Anordnung sofortiger Vollziehung einer Abschiebungsandrohung bei einfach unbegründeter Asylablehnung rechtswidrig:
1. Lehnt das Bundesamt einen Asylantrag in einem nationalen Erstverfahren als einfach unbegründet ab, ist die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Abschiebungsandrohung rechtswidrig.
2. Denn die Anwendung von § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO, wonach im Verwaltungsverfahren grundsätzlich die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse angeordnet werden kann, ist aufgrund der abschließenden Regelungen in § 75 AsylG zum Rechtsschutz bei einer einfachen Ablehnung und angesichts der europarechtlichen Regelungen des Art. 46 Abs. 5 Asylverfahrensrichtlinie [RL 2013/32/EU] ausgeschlossen.
3. Zudem führt die Anordnung der sofortigen Vollziehung zu einer vollziehbaren Rückkehrentscheidung, bevor die Ausreisefrist zu laufen begonnen hat. Diese in sich widersprüchlichen Regelungen sind mit dem Grundsatz eines wirksamen Rechtsbehelfes nach Unionsrecht nicht zu vereinbaren
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
3 Mit Bescheid vom 3. November 2023 lehnte das Bundesamt eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1), der Asylberechtigung (Ziffer 2) sowie des subsidiären Schutzes (Ziffer 3) als unbegründet ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG (Ziffer 4) nicht vorliegen. Des Weiteren forderte es den Antragsteller auf, binnen 30 Tagen nach Bekanntgabe bzw. Unanfechtbarkeit des Bescheides die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen, und drohte ihm bei Nichteinhaltung der Ausreisefrist die Abschiebung in den Libanon an (Ziffer 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot befristete es auf 54 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6). Die sofortige Vollziehung wurde angeordnet (Ziffer 7). Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, dass die Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes oder für die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nicht vorlägen. Bei der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes sei die Teilnahme des Antragstellers an zahlreichen Demonstrationen des international agierenden palästinensische Gefangenenunterstützungsnetzwerk "Samidoun – Palestinian Solidarity Network" ("Samidoun") sowie der Gruppierung "Bewegung des Alternativen Revolutionären Palästinensischen Pfads" ("Masarbadil") zu berücksichtigen, bei denen es wiederholend zu israelfeindlichen und antisemitischen Äußerungen gekommen sei und teilweise Polizeivollzugskräfte angegriffen worden seien. Die sofortige Vollziehung des Bescheides sei anzuordnen, da der Antragsteller aktiv diese Gruppierungen unterstütze und bei einer Interessenabwägung die für den Sofortvollzug sprechenden Interessen der Allgemeinheit das Aufschubinteresse des Antragstellers überwiege. [...]
12 Der Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers wiederherzustellen, ist begründet.
13 Hierbei kann dahinstehen, inwieweit die Anordnung der sofortigen Vollziehung formell rechtmäßig ist. [...]
14 Die gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1, 2. Alt. VwGO gebotene Abwägung der widerstreitenden Interessen fällt zugunsten des Antragstellers aus. [...]
15 Im Asylgesetz besteht für eine solche Anordnung keine Rechtsgrundlage (siehe 1.) und diese kann auch nicht in zulässiger Weise auf § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO gestützt werden. Dies ergibt die systematische (siehe 2.) sowie die unionsrechtskonforme Auslegung (siehe 3.). Die Zulässigkeit der behördlichen Anordnung der sofortigen Vollziehung ergibt sich auch nicht aus einem Umkehrschluss zur Möglichkeit der behördlichen Aussetzung der Vollziehung (siehe 4.). 16 1. Das Asylgesetz enthält nach der zum Zeitpunkt der Entscheidung geltenden Rechtslage (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) für den vorliegenden Fall keine ausdrückliche Rechtsgrundlage für eine Anordnung der sofortigen Vollziehung.
17 Nach § 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG haben Klagen gegen Entscheidungen nach diesem Gesetz nur in den Fällen des § 38 Abs. 1 sowie des § 73b Abs. 7 Satz 1 aufschiebende Wirkung. Der Klage gegen den Bescheid vom 3. November 2023 kommt (bei Außerachtlassung der Anordnung der sofortigen Vollziehung gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO in Ziffer 7 des Bescheides) aufschiebende Wirkung zu. Denn es handelt sich um eine Ablehnung des Asylantrags gemäß § 38 Abs. 1 AsylG. Die Antragsgegnerin hat die Anträge auf Asylanerkennung und Zuerkennung internationalen Schutzes (Ziffern 1 bis 3 des Bescheides) einfach unbegründet abgelehnt und dem Antragsteller – wie in § 38 Abs. 1 AsylG bestimmt – eine Ausreisefrist von 30 Tagen gesetzt. Die Rechtsbehelfsbelehrung verweist zutreffend auf die zweiwöchige Klagefrist gemäß § 74 Abs. 1 Hs. 1 AsylG.
18 Eine ausdrückliche Regelung, dass abweichend von § 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG Klagen in diesen Konstellationen wegen behördlicher Anordnung der sofortigen Vollziehung auf Grundlage von § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO ausnahmsweise keine aufschiebende Wirkung haben können, ist dem Asylgesetz nicht zu entnehmen. [...]
19 2. Die systematische Auslegung spricht dagegen, dass eine behördliche Anordnung der sofortigen Vollziehung auf Grundlage von § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO in Fällen des § 38 Abs. 1 AsylG zulässig sein soll. Dies zeigt zum einen ein Vergleich mit der Regelung in § 36 Abs. 1 AsylG, der für die Fälle der Unzulässigkeit nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 und 4 AsylG und der offensichtlichen Unbegründetheit des Asylantrages vorsieht, eine Ausreisefrist von nur einer Woche zu setzen. [...]
