als Rückkehrentscheidung - selbst wenn es sich bei dem Adressaten nicht um einen Minderjährigen, sondern um einen Elternteil handelt [...] - gem. Art. 5 Buchstaben a) und b) der Richtlinie 2008/115 - Rückführungsrichtlinie - auch das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen (Art. 8 EMRK) gebührend zu berücksichtigen. Dabei weist der Europäische Gerichtshof in seiner Entscheidung ausdrücklich darauf hin, dass Art. 5 der Rückführungsrichtlinie die Wahrung mehrerer Grundrechte, insbesondere der in Art. 24 EU-Grundrechte-Charta verankerten Grundrechte des Kindes, bezweckt und nicht eng ausgelegt werden darf (Rn. 23 der Entscheidung). Er macht daneben auch deutlich, dass die Belange des Kindeswohls bereits bei der Rückkehrentscheidung und nicht erst in einem nachfolgenden Verfahren über den Vollzug der Rückkehrentscheidung berücksichtigt werden müssen [...].
Zwar findet die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs auf den vorliegenden Fall keine unmittelbare Anwendung, denn sie bezieht sich ihrem Inhalt nach allein auf die Auslegung von Art. 5 Buchstaben a) und b) der Rückführungsrichtlinie, die ausweislich der Art. 1 und Art. 3 Nr. 3 der Richtlinie nur für die Rückführung in Drittstaaten, nicht aber für eine Rückführung in andere EU-Staaten gilt. Dennoch führt die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in dogmatischer Hinsicht dazu, dass die Vorschrift des § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG, wonach dem Erlass der Abschiebungsandrohung Gründe für die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nicht entgegen stehen, als unionsrechtswidrig anzusehen ist und wegen des Anwendungsvorrangs entgegenstehenden Unionsrechts unangewendet bleiben muss [...]. Dies gilt auch für den vorliegenden Fall, da § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG über § 35 AsylG i.V.m. § 34 AsylG hier gleichermaßen Anwendung findet [...]. Ungeachtet dessen lässt sich der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes ferner entnehmen, dass die genannten Bestimmungen der Rückführungsrichtlinie Ausdruck der in Art. 24 EU-Grundrechtecharta verankerten Grundrechte sind. Diese gelten ausweislich des Erwägungsgrundes Nr. 33 der hier einschlägigen Aufnahmerichtlinie (Richtlinie 2013/32/EU [...]) aber gleichermaßen bei der Behandlung unzulässiger Asylanträge aufgrund bereits gewährten internationalen Schutzes nach Art. 33 Abs. 2 der Aufnahmerichtlinie. Aus Sicht des erkennenden Gerichts hat der Europäische Gerichtshof mit seiner Entscheidung einen allgemeinen Rechtsgedanken zum Ausdruck gebracht, wonach Art. 24 EU-Grundrechte-Charta gebietet, dass vor Erlass einer Rückkehrentscheidung das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen gebührend zu berücksichtigen sind. Dieser Rechtsgedanke muss im Hinblick auf die Tragweite und.die Bedeutung dieses Grundrechts auch im vorliegenden Fall Berücksichtigung finden. Wenn familiäre Bindungen des Kindes im Inland ein inländisches Vollzugshindernis begründen, das bereits dem Erlass einer Abschiebungsandrohung nach § 59 Abs. 3 AufenthG entgegen steht, kann es zur Überzeugung des Gerichts keinen Unterschied machen, in welchen Zielstaat die Abschiebung erfolgen soll. Entscheidend ist vielmehr, dass die im Inland gelebte Familieneinheit nicht getrennt werden soll. Würde man den hier vorliegenden Fall anders handhaben, würde dies zu dem sachwidrigen Ergebnis führen, dass bei einer Abschiebungsandrohung nach § 35 AsylG inländische Vollzugshindernisse aufgrund von Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK weiterhin durch die Ausländerbehörden zu prüfen wären, wohingegen sie im Rahmen des § 34 AsylG durch das Bundesamt zu prüfen wären. Dies widerspräche nicht nur den dargelegten unionsrechtlichen Grundsätzen, sondern dürfte auch kaum dem Willen des europäischen Gesetzgebers und dem Interesse an einem einheitlichen Asylverfahren entsprechen.
b) Unter Berücksichtigung der vorstehenden Erwägungen ist zugunsten der Klägerin ein inlandsbezogenes Vollzugshindernis nach § 60a AufenthG i.V.m. Art. 6 GG, Art. 8 EMRK aufgrund ihrer familiären Bindung zu ihrem Kind festzustellen.
