VGH Baden-Württemberg

Merkliste
Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 12.02.2024 - 11 S 1722/23 - asyl.net: M32226
https://www.asyl.net/rsdb/m32226
Leitsatz:

Kein Duldungsanspruch trotz Integration und drohender Familientrennung bei schwerwiegender Straftat:

"Die Abschiebung eines drittstaatsangehörigen Ausländers, der im Bundesgebiet erfolglos ein Asylverfahren betrieben hat und wegen einer schwerwiegenden Straftat (Vergewaltigung) rechtskräftig zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe verurteilt wurde, kann auch dann zulässig sein, wenn der Ausländer eine Ausbildung erfolgreich abgeschlossen hat, im Ausbildungsberuf einer Erwerbstätigkeit nachgeht, eine durch Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 7 und Art. 24 Abs. 3 EU-GR-Charta sowie Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Beziehung zu seinem minderjährigen Kind (vier Jahre) führt, das selbst [...] mit gesichertem Aufenthalt im Bundesgebiet ist, und Vater und Kind voraussichtlich [...] dauerhaft räumlich getrennt sein werden."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Eltern-Kind-Verhältnis, Achtung des Familienlebens, Ausweisungsinteresse, Straftat, Sexualdelikt, Familientrennung, Familieneinheit,
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1, VwGO § 123, GG Art. 6, GR-Charta Art. 7, GR-Charta Art. 24, EMRK Art. 8 Abs. 1
Auszüge:

[...]

1 Der Antragsteller, ein ...-jähriger nigerianischer Staatsangehöriger, begehrt im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes den Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit der dem Antragsgegner vorläufig untersagt wird, ihn in sein Herkunftsland abzuschieben. Das Verwaltungsgericht Stuttgart hat den Eilrechtsschutzantrag des Antragstellers mit dem im Tenor bezeichneten Beschluss abgelehnt. [...]

4 a) Nach Aktenlage sind die allgemeinen Voraussetzungen für die Durchführung einer Abschiebung (§§ 58, 59 AufenthG) in Bezug auf den Antragsteller erfüllt. Dies wird von ihm auch nicht in Zweifel gezogen.

5 b) Aller Voraussicht nach kann sich der Antragsteller auch nicht auf einen Duldungsanspruch nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG berufen. Eine Anwendung von § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG setzt voraus, dass die Abschiebung des Antragstellers tatsächlich oder rechtlich unmöglich ist. [...] Dabei nimmt der Antragsteller Bezug auf die zwischen ihm und seinem minderjährigen Sohn bestehende Beziehung sowie ihr gemeinsames Interesse, im Bundesgebiet eine familiäre Lebensgemeinschaft zu führen. Die Beziehung des Antragstellers zur Mutter seines Sohnes ist seinen eigenen Angaben zufolge seit Sommer 2023 beendet und kommt daher nicht (mehr) als Anknüpfungspunkt in Betracht; dies wird seitens des Antragstellers auch nicht geltend gemacht. Allerdings führt er als weiteren Gesichtspunkt wohl auch - der Vortrag ist insoweit etwas unklar - seine Beziehung zur minderjährigen Tochter der Mutter seines Sohnes an. Hinsichtlich der Beziehungen zu den beiden Kindern können sich Schutzwirkungen aus Art. 6 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK sowie Art. 7 und 24 EU-GR-Charta ergeben. Diese Schutzwirkungen sind jedoch nicht absolut und führen nicht automatisch zur rechtlichen Unmöglichkeit der Abschiebung des Antragstellers. Hierzu gelangte man nur dann, wenn insbesondere das Interesse des Antragstellers und seines Sohnes, im Bundesgebiet gemeinsam eine familiäre Lebensgemeinschaft zu führen, dasjenige der Allgemeinheit an der Beendigung des Aufenthalts des Antragstellers im Bundesgebiet überwiegen würde. Dies ist nach Aktenlage aber nicht anzunehmen. Im Gegenteil dürfte dem Aufenthaltsbeendigungsinteresse der Allgemeinheit deutlich größeres Gewicht zuzumessen sein. [...]

6 aa) In den Blick zu nehmen sind - wie gezeigt - Art. 6 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK sowie Art. 7 und 24 EU-GR-Charta. [...]

