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VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 08.02.2024 - 2 A 106/24 - asyl.net: M32324
https://www.asyl.net/rsdb/m32324
Leitsatz:

Aufhebung eines Dublin Bescheids wegen systemischer Mängel im italienischen Asylsystem:

"1. Geflüchteten droht in Italien nach wie vor eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung in Form von Obdachlosigkeit [...].

2. Dublin-Rückkehrer stehen beim Zugang zum Asylverfahren und zur Unterbringung in Italien vor denselben Problemen wie andere Asylbewerber.

3. Im Jahr 2023 wurden die für die Registrierung von Asylanträgen zuständigen Questuras mehrfach von italienischen Zivilgerichten verurteilt, nachdem sie Asylsuchenden monatelang den Zugang zum Verfahren verwehrt hatten.

4. Dass Asylbewerber während ihres vorigen Aufenthalts in Italien in einem Camp untergebracht waren, garantiert ihnen nicht, erneut Aufnahme in eine Erstaufnahmeeinrichtung zu finden. Art. 23 des Aufnahmeerlasses, der der Präfektur den Entzug der Aufnahmebedingungen ermöglicht, findet nach Angaben des italienischen Innenministeriums auch auf Dublin-Rückkehrer Anwendung.

5. Frauen, insbesondere ausländische Frauen, sind auf dem italienischen Arbeitsmarkt erheblich benachteiligt. Bei den in Italien lebenden Ausländern ist die Wahrscheinlichkeit, von absoluter Armut betroffen zu sein, mehr als viermal so hoch wie bei Inländern.

6. Obdachlose Geflüchtete wurden in Italien im Jahr 2023 mehrfach Opfer von Gewalttaten und hunderte obdachlose Menschen starben an Unterkühlung und unbehandelten Krankheiten.

7. Notschlafstellen für die Nacht sind in Italien keine Unterkünfte, welche die elementaren Bedürfnisse von Geflüchteten erfüllen könnten.

8. Die italienische Regierung behindert und vereitelt weiterhin gezielt den Zugang von Geflüchteten zum Asylverfahren in der EU, zuletzt durch die Initiierung eines Abkommens der EU-Kommission mit Tunesien zur Eindämmung irregulärer Migration und den Abschluss eines weiteren Abkommens mit Albanien."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Italien, Dublinverfahren, systemische Mängel, Obdachlosigkeit, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Frauen, Existenzgrundlage,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Nach der aktuellen Rechtsprechung der erkennenden Kammer droht Schutzsuchenden in Italien im Falle ihrer Rückführung eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung in Form von Obdachlosigkeit sowohl im Zeitraum bis zur förmlichen Registrierung ihres Asylantrags als auch nach Zuerkennung eines Schutzstatus und dem Ausscheiden aus dem staatlichen Aufnahmesystem [...]. Ferner ist aufgrund aktueller Erkenntnisse davon auszugehen, dass es Italien nicht nur an den Kapazitäten, sondern auch an der Bereitschaft fehlt, Geflüchteten ordnungsgemäßen Zugang zum Asylverfahren zu ermöglichen. Dies führt dazu, dass die den Bestimmungen der Dublin III-VO zugrundeliegende Prämisse gegenseitigen Vertrauens unter den Mitgliedsstaaten hinsichtlich Italiens erschüttert ist.

Für die Anwendung von Art. 4 GRC ist es gleichgültig, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss dazu kommt, dass die betreffende Person aufgrund ihrer Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Dublin III-Verordnung einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren. [...]

Eine Gefahr von Obdachlosigkeit besteht für die Klägerin wie auch für andere Geflüchtete in Italien zum einen im Vorfeld der förmlichen Registrierung als Asylsuchende, weil Geflüchtete in dieser Phase kein Recht auf Unterkunft haben. [...]

Die italienische Gesetzgebung legt fest, dass ein Antragsteller das Recht hat, eine Unterkunft zu erhalten, sobald er den Willen bekundet hat, internationalen Schutz zu suchen. Die Aufnahme in das Asylsystem erfolgt dabei jedoch erst nach der Formalisierung des Antrags mit dem Ausfüllen des entsprechenden Formulars. Diese Praxis hat zur Folge, dass Asylbewerber, einschließlich Dublin-Rückkehrer, bis zur Registrierung ihres Asylantrags ohne Unterkunft - und damit auch ohne angemessene medizinische Behandlung - bleiben [...].

Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln kann sich die Wartezeit bis zur förmlichen Registrierung des Asylantrags auf mehrere Wochen oder sogar Monate erstrecken. [...]

Obwohl in Art. 4 und 5 des italienischen Aufnahmeerlasses klargestellt wird, dass das Fehlen eines Wohnsitzes kein Hindernis für den Zugang zu internationalem Schutz darstellt, verweigerten Questura-Büros darüber hinaus in einigen Fällen den Zugang zum Verfahren wegen des fehlenden Nachweises des Wohnsitzes, z. B. durch einen Mietvertrag oder eine Gastfreundschaftserklärung einschließlich des Ausweises der aufnehmenden Person. [...]

Dass die Klägerin nach eigenen Angaben während ihres einwöchigen Aufenthalts in Italien in einem Camp untergebracht war, garantiert ihr nicht, erneut Aufnahme in eine Erstaufnahmeeinrichtung zu finden. In Italien existiert bis heute kein standardisiertes Verfahren zur Wiederaufnahme von Dublin-Rückkehrern in das Asylsystem [...]. Folglich kann nicht davon ausgegangen werden, dass dieselbe Verfahrensweise noch einmal auf die Klägerin angewandt werden wird. Darüber hinaus drohen Rückkehrer, die vor ihrer Ausreise aus Italien in Aufnahmezentren für Asylbewerber gelebt haben, bei ihrer Rückkehr Probleme zu bekommen, eine neue Unterkunft zu beantragen. Aufgrund ihrer ersten Ausreise und gemäß den Regeln für den Entzug der Aufnahmebedingungen kann die Präfektur ihnen den Zugang zum Aufnahmesystem verweigern. [...]

Ferner droht der Klägerin ebenso wie auch anderen Geflüchteten in Italien Obdachlosigkeit nach ihrem Ausscheiden aus dem Asylverfahren im Falle der Zuerkennung eines internationalen Schutzstatus durch die italienischen Behörden.

Das italienische System basiert auf der Annahme, dass Personen mit Schutzstatus für sich selbst sorgen können und müssen. Nach der Gewährung eines Schutzstatus sind anerkannte Geflüchtete nicht mehr berechtigt, in Erstaufnahmeeinrichtungen oder CAS ("Centro di Accoglienza Straordinaria") zu bleiben. Zwar dürfen sie zunächst SAI-Unterkünfte ("Sistema di accoglienza ed integrazione", ehemals SPRAR/ SPROIMI) aufsuchen. Die Knappheit der verfügbaren Plätze im SAI-Netz und zahlreiche Verfahrensfragen führen jedoch häufig dazu, dass die Person aus der Aufnahmeeinrichtung, in der sie als Asylbewerber akzeptiert wurde, entlassen wird, bevor ihre Aufnahme in ein SAI-Zentrum geregelt ist. [...]

Es ist unwahrscheinlich, dass die Klägerin überhaupt in der Lage wäre, die finanziellen Mittel für eine private Wohnung aufzubringen. Sie hat nach eigenen Angaben all ihre finanziellen Mittel aus dem ihr von ihrer Mutter überlassenen Goldschmuck für ihren Umzug nach ... im Irak und sodann für den Schlepper ausgegeben, um aus der Türkei nach Italien reisen zu können. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass sie über weitere Ersparnisse verfügt. Folglich wird sie eine Arbeitsstelle benötigen, um die Miete zahlen zu können. Doch im Allgemeinen bestehen für Geflüchtete Schwierigkeiten beim Zugang zum Arbeitsmarkt. In Anbetracht der derzeit hohen Arbeitslosigkeit in Italien ist es für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus äußerst schwierig, Arbeit zu finden. Schwarzarbeit ist verbreitet. Viele Zuwanderer arbeiten in der Landwirtschaft, oft unter prekären Bedingungen und sind anfällig für Ausbeutung. Üblicherweise sind die wenigen Arbeitsplätze, die Asylsuchenden und Schutzberechtigten zur Verfügung stehen, schlecht bezahlt und zeitlich begrenzt. Der Lohn reicht in der Regel nicht aus, um eine Wohnung zu mieten [...].

