Auch kurze Ausreise unterbricht Voraufenthaltszeit für Chancenaufenthalt:
"Eine auch nur kurze Ausreise aus dem Bundesgebiet im Duldungsstatus hat das Erlöschen der Duldung zur Folge und führt zu einer Unterbrechung der Voraufenthaltszeit des § 104c Abs. 1 S 1 AufenthG, sodass dessen Voraussetzungen nicht vorliegen (Rn. 32) (Rn. 37)."
(Amtliche Leitsätze; anderer Ansicht: VG Köln, Urteil vom 03.11.2023- 12 K 3317 - justiz.nrw.de)
[...]
20 Der Antragsteller begehrt eine vorläufige Anordnung zur vorübergehenden Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG, um einen etwaigen Anspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu sichern. [...]
21 Der Antrag hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. [...]
26 3. Ein Anordnungsanspruch ist im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 03.06.2020 - 11 S 427/20 -, juris, Rn. 16) nach der im Eilverfahren gebotenen und auch nur möglichen summarischen Prüfung nicht glaubhaft gemacht. Zwar kommt im Falle eines Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG die Erteilung einer Verfahrensduldung ausnahmsweise in Betracht (dazu a)), der Antragsteller hat jedoch nicht glaubhaft gemacht, voraussichtlich einen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis zu haben (dazu b)). [...]
28 b) Der Antragsteller hat voraussichtlich keinen Anspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG oder einer anderen Rechtsgrundlage des Aufenthaltsgesetzes. Für den beantragten Anspruch aus § 104c AufenthG hat der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht, ununterbrochen fünf Jahre lang bis zum 31.10.2022 geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis in der Bundesrepublik aufhältig gewesen zu sein, was der Wortlaut des § 104c Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 AufenthG allerdings voraussetzt. [...]
30 Erforderlich ist damit zum Stichtag ein durchgehend gestatteter, geduldeter oder erlaubter Aufenthalt von mindestens fünf Jahren. Anrechenbare Zeiten sind neben Zeiten des erlaubnisfreien Aufenthalts nicht nur solche, in denen eine jeweils entsprechende (rechtswidrige oder rechtmäßige) Bescheinigung tatsächlich ausgestellt war, sondern auch solche, in denen lediglich ein materieller Duldungsanspruch, ein materieller Anspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis oder eine Verfahrensduldung bestand oder die Aufenthaltserlaubnis fiktiv fortgalt [...]. Im Umkehrschluss wird dieser Zeitraum unterbrochen von Zeiten, in denen die genannten Bescheinigungen oder Ansprüche nicht vorlagen. Nach dem Wortlaut des § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist für die Beurteilung des erforderlichen Voraufenthalts auf den (mindestens) fünfjährigen Zeitraum unmittelbar vor dem Stichtag (31.10.2017 bis 31.10.2022) abzustellen; ein abgeschlossener Zeitraum davor genügt nicht [...].
31 Zwar ist der Antragsteller bereits am … 2013 und damit mehr als neun Jahre vor dem gesetzlichen Stichtag am 31.10.2022 zur Asylantragstellung in das Bundesgebiet eingereist und dürfte während seines Asylverfahrens gestattet und anschließend – zumindest überwiegend – wegen fehlender Identitätspapiere bzw. zu Ausbildungszwecken geduldet gewesen sein. Insbesondere mit der Ausreise nach Frankreich in der Nacht vom 22.02.2021 auf den 23.02.2021 ist die Duldung des Antragstellers erloschen und ist damit sowohl sein physischer Aufenthalt in der Bundesrepublik als auch sein rechtlicher Aufenthaltsstatus unterbrochen (dazu aa)). Der Antragsteller hatte auch keinen Duldungsanspruch bei Wiedereinreise oder eine Wiedereinreisegenehmigung (dazu bb)). Es liegt damit eine Unterbrechung der fünfjährigen Voraufenthaltszeit des § 104c Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 AufenthG vor, die der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG entgegenstehen dürfte (dazu cc)).