13 bb) In Anwendung dieser Grundsätze und Würdigung der konkreten Gegebenheiten des vorliegenden Einzelfalls ist der beschließende Senat unter Berücksichtigung der vom Antragsteller im ersten Rechtszug sowie im Beschwerdeverfahren glaubhaft gemachten Umstände zu der Auffassung gelangt, dass weder Art. 6 GG noch Art. 8 Abs. 1 EMRK und auch nicht Art. 7 und 24 EU-GR-Charta einer Abschiebung des Antragstellers in sein Herkunftsland entgegenstehen. Der durch Art. 6 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK sowie Art. 7 und 24 EU-GR-Charta vermittelte Schutz der Familie und von "de-facto-Familienbeziehungen" sowie derjenige des Kindeswohls führen im vorliegenden Fall aller Voraussicht nach nicht zur rechtlichen Unmöglichkeit der Abschiebung des Antragstellers.

14 (1) Der Antragsteller hat allerdings glaubhaft gemacht, dass zwischen ihm und seinem minderjährigen Sohn ... eine Vater-Kind-Beziehung besteht, die nach den vorgenannten Bestimmungen verfassungs-, konventions- und unionsrechtlichen Schutz genießt. Die Beziehung zu ..., der Tochter der Mutter seines Sohnes, dürfte - wenn auch in deutlich geringerem Umfang - konventions- und unionsrechtlichen Schutz genießen.

15 Der Antragsteller ist Vater des am ... in ... geborenen und damit ... Jahre alten .... Die Vaterschaft hat der Antragsteller ein Jahr nach der Geburt, am ..., gegenüber dem Jugendamt der ... anerkannt. Der Junge lebt bei seiner allein sorgeberechtigten Mutter in .... Mutter und Sohn sind nigerianische Staatsangehörige und jeweils im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG. Nach dem Vortrag des Antragstellers hat es zwischen ihm und seinem Sohn ab ... 2020 eine erste regelmäßige Kontaktphase gegeben, die von fast täglichen Spaziergängen im ... geprägt gewesen sei. [...] Dem Vorbringen im Beschwerdeverfahren zufolge soll die erste Kontaktphase bis … 2020 angedauert haben. [...] Anfang 2021 habe er Kontakt mit dem Jugendamt aufnehmen müssen, um eine Umgangsregelung mit seinem Sohn zu erreichen. Der Kontakt mit dem Kind sei in dieser Zeit schwierig gewesen. [...]

16 Nach dem weiteren Vorbringen gegenüber dem Verwaltungsgericht und dem Senat hatte der Antragsteller jedenfalls nach seiner Entlassung aus der Haft am … 2022 wieder Kontakt zu seinem Sohn. Im ... 2022 habe er ... zweimal besucht; er habe das Kind zur Kinderkrippe gebracht und auch wieder dort abgeholt. Anfang ... 2023 habe er die Beziehung zu ... Mutter wiederaufgenommen, die bis ... 2023 angedauert habe. In dieser Zeit sei der Kontakt zu dem Jungen besonders intensiv gewesen; sie hätten sich, wie der Antragsteller in seiner Versicherung an Eides Statt vom 05.07.2023 erklärt hat, "täglich" gesehen. Die Mutter des Kindes gibt in ihrer Versicherung an Eides Statt vom selben Tage zumindest an, sie und der Antragsteller seien in den Monaten ... 2023 "oft" gemeinsam mit dem Kind in der Wohnung der Mutter gewesen. Ausweislich der weiteren Versicherung an Eides Statt des Antragstellers vom … 2023 hat er ab ... 2023 bis zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit im ,,, 2023 ... täglich zum Kindergarten gebracht und fast täglich auch wieder abgeholt, während die Mutter in die Sprachschule gegangen sei. [...] Ab ... 2023 habe er dann im Schichtdienst gearbeitet. Wenn er Frühschicht gehabt habe, sei er nach der Arbeit oft zum Kindergarten gegangen und habe beide Kinder abgeholt. Wiederum seien sie manchmal noch zum Spielplatz gegangen, manchmal auch direkt nach Hause. In dieser Zeit habe er die Kinder oft ins Bett gebracht. Hierbei hätten sie auch immer eine gewisse Routine gehabt. Oft hätten sie zusammen einen kurzen Film oder ein Tierkinderbuch angesehen, oder er habe eine Geschichte erzählt. [...]