Zusätzlich zu den oben beschriebenen Problemen haben Geflüchtete insbesondere in den letzten Jahren eine zunehmende Stigmatisierung und Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt erlebt. [...]

Zwar gibt es regional organisierte Notunterkünfte, die meist von Trägern des sog. Dritten Sektors, also nichtstaatlich von Nichtregierungsorganisationen oder kirchlichen Organisationen, betrieben werden. Diese sind jedoch nicht langfristig ausgerichtet, manche von ihnen haben Verträge mit der Gemeinde und werden vor allem zu Winterzeiten geöffnet. Die Dauer dieser Projekte der Aufnahme hängt von der Verfügbarkeit der finanziellen Mittel ab, sie sind mithin nicht kontinuierlich garantiert. [...]

Weil somit davon ausgegangen werden muss, dass die Klägerin, bevor ihr Zugang zum Aufnahmesystem gewährt wird bzw. nachdem dieser Zugang mit dem Abschluss des Asylverfahrens erloschen ist, weder eine Sozialwohnung noch eine Wohnung auf dem privaten Wohnungsmarkt noch einen dauerhaften Platz in einer Notunterkunft finden wird, droht ihr in diesen Phasen ein Leben auf der Straße.

Aufgrund mangelnder Kapazitäten des offiziellen Aufnahmesystems oder weil sie ihr Recht auf Zugang zum Aufnahmesystem verloren haben, sind viele Asylbewerber und Schutzberechtigte obdachlos und leben auf der Straße oder in informellen Siedlungen, besetzten Häusern oder Barackensiedlungen in verschiedenen italienischen Städten, in der Regel unter unzumutbaren Bedingungen [...]. Aktuelle Berichte dokumentieren zudem, dass Asylsuchende auch infolge der verzögerten oder verweigerten Registrierung ihrer Anträge obdachlos werden. [...]

Sofern andere Verwaltungsgerichte (VG Bremen, Beschluss vom 13.01.2022 - 6 V 828/21, 8345068 -, juris; VG Greifswald, Urteil vom 17.11.2022 - 3 A 1301/22 HGW -, juris Rn. 38; VG Dresden, Beschluss vom 02.11.2022 - 12 L 745/22.A, 9468164 -, juris, VG Cottbus, Urteil vom 08.09.2022 - VG 5 K 754/19.A, 7791080 -, juris; VG Köln, Urteil vom 25.08.2022 - 8 K 7119/19.A -, juris Rn. 58) die Gefahr einer Obdachlosigkeit damit abtun, dass die Geflüchteten auf kommunale Notunterkünfte zugreifen könnten, überzeugt dies aus den ausgeführten Gründen nicht. Es ist nicht nachvollziehbar, dass Notunterkünfte eine gangbare Lösung sein sollen, insbesondere, wenn die Gerichte zugleich einräumen, dass die genaue Anzahl an Plätzen in Notunterkünften schwierig auszumachen ist, sich die Plätze aufgrund der Covid-19-Pandemie reduziert haben, die Nachfragen infolge der Wirtschaftskrise indes gestiegen sind und Italien keinen nationalen Plan hat, der eine Erhöhung der Anzahl an Plätzen für die vorübergehende Unterbringung von Obdachlosen vorsieht. Zudem muss davon ausgegangen werden, dass die von mehreren Gerichten zitierte Zahl von 10.000 Obdachlosen in ganz Italien im Jahr 2018 [...], somit von nur etwa 0,016 % der Bevölkerung, deutlich zu niedrig angesetzt ist. Das Nationale Institut für Statistik (ISTAT) geht für das Jahr 2021 von 500.000 wohnungslosen Menschen aus, die auf der Straße oder in Behelfsunterkünften, etwa in Lagern und geduldeten oder spontanen Siedlungen, leben. [...]

Ein, wenn auch nur vorübergehendes, Leben in Obdachlosigkeit würde für die Klägerin eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung darstellen.

