VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 08.11.2021 - 7 K 917/21 - asyl.net: M32229
https://www.asyl.net/rsdb/m32229
Leitsatz:

Anspruch auf Kostenerstattung für Beschaffung eines Identitätsdokuments bei Jugendhilfe:

"1. Bei stationär untergebrachten jungen Ausländern stellen die Kosten für die Beschaffung eines ausländi­schen Identitätsdokuments einen Sonderbedarf dar, der grundsätzlich nach § 39 Absatz 3 SGB VIII übernommen werden kann (Rn. 36).

2. Die Gewährung von Leistungen nach § 39 Absatz 3 SGB VIII steht grundsätzlich im Ermessen des Jugendamts (Rn. 40).

3. Wenn der Sonderbedarf aufgrund der Notwendigkeit der Erfüllung einer verwaltungsrechtlichen Pflicht entsteht, der der junge Ausländer ohne eine Deckung seines Sonderbedarfs nicht nachkommen kann, ist das Ermessen des Jugendamts auf Null reduziert (Rn. 40)."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Jugendhilfe, unbegleitete Minderjährige, Identitätsdokument, Kosten, stationäre Jugendhilfe, Botschaft, Passbeschaffung, junge Volljährige
Normen: SGB VIII § 39 Abs. 3, SGB VII § 89d, SGB VIII § 89f, SGB VII § 19, SGB VIII § 41 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

31 Die Klägerin hat gegenüber dem Beklagten einen Anspruch auf die Zahlung von 500 Euro gemäß § 89d i. V. m. § 89f SGB VIII.

32 Nach § 89d Absatz 1 Satz 1 SGB VIII sind Kosten, die ein örtlicher Träger der Jugendhilfe aufwendet, vom Land zu erstatten, wenn innerhalb eines Monats nach der Einreise eines jungen Menschen oder eines Leistungsberechtigten nach § 19 SGB VIII Jugendhilfe gewährt wird und sich die örtliche Zuständigkeit nach dem tatsächlichen Aufenthalt dieser Person oder nach der Zuweisungsentscheidung der zuständigen Landesbehörde richtet [...]

33 Nach diesen Maßgaben hat die Klägerin gegenüber dem Beklagten einen Anspruch auf die Zahlung von 500 Euro.

34 Die Voraussetzungen des § 89d Absatz 1 SGB VIII sind gegeben, weil die Klägerin dem ... innerhalb eines Monats nach seiner Einreise Jugendhilfe gewährte und sich die örtliche Zuständigkeit nach dem tatsächlichen Aufenthalt des ... richtete. Als Einreisezeitpunkt gilt dabei der 14.3.2016 gemäß § 89d Absatz 1 Satz 2 SGB VIII, weil der Tag des Grenzübertritts nicht amtlich und der Aufenthalt des ... im Inland erstmals an diesem Tag durch Vorsprache des ... bei der LEA ... festgestellt wurde. Schon am 14.3.2016 nahm die Klägerin den ... vorläufig in Obhut, sodass die Monatsfrist eingehalten wurde. Die örtliche Zuständigkeit der Klägerin richtete sich dabei nach § 88a Absatz 1 SGB VIII sowie in der Folge nach § 88a Absatz 1 und 2 Satz 2 sowie Absatz 3 Satz 2 und § 86a Absatz 4 Satz 1 SGB VIII und damit nach dem tatsächlichen Aufenthalt des ...

35 Des Weiteren sind auch die Voraussetzungen des § 89f Absatz 1 Satz 1 SGB VIII gegeben, weil die Erfüllung der Aufgabe den Vorschriften des SGB VIII entsprach. Denn nach § 41 Absatz 1 SGB VIII erhalten junge Volljährige geeignete und notwendige Hilfe nach diesem Abschnitt, wenn und solange ihre Persönlichkeitsentwicklung eine selbstbestimmte, eigenverantwortliche und selbständige Lebensführung nicht gewährleistet. Für die Ausgestaltung der Hilfe gilt nach § 41 Absatz 2 SGB VIII unter anderem § 39 SGB VIII entsprechend. Nach § 39 Absatz 1 SGB VIII ist auch der notwendige Unterhalt des jungen Volljährigen außerhalb des Elternhauses sicherzustellen. [...]

