VG Münster

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Zitieren als:
VG Münster, Urteil vom 15.02.2024 - 2 K 5820/21.A - asyl.net: M32294
https://www.asyl.net/rsdb/m32294
Leitsatz:

Kein Widerruf der Flüchtlingseigenschaft wegen Passausstellung und kurzfristigen Familienbesuchs in Syrien:

1. Für einen Widerruf der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 73 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AsylG, weil sich eine Person freiwillig erneut dem Schutz des Herkunftsstaates unterstellt, ist nicht jede Kontaktaufnahme zu den Behörden des Herkunftsstaates ausreichend. Voraussetzung ist, dass die Person "ohne Not" wieder rechtliche Beziehungen zu dem Staat aufnimmt, sodass aus dem Verhalten auf eine veränderte Einstellung zu diesem geschlossen werden kann.

2. Wurde die Person - nachdem zunächst nur der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt wurde - dazu aufgefordert, einen Nationalpass vorzulegen und nimmt sie deshalb Kontakt zu den Behörden des Herkunftsstaates auf, scheidet ein Widerruf deshalb aus.

3. Reist eine Person nur kurzfristig in ihr Herkunftsland, um einen kranken Familienangehörigen (hier: Mutter) im Krankenhaus zu besuchen und trifft dabei Vorkehrungen, um einer Verfolgung aus dem Weg zu gehen, liegen die Voraussetzungen für den Widerruf der Flüchtlingseigenschaft weder nach § 73 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AsylG, noch nach § 73 Abs. 1 S. 1 AsylG vor.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Widerruf, Einreise in das Herkunftsland, Pass, Krankheit, Familienangehörige, Identitätsklärung,
Normen: AsylG § 73 Abs. 1 S. 2 Nr. 1, AsylG § 73 Abs. 1 S. 2 Nr. 4, AsylG § 73 Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

1. Die zulässige Klage ist begründet. Der streitgegenständliche Widerrufsbescheid vom 1. Dezember 2021 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwG0).

Nach dem im insoweit allein maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung beziehungsweise der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) geltenden § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. [...]

Der nachträgliche Wegfall der Verfolgungsgefahr kann seine Ursache auch in der Person des Betroffenen haben. Der Gesetzgeber hat insofern in § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylG bestimmte Fälle typisiert, unter deren Voraussetzungen regelmäßig davon auszugehen ist, dass die Voraussetzungen zur Erteilung der Flüchtlingseigenschaft nicht mehr vorliegen.

Nach § 73 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG ist das insbesondere der Fall, wenn der Ausländer sich freiwillig erneut dem Schutz des Staates, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, unterstellt (siehe hierzu 1.). Nach § 73 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AsylG ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ferner zu widerrufen, wenn der Flüchtling freiwillig in das Land, das er aus Furcht vor Verfolgung verlassen hat oder außerhalb dessen er sich aus Furcht vor Verfolgung befindet, zurückgekehrt ist oder sich dort niedergelassen hat (siehe hierzu 2.). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. [...]

1. Die Voraussetzungen von § 73 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG liegen nicht vor. Es ist nicht davon auszugehen, dass der Kläger sich nicht freiwillig erneut dem Schutz des syrischen Staates, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, unterstellt hat.

§ 73 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG ist im Lichte von Art. 16a Abs. 1 GG und bei vergleichender Betrachtung der Genfer Konvention einschränkend auszulegen. Danach erfasst die Schutzunterstellung nicht die Rückkehr in die Heimat des Asylberechtigten oder anerkannten Flüchtlings. Diese hat in § 73 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AsylG eine Sonderregelung erfahren. § 73 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AsylG betrifft zuvörderst die Inanspruchnahme diplomatischen oder konsularischen Schutzes des insoweit schutzfähigen Herkunftsstaates. [...]

Insoweit rechtfertigt nicht jede Kontaktaufnahme eines Asylberechtigten oder anerkannten Flüchtlings zu Behörden seines Heimatstaates die Annahme einer zum Widerruf führenden Schutzunterstellung. Erforderlich ist vielmehr, dass der Ausländer "ohne Not" die rechtlichen Beziehungen zu seinem Heimatstaat dauerhaft wiederherstellt oder sich wieder in dessen schützende Hand begibt. Dies setzt voraus, dass aus dem Verhalten des Ausländers auf eine veränderte Einstellung zu seinem Heimatstaat geschlossen werden kann. Die Annahme oder Erneuerung eines Nationalpasses oder eine sonstige Handlung von ähnlichem Gewicht und ähnlicher Aussagekraft kann eine solche veränderte Einstellung zwar indizieren; dies gilt jedoch nur, sofern der äußere Geschehensablauf einer Indizwirkung nicht entgegensteht. Maßgeblich sind die jeweiligen Umstände des Einzelfalls. [...]

Der Ausländer kann die Indizwirkung widerlegen, indem er substantiiert darlegt, dass die erstmalige Ausstellung, Verlängerung oder Erneuerung des Nationalpasses aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalles nicht als Schutzunterstellung zu werten ist [...]

