Keine Annahme des Flüchtigseins wegen einmaligen Nichtantreffens in Unterkunft:
1. Die Überstellungsfrist kann nicht gemäß Art. 29 Abs. 2 S. 2 Dublin-III-VO auf 18 Monate verlängert werden, wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge das Flüchtigsein nur auf eine Mitteilung der Ausländerbehörde stützt, wonach die betroffene Person bei einer Wohnungskontrolle nicht angetroffen worden sei.
2. Der Umstand, dass die Person einmalig kurzfristig nicht anzutreffen war, lässt nicht auf die Absicht schließen, sich der Überstellung zu entziehen. Insbesondere muss eine Person, die nur für kurze Zeit aus ihrer Unterkunft abwesend ist, dies nicht der Ausländerbehörde anzeigen.
3. Im Übrigen muss die Abwesenheit kausal dafür sein, dass die Überstellung nicht erfolgen kann, um von einem Flüchtigsein auszugehen. Da für den Tag des Nichtantreffens durch die Ausländerbehörde keine Überstellung geplant war, war dies nicht der Fall, sodass auch deshalb eine Verlängerung der Überstellungsfrist ausscheidet.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Der in der Dublin III-Verordnung verwendete Begriff des Flüchtigseins ist nicht legal definiert. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, auf die die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts Bezug nimmt, ist der Begriff als Voraussetzung für ein ausnahmsweises Abweichen von der grundsätzlich einzuhaltenden sechsmonatigen Überstellungsfrist eng auszulegen. Ein Antragsteller ist flüchtig im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO, wenn er siv ch den für die Durchführung seiner Überstellung zuständigen nationalen Behörden gezielt entzieht, um die Überstellung zu vereiteln. [...]
Grundsätzlich reicht bei einem den zuständigen Behörden bekannten Aufenthalt des Asylbewerbers weder ein einmaliges Nichtantreffen in der Wohnung oder Unterkunft noch das Nichtbefolgen einer Selbstgestellungsaufforderung für die Annahme, er sei flüchtig. Flüchtigsein ist mehr als eine vorübergehende kurze Unerreichbarkeit. Bei einer kurzen und vorübergehenden Abwesenheit ist der Staat weder rechtlich noch tatsächlich an der Durchführung einer (zwangsweisen) Überstellung gehindert. Dies gilt jedenfalls, solange keine Anhaltspunkte für eine längere Ortsabwesenheit oder für ein gezieltes Entziehen vorliegen, etwa wenn der Betroffene in Kenntnis einer konkret bevorstehenden Überstellung oder generell zu den üblichen Abholzeiten in der ihm zugewiesenen Wohnung oder Unterkunft im Sinne eines gezielten Ab- und Wiederauftauchens nicht anwesend oder auffindbar ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 17. August 2021, a.a.O., Rn. 22, 30 f.).
Gemessen an diesen Grundsätzen kann von einem Flüchtigsein der Klägerin im Zeitpunkt der Verlängerungsentscheidung nicht ausgegangen werden. Die Beklagte stützt ihre Entscheidung auf die Mitteilung der Ausländerbehörde vom 20. September 2023, wonach die Klägerin bei einer Wohnungskontrolle am 20. September 2023 nicht angetroffen worden sei. Seit wann die Klägerin nicht mehr in der Wohnung sei, konnte nicht ermittelt werden. Sie habe aber weder im elektronischen Erfassungssystem der Einrichtung noch durch visuelle Kontrollen, noch zu Taschengeldauszahlungen als anwesend festgestellt werden können. Aus diesen Tatsachen kann jedoch nicht auf ein Flüchtigsein der Klägerin geschlossen werden. "Flüchtigsein" ist mehr als eine vorübergehende kurze Unerreichbarkeit. Solange ein Ausreisepflichtiger in seiner Wohnung oder Unterkunft tatsächlich wohnt, dort also seinen Lebensmittelpunkt hat, und nur gelegentlich für kurze Zeit abwesend ist, muss er dies der Ausländerbehörde nicht anzeigen (VG München, Urt. v. 26. Juli 2022 - M 5 K 21.50300 - juris Rn. 27). Allein der Umstand, dass die Klägerin am 20. September 2023, 10.30 Uhr nicht in ihrer Wohnung anwesend war, vermag vorliegend keine Anhaltspunkte für ein gezieltes Entziehen der Überstellung zu begründen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass das Verhalten der Klägerin nicht kausal dafür gewesen sein kann, nicht an den zuständigen Mitgliedstaat überstellt zu werden, da insofern eine Überstellung der Klägerin am 20. September 2023 nicht beabsichtigt gewesen ist. Es fand lediglich eine "Wohnungskontrolle" statt. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass die Anwesenheit der Klägerin nicht über das elektronische Erfassungssystem, durch visuelle Kontrollen oder bei Taschengeldabholungen festgestellt werden konnte. Gleiches gilt für den Umstand, dass der Enkelsohn nicht über den Aufenthaltsort der Klägerin Auskunft geben konnte und persönliche Gegenstände in der Wohnung nicht angetroffen wurden. All diese Umstände ermöglichen auch in ihrer Gesamtschau keinen sicheren Rückschluss darauf, dass die Klägerin generell zu den üblichen Abholzeiten in der ihr zugewiesenen Wohnung oder Unterkunft im Sinne eines gezielten Ab- und Wiederauftauchens nicht anwesend oder auffindbar ist (so ausdrücklich BVerwG, Urt. v. 17. August 2021 - 1 C 38.20 - InfAuslR 2022, 74, juris Rn. 30). Von einem "wochenlangen Untertauchen" der Klägerin, wie es die Beklagte annimmt, kann daher nicht ausgegangen werden. Hierfür spricht auch der Umstand, dass die Klägerin regelmäßig auf gerichtliche Post, welche unter ihrer Anschrift zugestellt wurde, reagiert hat. So konnte etwa die Betreibensaufforderung vom 2. Februar 2024 an die Klägerin zugestellt werden; mit Schreiben vom 7. Februar 2024 gab sie dem Gericht die begehrten Auskünfte. [...]