VG Gera

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Zitieren als:
VG Gera, Beschluss vom 23.08.2021 - 6 E 859/21 Ge - asyl.net: M32199
https://www.asyl.net/rsdb/m32199
Leitsatz:

Eilrechtsschutz gegen Beendigung einer Inobhutnahme wegen unzureichender Ermittlungen zum Alter:

1. Die Beendigung einer Inobhutnahme nur vermeintlich minderjähriger unbegleiteter Schutzsuchender ist als Rücknahme der Inobhutnahme nur unter den Voraussetzungen des § 45 SGB X möglich.

2. Entstehen nach der Inobhutnahme Zweifel an der Minderjährigkeit der betroffenen Person, hat die zuständige Behörde erneut ein behördliches Verfahren zur Altersfeststellung einzuleiten.

3. Die Altersfeststellung ist ein gestuftes Verfahren, wonach das Alter gemäß § 42f Abs. 1 SGB VIII zunächst durch Einsichtnahme in Ausweispapiere festzustellen und hilfsweise mittels einer qualifizierten Inaugenscheinnahme zweier erfahrener Mitarbeiter*innen des Jugendamts sowie einer Befragung einzuschätzen und festzustellen ist. Bei verbleibenden Zweifeln ist gemäß § 42f Abs. 2 SGB VIII eine ärztliche Untersuchung zu veranlassen.

4. Der Umstand, dass die betroffene Person in anderen europäischen Ländern als volljährig geführt wird oder Mitwirkungspflichten nicht nachkommt, begründet nicht die Annahme, dass die Person volljährig ist und ersetzt insbesondere nicht das behördliche Verfahren zur Altersfeststellung.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: OVG Bremen, Beschluss vom 22.02.2016 - 1 B 303/15 (Asylmagazin 4-5/2016, S. 143 f.) - asyl.net: M23742)

Schlagwörter: unbegleitete Minderjährige, minderjährig, Inobhutnahme, Altersfeststellung, Rücknahme, vorläufiger Rechtsschutz, Alter, Mitwirkungspflicht,
Normen: SGB VIII § 42f Abs. 1, SGB VIII § 42f Abs. 2, SGB VIII § 42a, SGB X § 45
Auszüge:

[...]

Der Antragsteller reiste ohne Ausweispapiere ... 2021 in die Bundesrepublik Deutschland ein und wurde durch das Jugendamt der Antragsgegnerin am 26. Februar 2021 vorläufig in Obhut genommen. Der nach eigenen Angaben aus Afghanistan stammende Antragsteller gibt an, am in dem Dorf ... in Afghanistan geboren zu sein und vor seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland ein Jahr in Griechenland und zwei Jahre in Schweden gelebt zu haben.

Mit Bescheid vom 14. April 2021 wurde der Antragsteller durch das Jugendamt der Antragsgegnerin auf Grundlage des § 42 Abs. l Satz 1 Nr. 3 SGB VIII in Obhut genommen. [...]

Mit Bescheid vom 21. Juni 2021 beendete das Jugendamt der Antragsgegnerin die Inobhutnahme. Zur Begründung führte die Behörde aus, dass der Antragsteller sein Geburtsdatum nicht glaubhaft gemacht habe. Beweiskräftige Ausweispapiere habe er nicht vorgelegt. Aufgrund der fehlenden Mitwirkung des Antragstellers zur Beibringung von Ausweispapieren gehe man - wie die schwedischen Behörden ... - davon aus, dass der Antragsteller am ... 2002 geboren sei.

Hiergegen hat der Antragsteller, der seit dem 21. Juni 2021 in der Erstaufnahmeeinrichtung in Suhl untergebracht ist, am 25. Juni 2021 Widerspruch erhoben, über den noch nicht entschieden wurde.

Am 5. August 2021 hat sich der Antragsteller mit einem einstweiligen Rechtsschutzantrag an das Gericht gewandt. [...]

Die Anträge des Antragstellers haben Erfolg.

1. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ist statthaft und auch im Übrigen zulässig.