Dies ist dem Kläger gelungen. Es ist nicht davon auszugehen, dass der Kläger sich durch den Neuerwerb eines syrischen Nationalpasses am 18. April 2022 im Sinne von § 73 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 i.V.m. Satz 1 AsylG erneut dem Schutz des syrischen Staates unterstellt hat. Denn er hat in der mündlichen Verhandlung zur Überzeugung des erkennenden Gerichts glaubhaft (§ 108 Abs. 1 VwG0) und substantiiert triftige Gründe vorgetragen, die das mit der erneuten Passbeantragung verbundene Indiz in seinem besonderen Fall widerlegen. Er hat glaubhaft geschildert, von der zuständigen Ausländerbehörde zur Verlängerung beziehungsweise zur Neuausstellung seines syrischen Passes zwecks Identitätsnachweis aufgefordert worden zu sein, als er sich, nachdem ihm vom Bundesamt zunächst nur der subsidiäre Schutz zuerkannt wurde, dort zwecks Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vorstellte, weil sein vorheriger syrischer Nationalpass abgelaufen war. Dass er sich dieser plausibel dargelegten Aufforderung, die der aus Sicht der Ausländerbehörde damals - unter den Voraussetzungen des subsidiären Schutzes - geltenden rechtlichen Anforderungen entsprach, fügte, kann ihm heute redlicher Weise nicht zu seinem Nachteil als eine Unterschutzstellung unter den syrischen Staat vorgehalten werden, zumal er sich hierfür nicht der Zugriffsgewalt der syrischen "Sicherheits-" oder Militärbehörden ausgesetzt hat, sondern von Deutschland aus tätig wurde. Vielmehr handelt es sich um ein Befolgen von Aufforderungen durch deutsche Verwaltungsbehörden, nachdem der Kläger sich dem Schutz des deutschen Staates unterstellt hat.

2. Auch die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AsylG liegen nicht vor. Nach dieser Bestimmung ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu widerrufen, wenn der Flüchtling freiwillig in das Land, das er aus Furcht vor Verfolgung verlassen hat oder außerhalb dessen er sich aus Furcht vor Verfolgung befindet, zurückgekehrt ist und sich dort niedergelassen hat. [...]

Diese Voraussetzungen liegen im Falle des Klägers ersichtlich mit Blick auf die nur kurzzeitige Rückreise nach Syrien wegen der Erkrankung seiner Mutter nicht vor. Der Kläger hat sich dort nach seinen glaubhaften Angaben nur vorübergehend und in der Wohnung eines Onkels mütterlicherseits, in dem seine Familie in Syrien sich aufhält, aufgehalten.

3. Auch andere Umstände, die in Anwendung von § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG die Annahme einer erheblichen Änderung der gefahrbegründenden Umstände tragen würden, liegen nicht vor.

Eine bloß kurzfristige Reise in den Herkunftsstaat führt nicht zwingend zu der Annahme, dass sich der Ausländer dem Schutz seines Heimatstaates erneut unterstellen will oder dass dort keine Verfolgungsgefahr mehr bestehe. Eine nur vorübergehende Rückkehr, etwa zum Zweck kürzerer Familienbesuche, insbesondere zur Erfüllung einer sittlichen Pflicht, stellt daher gerade kein zwingendes Indiz für einen Wegfall der Verfolgungsgefahr dar. Reist der Schutzberechtigte jedoch für einen nicht völlig unbedeutenden Zeitraum freiwillig in seinen Herkunftsstaat zurück, geht er offenbar selbst davon aus, dass ihm dort keine beachtliche Verfolgung mehr droht. [...]

In Anwendung dieser Maßgaben ist nicht von einer geänderten Sachlage im Sinne des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG dergestalt auszugehen, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in der Person des Klägers nicht mehr vorliegen. [...] Der Kläger hat eine sittliche Verpflichtung für die kurzzeitige Rückreise nach Syrien glaubhaft gemacht. Zur Zeit seiner Reise litt seine Mutter an einer schwerwiegenden Erkrankung und war ins Krankenhaus eingeliefert worden. Der Kläger hat diese Erkrankung auch durch eine ärztliche Bescheinigung aus Syrien in deutscher Übersetzung substantiiert. Darüber hinaus hat der Kläger verschiedene Vorkehrungen getroffen, um während seines kurzzeitigen Aufenthalts von wenigen Wochen in Syrien Verfolgungshandlungen gegen seine Person auszuschließen. Er berichtete, die von ihm zwecks Besuchen bei seiner Mutter im Krankenhaus zu passierende Straßensperre zu Fuß umgangen zu haben und erst danach in ein Taxi gestiegen zu sein, um Kontrollen seiner Papiere zu verhindern. Seine Ein- und Ausreise in Syrien habe er durch Zahlung nicht unerheblicher Bestechungsgelder (2.500 Euro bei Einreise, 3.000 Euro bei Ausreise) ermöglicht. [...]