Die Lebensbedingungen von Asylbewerbern und Flüchtlingen in besetzten Häusern, Slums und auf der Straße sind miserabel. Sie leben am Rande der Gesellschaft, ohne Aussicht auf eine Verbesserung ihrer Situation. Sie kampieren meist in kleinen Gruppen in Randgebieten, wo die Polizei sie nicht finden kann, um sie für das Schlafen im Freien zu bestrafen. Infolgedessen haben sie nicht nur keinen Zugang zu territorialen Sozial- und Gesundheitsdiensten, sondern auch zu den elementarsten Gütern wie Wasser, Lebensmitteln und Strom. Ihr Alltag besteht aus der Deckung ihrer Grundbedürfnisse, wie der Suche nach Nahrung und einem Schlafplatz [...]. Geflüchtete ohne festen Wohnsitz haben zudem kaum Zugang zu medizinischen Leistungen, denn, um sich beim nationalen Gesundheitsdienst (SSN) anzumelden, müssen sich Asylbewerber oder Personen mit Schutzstatus an das örtliche ASL ("azienda sanitaria locale", lokale Gesundheitsbehörde) wenden und dort u. a. eine gültige Aufenthaltserlaubnis, eine Wohnsitzbescheinigung bzw. eine Erklärung über den tatsächlichen Aufenthalt, wie auf der Aufenthaltserlaubnis angegeben, sowie eine Steueridentifikationsnummer vorlegen. Dies stellt ein schwer überwindbares Hindernis dar sowohl für asylsuchende Personen, deren Anträge noch nicht formell bei der Questura registriert wurde, als auch für Personen mit internationalem Schutz, die obdachlos geworden sind und deshalb Schwierigkeiten haben, ihre Aufenthaltserlaubnis zu verlängern und/oder einen Wohnsitznachweis zu erbringen. Die Angabe einer fiktiven Adresse oder der Adresse einer Nichtregierungsorganisation als Wohnsitz wird von vielen Behörden nicht zugelassen (SFH, Reception conditions in Italy Updated, Januar 2020, S. 73, 75).

Zudem mangelt es in Italien an Unterstützungsleistungen für Obdachlose. [...]

Systemische Mängel des italienischen Asylsystems liegen darüber hinaus darin, dass die italienische Regierung den Zugang von Geflüchteten zum Asylverfahren zielgerichtet behindert und vereitelt. Die Situation Geflüchteter hat sich durch den Wechsel zu der rechtsextremen Regierung unter Giorgia Meloni noch verschärft. Die Menschenrechtskommissarin des Europarates zeigte sich nach einem Länderbesuch in Italien im Juni 2023 besorgt über die Erklärungen hochrangiger italienischer Politiker, die eine systematische Politik des Abfangens auf See und der Rückführung von Flüchtlingen, Asylbewerbern und Migranten fordern, um deren Ankunft zu verhindern [...].

Die auf Zurückweisung und Abschreckung fokussierte italienische Asylpolitik wirkt sich auch auf Dublin-Verfahren aus. Bereits Anfang Dezember 2022 verkündeten die italienischen Behörden einen Aufnahmestopp für Dublin-Rückkehrer. [...]

Das OVG Nordrhein-Westfalen führte im Beschluss vom 16.06.2023 (11 A 1132/22.A - asyl.net: M31640) aus, dass die Schreiben der italienischen Behörden vom 05. und 07.12.2022 nicht eine lediglich vorübergehende, zeitlich begrenzte Aussetzung der Annahme von Überstellungen darstellten. [...]

Denn der Aufnahmestopp kann nicht losgelöst von dem sonstigen Umgang Italiens mit Asylsuchenden betrachtet werden. Vielmehr ist er nur eine weitere Ausprägung des Abschottungskurses der italienischen Regierung, welche bereits in den regelmäßigen Verstößen der italienischen Grenzschutzbehörden gegen das Non-Refoulement-Gebot zum Ausdruck kommen. [...]

Diese Erkenntnisse bestätigen die Einschätzung, dass es Italien nicht nur an den Kapazitäten, sondern auch an der Bereitschaft mangelt, Geflüchteten ordnungsgemäßen Zugang zum Asylverfahren zu gewähren. [...]