32 aa) Durch das Übertreten der Grenze zu Frankreich und damit das physische Verlassen des Bundesgebiets nach Frankreich ist die Duldung des Antragstellers erloschen. Anders als bei einer Ausreise mit einem Aufenthaltstitel (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 6 und Nr. 7 AufenthG) erlischt die Duldung mit der – wenn auch nur kurzzeitigen – Ausreise des Ausländers, § 60a Abs. 5 Satz 1 AufenthG. Ebenso erlischt auch der Duldungsanspruch (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 06.02.2008 - 11 S 2439/07 , juris, Rn. 14; Röder, in: BeckOK MigR, 17. Ed. 15.10.2023, AufenthG § 60a Rn. 115).
33 Der Erlöschenstatbestand des § 60a Abs. 5 Satz 1 AufenthG gilt auch für die Ausbildungsduldung nach § 60c AufenthG, wie sich aus § 60c Abs. 8 AufenthG ergibt (vgl. Hessischer VGH, Beschluss vom27.07.2020 - 7 B 1459/20 -, juris, Rn. 17; Stahmann, in: NK-AuslR, 3. Aufl. 2023, AufenthG § 60c Rn. 32).
34 Das Aufenthaltsgesetz macht den Begriff der "Ausreise" je nach Kontext von unterschiedlichen Voraussetzungen abhängig, vgl. § 60a Abs. 5 Satz 1 AufenthG, § 50 AufenthG. Vorliegend kommt es für die Frage, ob der Antragsteller nach Frankreich ausgereist ist, lediglich auf das Verständnis der "Ausreise" in § 60a Abs. 5 Satz 1 AufenthG an, weil es um die Frage des Erlöschens der Duldung geht. Der in § 60a Abs. 5 Satz 1 AufenthG verwendete Begriff der "Ausreise" ist so zu verstehen, dass das rein physische Verlassen des Bundesgebiets ausreicht. Auf den Zweck, den Ort oder das Ziel der Ausreise stellt das Gesetz – im Gegensatz zum Beispiel zum Fall des § 51 Abs. 1 Nr. 6 und Nr. 7 AufenthG – ebenso wenig ab wie auf einen Vorsatz zur Ausreise (vgl. auch Bruns/Hocks, in: NK-AuslR, 3. Aufl. 2023, AufenthG § 60a Rn. 73; Röder, in: BeckOK MigR, 17. Ed. 15.10.2023, AufenthG § 60a Rn. 115). Der geduldete Betroffene muss daher in Grenzgebieten besondere Vorsicht walten lassen.
35 Entgegen der Rechtsauffassung des Verfahrensbevollmächtigten des Antragstellers kommt es damit auf die Anwendung des § 13 AufenthG oder § 50 AufenthG nicht an. Auch die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zur unionsrechtlichen Auslegung des Begriffs "Ausreise" im Sinne der Richtlinie 2004/38/EG (Freizügigkeitsrichtlinie) ist nicht übertragbar. [...]
37 cc) Diese Unterbrechung des physischen und des rechtlichen Aufenthalts des Antragstellers führt zu einer Unterbrechung der fünfjährigen Voraufenthaltszeit des § 104c Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 AufenthG, die im Zeitraum bis zum Stichtag des 31.10.2022 vorgelegen haben muss. Dies steht nach der von der Kammer vertretenen Auffassung der Erteilung des Chancen-Aufenthaltsrechts nach § 104c AufenthG entgegen, ohne dass es nach dem Wortlaut der Norm darauf ankommen kann, ob die Unterbrechung lediglich kurzfristig war und Bagatellcharakter aufwies. Diese Frage wird allerdings in der Rechtsprechung unterschiedlich beantwortet (wie hier: VG München, Beschluss vom 18.09.2023 - M 27 K 23.3532, M 27 E 23.3569 -, juris, Rn. 29; a. A. VG Chemnitz, Urteil vom 18.05.2023 - 6 K 1457/22 -, Rn. 44; VG Köln, Urteil vom 03.11.2023 - 12 K 3317/23 -, Rn. 51 - 54; VG Frankfurt, Beschluss vom 06.10.2022 - 6 L 2434/22.F -, Rn. 13, jeweils juris). [...]
39 Nach Auffassung der Kammer kann die in der Rechtsprechung und Literatur einhellig vertretene Auffassung, dass bei § 25b AufenthG kurzfristige Unterbrechungen des Aufenthalts unschädlich sind, auf das Chancen-Aufenthaltsrecht des § 104c AufenthG aufgrund der grundlegend anderen Normsystematik und des eindeutigen Wortlautes nicht übertragen werden. [...]