Nach Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK hat der Staat bestehende eheliche und familiäre Bindungen an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, zu berücksichtigen und entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen in seinen Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dabei garantieren weder Art. 6 GG noch Art. 8 EMRK einem Ausländer das Recht, in einen bestimmten Staat einzureisen oder sich dort aufzuhalten. Vielmehr haben die Vertragsstaaten der EMRK das Recht, über Einreise und Aufenthalt fremder Staatsangehöriger unter Beachtung der in der Konvention geschützten Rechte zu entscheiden, wobei Art. 8 EMRK sie verpflichtet, einen angemessenen Ausgleich der berührten Rechte und der öffentlichen Interessen herzustellen [...]. Dabei ist vor allem zu berücksichtigen, inwieweit die zwangsweise Durchsetzung der Ausreisepflicht mit Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK unvereinbar wäre. Dies kann etwa dann der Fall sein, wenn dem Ausländer und seinen Angehörigen nicht zugemutet werden kann, ihre familiären Bindungen im Bundesgebiet auch nur vorübergehend durch Ausreise - z. B. zur Nachholung eines Visumverfahrens - zu unterbrechen (vgl. zum Ganzen·m. w.- N. VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 10.3.2009 - 11 S 2990/08 - juris Rn. 29). Ein auch nur vorübergehendes Verlassen des Bundesgebietes ist dem ausreisepflichtigen Familienmitglied jedenfalls dann nicht zuzumuten, wenn einer der Angehörigen aufgrund individueller Besonderheiten wie etwa Krankheit oder Pflegebedürftigkeit mehr als im Regelfall auf persönlichen Beistand angewiesen ist oder wenn die Betreuung von Kindern im Fall der Ausreise nicht gesichert wäre. Sind kleine Kinder von der Ausreise des Ausländers betroffen, kann auch eine kurzfristige Trennung unzumutbar sein, da kleine Kinder den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen können und diese rasch als endgültigen Verlust erfahren [...]. Ausländerrechtliche Schutzwirkungen entfaltet Art. 6 GG dabei nicht schon aufgrund formalrechtlicher familiärer Bindungen. Entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern, wobei grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalls geboten ist [...]. Besteht eine tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft zwischen dem Ausländer und seinem Kind und kann diese Gemeinschaft nur in der Bundesrepublik Deutschland verwirklicht werden, etwa weil das Kind deutscher Staatsangehöriger ist und ihm wegen der Beziehungen zu einem Elternteil das Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück [...].
Gemessen an diesen rechtlichen Vorgaben hat die Klägerin einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung nach § 60a AufenthG i.V.m. Art. 6 GG, Art. 8 EMRK. Die Klägerin ist Mutter eines anderthalb Jahre alten Kleinkindes. Sie lebt mit ihrem Kind und dem Kindsvater, mit dem sie nach islamischem Recht verheiratet ist, in einer häuslichen Gemeinschaft. Dabei ist sowohl dem Kind der Klägerin als auch dem Kindsvater im Bundesgebiet die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden. Beide verfügen damit über ein gesichertes Bleiberecht in der Bundesrepublik Deutschland, die familiäre Gemeinschaft kann daher derzeit nur im Bundesgebiet verwirklicht werden. Als anerkannt Schutzberechtigte eines anderen Mitgliedsstaats der EU benötigt die Klägerin bei längerfristigen Aufenthalten von mehr als 90 Tagen im Bundesgebiet einen Aufenthaltstitel (vgl. Art. 21 Schengener Durchführungsübereinkommen). Einen solchen müsste sie sich bei einer Abschiebung nach Italien erst besorgen, was einige Zeit in Anspruch nehmen kann. Eine Abschiebung der Klägerin nach Italien würde mithin eine nicht nur vorübergehende Trennung von ihrem Kind bedeuten, die ihr in Anbetracht der familiären Bindung zu ihrem Kind und dem Alter des Kindes vorliegend nicht zugemutet werden kann. [...]