17 Dem Senat liegt noch eine Versicherung an Eides Staat des Herrn … vom … 2023 vor, eines Freundes des Antragstellers. Darin wird erklärt, dass Herr ... im Frühjahr/Sommer 2023 zwei- bis dreimal bei ... Mutter gewesen sei. Der Antragsteller habe dann oft mit ... im Wohnzimmer mit einem Plastikauto gespielt. Einmal seien sie auch zusammen etwa eine Stunde auf den Spielplatz gegangen. Das Kind habe auf Herrn ... einen glücklichen Eindruck gemacht, als es mit seinem Vater zusammen gewesen sei. [...]

18 Nach Angaben von ... Mutter in deren Versicherung an Eides Statt vom … 2023 seien sie und der Antragsteller seit ... 2023 getrennt. Seitdem besuche der Antragsteller den Jungen, hole ihn stundenweise ab und bringe ihn anschließend zurück. Seit der Trennung sei dies dreimal erfolgt, also im Schnitt etwa einmal pro Woche. Sie wolle, dass er auch in Zukunft Kontakt zu seinem Sohn habe, und könne bestätigen, dass er ein liebevoller Vater und dem Kind sehr zugeneigt sei. [...]

19 Der Antragsteller hat hinreichend glaubhaft gemacht, dass er nicht nur formal seine Vaterschaft anerkannt hat, sondern sich auch tatsächlich um den Aufbau einer persönlichen Beziehung zu ... bemüht. Nach den Schilderungen in den diversen vorgelegten Versicherungen an Eides Statt, an deren Richtigkeit der Senat keinen Anlass zu Zweifeln hat, ergibt sich, dass der Antragsteller durchaus sein Umgangsrecht wahrnimmt, Betreuungs- und Erziehungsleistungen erbringt, seinem Kind zugewandt ist, an dessen Leben und Aufwachsen tatsächlich Anteil nimmt und auch regelmäßig Zahlungen an die Unterhaltsvorschusskasse leistet. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass Vater und Sohn bislang noch nicht sehr viel Gelegenheit hatten, eine tragfähige Beziehung zueinander aufzubauen. So hat sich die Anteilnahme des Antragstellers am Leben seines inzwischen vier Jahre alten Sohnes zunächst auf dessen erstes Lebensjahr beschränkt, worauf eine etwa zwei Jahre andauernde Phase (Anfang 2021 bis Ende 2022) folgte, in welcher der Kontakt zwischen Vater und Sohn offenbar abgebrochen ist. Hiernach hat sich die Beziehung erst in den letzten vierzehn Monaten wieder entwickeln können. [...]

20 Insbesondere dem Interesse des Antragstellers und seines Sohnes, die so gelebte Vater-Sohn-Beziehung in Deutschland weiterführen zu können, ist durchaus erhebliches Gewicht beizumessen. Dabei berücksichtigt der beschließende Senat mit Blick auf die oben referierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch, dass es sich bei dem Sohn des Antragstellers um ein noch kleines Kind handelt. Weiter ist in den Blick zu nehmen, dass es dem Jungen nicht zumutbar sein dürfte, die familiäre Lebensgemeinschaft in Nigeria zu führen. Dem dürfte bereits entgegenstehen, dass ... und seine Mutter über Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 2 AufenthG verfügen und ihnen folglich entweder die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist. Im Übrigen verfügt ... Mutter über das alleinige Sorgerecht mit der Folge, dass es dem Antragsteller schon von Rechts wegen nicht möglich sein dürfte, seinen Sohn nach Nigeria mitzunehmen. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen und zu würdigen, dass mit der Abschiebung des Antragstellers jedenfalls mittelfristig eine dauerhafte räumliche Trennung von Vater und Kind einhergehen wird.