36 Nach der Rechtsauffassung des Gerichts fallen die Kosten für die Beschaffung eines beglaubigten Auszugs aus dem Geburtenregister des ... sowie der Staatsangehörigkeitsbescheinigung im Original unter den Sonderbedarf nach § 39 Absatz 3 SGB VIII und konnten daher von der Klägerin zu Recht erstattet werden. Denn nach der insoweit unbestrittenen Einlassung der Klägerin stellten ein beglaubigter Auszug aus dem Geburtenregister sowie die Staatsangehörigkeitsbescheinigung im Original Voraussetzungen für Ausstellung eines Passes für ... durch die togolesische Botschaft dar. Eine Kopie der Geburtsurkunde, wie sie der ... besaß, hätte demgemäß ersichtlich nicht ausgereicht, um die Anforderungen der togolesischen Botschaft zu erfüllen. ... unterlag dabei gemäß § 3 Absatz 1 Satz 1 AufenthG als Ausländer der Passpflicht, deren Erfüllung gemäß § 5 Absatz 1 Nummer 4 AufenthG regelmäßig eine Voraussetzung für die Erteilung eines Aufenthaltstitels darstellt. Des Weiteren war der ... nach § 48 Absatz 3 Satz 1 AufenthG verpflichtet, bei der Beschaffung des Identitätspapiers mitzuwirken. Die Nichterfüllung der zumutbaren Erlangung eines Passes bei einem Aufenthalt im Bundesgebiet wird zudem über § 95 Absatz 1 Nummer 1 AufenthG strafrechtlich sanktioniert.

37 Vor diesem Hintergrund folgt das Gericht der im DIJuF-Rechtsgutachten vom 7.4.2020 niedergelegten Auffassung, nach der bei stationär untergebrachten jungen Ausländern die Kosten für die Beschaffung eines ausländischen Identitätsdokuments, und damit auch die Kosten für die hierfür erforderlichen Urkunden – vorliegend der beglaubigte Auszug aus dem Geburtenregister des ... sowie die Staatsangehörigkeitsbescheinigung im Original – einen Sonderbedarf darstellen, der grundsätzlich nach § 39 Absatz 3 SGB VIII seitens der Klägerin übernommen werden konnte. Denn diese Kosten entstehend zur Erfüllung einer verwaltungsrechtlichen Pflicht und gehören somit zum notwendigen Lebensbedarf [...]. Dass ... zum maßgeblichen Zeitpunkt schon volljährig war, führt dabei nicht zu einer anderen Bewertung, weil die zuvor genannten Pflichten gerade auch für junge volljährige Ausländer gelten.

38 Auch die Höhe der aufgewendeten Kosten ist mit Blick auf den Interessenwahrungsgrundsatz nicht zu beanstanden. [...]

39 Dass die in Rede stehenden 500 Euro seitens der Klägerin für die Beschaffung der genannten Dokumente ausgegeben worden sind, ergibt sich im Übrigen mit hinreichender Deutlichkeit aus dem E-Mail-Verkehr der Klägerin mit dem hierfür von ihr beauftragten Vertrauensanwalt.

40 Die Gewährung von Leistungen nach § 39 Absatz 3 SGB VIII steht zwar grundsätzlich im Ermessen des Jugendamts [...]. Da der Sonderbedarf des ... vorliegend aufgrund der Notwendigkeit der Erfüllung einer verwaltungsrechtlichen Pflicht entstanden ist, der der ... ansonsten nicht hätte nachkommen können, war das Ermessen der Klägerin jedoch auf Null reduziert. [...]