20 Dies zeigt sich in Ziffern 5 und 7 des Bescheides vom 3. November 2023. Die Abschiebungsandrohung in Ziffer 5 des Bescheides wurde mit der Aussetzungsentscheidung nach § 80 Abs. 4 VwGO verbunden, so dass die durch Bekanntgabe der Aussetzungsentscheidung in Lauf gesetzte Ausreisefrist bis zum Ablauf der zweiwöchigen Klagefrist ausgesetzt wurde. Durch die gleichzeitige behördliche Anordnung der sofortigen Vollziehung der Abschiebungsandrohung in Ziffer 7 des Bescheides müsste im Falle ihrer Vollstreckung der Antragsteller das Bundesgebiet sofort verlassen, auch ohne dass die Ausreisefrist zu laufen begonnen hat.
21 Zum anderen zeigt ein Vergleich der Regelungen in § 75 Abs. 1 und Abs. 2 AsylG, dass vorliegend eine behördliche Anordnung der sofortigen Vollziehung auf Grundlage von § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO ausscheidet. [...]
22 3. Zudem verstößt die Anordnung der sofortigen Vollziehung gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO gegen Unionsrecht. Dies ergibt die Regel-Ausnahme-Systematik (siehe a.) von Art. 46 der Richtlinie 2013/32/EU [...] zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (im Folgenden Verfahrensrichtlinie). Zugleich wird durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung inhaltlich das Gebot eines wirksamen Rechtsbehelfes verletzt (siehe b.).
23 a. § 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG setzt Art. 46 Abs. 5 Verfahrensrichtlinie um. Nach Art. 46 Abs. 1 lit. a Nr. i Verfahrensrichtlinie stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass Antragsteller das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor Gericht gegen eine Entscheidung über ihren Antrag auf internationalen Schutz haben, einschließlich einer Entscheidung, einen Antrag als unbegründet in Bezug auf die Flüchtlingseigenschaft und/oder den subsidiären Schutzstatus zu betrachten. [...]
24 Hieraus ergibt sich, dass Art. 46 Abs. 5 Verfahrensrichtlinie die grundsätzliche Regelung darstellt, die bei Einlegung eines Rechtsbehelfes einen Suspensiveffekt vorsieht. Hiervon sind in Absatz 6 der Norm Ausnahmen vorgesehen, in denen der Suspensiveffekt durchbrochen werden kann [...]. Die in Absatz 6 genannten Fälle stellen Ausnahmevorschriften dar, die grundsätzlich nicht analogiefähig und abschließend sind. Die Ausnahmeregelungen des Absatzes 6 lit. b bis d sind im vorliegenden Fall offensichtlich nicht einschlägig: Lit. b betrifft einige dort nähere präzisierte Antragsablehnungen als unzulässig, lit. c die Wiedereröffnung von eingestellten Verfahren, lit. d die eingeschränkte Prüfung bei Antragstellern aus sicheren Drittstaaten. Asylrechtliche Erstverfahren betrifft nur die Regelung in Absatz 6 lit a. Diese Ausnahmeregelung greift vorliegend nicht, da das Bundesamt weder den Asylantrag des Antragstellers als offensichtlich unbegründet abgelehnt noch sein Asylverfahren in einem beschleunigten Verfahren i.S.v. Art. 31 Abs. 8 Verfahrensrichtlinie durchgeführt hat.
25 Eine weitere Regelung dergestalt, dass Behörden in speziell gelagerten Einzelfällen bei einfach unbegründeten Erstverfahren eine weitere Möglichkeit haben, den Suspensiveffektes eines Rechtsbehelfes zu durchbrechen – z. B. durch Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO –, ist Art. 46 Verfahrensrichtlinie, insbesondere Absatz 6, nicht zu entnehmen. [...]
26 b. Zugleich liegt in der Anordnung der sofortigen Vollziehung einer asylrechtlichen Erstentscheidung auch ein Verstoß gegen unionsrechtliche Verfahrensgarantien, insbesondere in Bezug auf einen wirksamen Rechtsbehelfs, vgl. Art. 46 Abs. 1 Verfahrensrichtlinie und Art. 13 Abs. 1 Richtlinie 2008/115/EG [...]. Das Gebot, dass der Rechtsbehelf gegen die Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz seine volle Wirksamkeit entfaltet, gewährleistet, dass alle Rechtswirkungen einer Rückkehrentscheidung während der Frist für die Einlegung des Rechtsbehelfs und, falls er eingelegt wird, bis zur Entscheidung über ihn auszusetzen sind. [...].
27 Bei gleichzeitiger behördlicher Anordnung der sofortigen Vollziehung in einem Asylerstverfahren sieht ein Mitgliedsstaat gerade nicht von einer zwangsweisen Umsetzung einer Rückkehrentscheidung während des Klageverfahrens ab, ohne dass die Ausreisefrist überhaupt zu laufen begonnen hat. Hierin liegt zugleich faktisch ein Verstoß gegen Art. 7 Rückführungsrichtlinie, wonach grundsätzlich eine angemessene Frist zur freiwilligen Ausreise vorzusehen ist.[...]
28 4. Das Argument der Antragsgegnerin, dass sich die grundsätzliche Anwendbarkeit von § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO auch im nationalen Asylerstverfahren aus einem Umkehrschluss ergebe, da nach höchstrichterlicher Rechtsprechung auch die Aussetzung der Vollziehung nach § 80 Abs. 4 VwGO zulässig sei, überzeugt im Ergebnis nicht. [...]