21 (2) Den Privatinteressen des Antragstellers und seines Sohnes stehen allerdings seitens des Gemeinwesens erhebliche, aktuelle spezial- und generalpräventive Interessen gegenüber, den Aufenthalt des vollziehbar ausreisepflichtigen Antragstellers im Bundesgebiet zeitnah zu beenden. Der Antragsteller ist seit seiner Einreise im Juni 2017 wiederholt strafrechtlich in Erscheinung getreten. So wurde zunächst mit rechtskräftigem Strafbefehl des Amtsgerichts ... ... vom … 2019 gegen ihn eine Gesamtgeldstrafe in Höhe von 40 Tagessätzen wegen versuchter Nötigung und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte verhängt. [...]

22 Mit Urteil vom … 2022 wurde der Antragsteller vom Amtsgericht ... wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Auf die Berufung des Antragstellers änderte das Landgericht ... dieses Urteil im Rechtsfolgenausspruch dahingehend ab, dass die Freiheitsstrafe auf zwei Jahren herabgesetzt und ihre Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. [...]

23 Damit hat der Antragsteller in erheblicher Weise Straftatbestände verwirklicht. Als besonders gravierend wertet der Senat die erst zwei Jahre zurückliegende Vergewaltigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, mit welcher der Antragsteller die persönliche Integrität des Opfers, namentlich dessen körperliche Unversehrtheit, sexuelle Selbstbestimmung und Intimsphäre, unter Ausnutzung eines bestehenden Vertrauensverhältnisses verletzt hat. Nach Aktenlage spricht nicht wenig dafür, dass vom Antragsteller, dessen auf zwei Jahre festgesetzte Bewährungszeit noch läuft, aktuell eine erhebliche Gefahr erneuter Straffälligkeit der aufgeführten Deliktsarten ausgeht. Soweit er geltend macht, die Erlebnisse in der Untersuchungshaft seien für ihn prägend gewesen und stellten eine Zäsur dar, vermag diese Motivationsbekundung allein den Senat nicht davon zu überzeugen, dass der Antragsteller von nun an keine Straftaten mehr begehen wird. Soweit er darüber hinaus ausführt, dass die Geburt seines Sohnes und die gemeinsame Zeit ab Januar 2023 noch prägender für ihn gewesen seien, ist festzustellen, dass zumindest ... Geburt und die während dessen erstem Lebensjahr gemeinsam verbrachte Zeit den Antragsteller offensichtlich nicht davon abgehalten haben, eine so schwerwiegende Straftat wie die Vergewaltigung zu begehen. Auch der Umstand, dass der Antragsteller eine Ausbildung zum Altenpflegehelfer erfolgreich abgeschlossen hat, seit über zehn Monaten in seinem Ausbildungsberuf erwerbstätig ist und ein unbefristetes Arbeitsverhältnis vorweisen kann, rechtfertigt keine andere Betrachtung. Denn zum Zeitpunkt der Vergewaltigung befand sich der Antragsteller in einem Ausbildungsverhältnis (zum ...), verfügte demgemäß über ein gesichertes Einkommen und war im Besitz einer Ausbildungsduldung. Auch die damaligen, als sehr günstig zu wertenden Lebensumstände haben den Antragsteller nicht von der Begehung der in Rede stehenden Straftaten abgehalten. [...]

24 Dessen ungeachtet besteht ein erhebliches, aktuelles generalpräventives Interesse an der Beendigung des Aufenthalts des Antragstellers im Bundesgebiet. Dieses ergibt sich maßgeblich aus dem vom Antragsteller verwirklichten Straftatbestand der Vergewaltigung, der sich gegen die sexuelle Selbstbestimmung richtet. Bei Straftaten aus diesem besonders schwerwiegenden Deliktsbereich kommt der Generalprävention massives Gewicht zu. Sie zielt darauf ab, verhaltenslenkend auf andere Ausländer einzuwirken, indem ihnen aufenthaltsrechtliche Nachteile für den Fall eines strafrechtlichen Fehlverhaltens ähnlicher Art und Schwere aufgezeigt werden. [...]

26 c) Der beschließende Senat geht ferner nicht davon aus, dass sich aus Art. 6 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK oder Art. 7, 24 EU-GR-Charta eine rechtliche Verpflichtung des Regierungspräsidiums Karlsruhe ableiten lässt, das ihm als zuständiger Ausländerbehörde nach § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG eröffnete Ermessen zugunsten des Antragstellers auszuüben. [...]