Gemäß § 42f Abs. 3 Satz 1 SGB VIII entfalten Widerspruch und Klage gegen die Entscheidung des Jugendamts, aufgrund der Altersfeststellung nach dieser Vorschrift die vorläufige Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII oder die Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII abzulehnen oder zu beenden, keine aufschiebende Wirkung.

Der Antrag ist auch begründet.

Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht in dem Fall des Absatzes 2 Nr. 3 die aufschiebende Wirkung von Widerspruch oder Klage ganz oder teilweise anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene, originäre Ermessensentscheidung. [...]

Ausgehend von diesen Grundsätzen geht die hier im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung zu Gunsten des Antragstellers aus. [...]

1.1 Regelungsgegenstand des angefochtenen Bescheides vom 21. Juni 2021 ist die Aufhebung eines begünstigenden Verwaltungsaktes.

Der Sachverhalt der Beendigung einer Inobhutnahme infolge der in ihrem Rahmen erfolgten Feststellung der Volljährigkeit des jungen Flüchtlings ist in den §§ 42 ff. SGB VIII inhaltlich nicht speziell geregelt. Da sich § 42f Abs. 3 SGB VIII und § 39 Abs. 2 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) jedoch entnehmen lässt, dass eine bereits verfügte vorläufige Inobhutnahme nicht kraft Gesetzes endet, sondern dass es regelmäßig eines Verwaltungsakts nach den allgemeinen Regelungen des Sozialverwaltungsrechts bedarf (§ 44 ff. SGB X) [...], muss dies erst recht für die endgültige Inobhutnahme gelten.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes handelt es sich bei einer Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII um einen Verwaltungsakt im Sinne des § 31 Satz 1 SGB X. Der Verwaltungsakt hat für den Adressaten sowohl belastende als auch begünstigende Wirkung. Verwaltungsakte mit einer derartigen Mischwirkung sind insgesamt als begünstigend zu behandeln und den strengeren Rücknahmevoraussetzungen des § 45 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 bis 4 SGB X unterworfen, sofern sich begünstigende und belastende Elemente - wie bei einer Inobhutnahme - nicht voneinander trennen lassen.

Die Antragsgegnerin stützt ihre Entscheidung zur Beendigung der Inobhutnahme maßgeblich darauf, dass deren Aufrechterhaltung rechtswidrig wäre, weil der Antragsteller tatsächlich nicht minderjährig sei, sondern entgegen dessen eigenen Angaben von seiner Volljährigkeit ausgegangen werden müsse. Ausgehend davon kommt als Rechtsgrundlage für den angegriffenen Bescheid nur § 45 Abs. 1, 2 Satz 1 und 3 Nr. 2 SGB X in Betracht. Danach kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden, wenn der Begünstigte sich nicht auf Vertrauensschutz berufen kann, weil der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die er vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat. [...]

1.2 Gemäß § 42 Abs. 1 SGB VIII sind Kinder und Jugendliche durch das Jugendamt in Obhut zu nehmen, wenn die gesetzlich bestimmten Tatbestandsvoraussetzungen gegeben sind. Nach § 42 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, einen ausländischen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn dieser unbegleitet nach Deutschland kommt und sich weder Personensorge- noch Erziehungsberechtigte im Land aufhalten. Jugendlicher ist, wer 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist (§ 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII). Voraussetzung für eine Inobhutnahme ist damit die Minderjährigkeit des Betroffenen; mithin ist eine Inobhutnahme rechtswidrig, wenn die in Obhut genommene Person bereits volljährig ist.

1.3 Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist aber unklar, ob von der Volljährigkeit des Antragstellers auszugehen ist und sich deshalb der Bescheid vom 14. April 2014 über die endgültige Inobhutnahme als rechtswidrig erweist.

Das Jugendamt ist dabei zunächst verpflichtet, erneut ein behördliches Verfahren zur Altersfeststellung einzuleiten, auch wenn bereits eine Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Satz I Nr. 3 SGB VIII ergangen war und im Nachgang Zweifel an der Minderjährigkeit des Betroffenen aufkommen sollten: Unter welchen Voraussetzungen und in welcher Art und Weise bei ausländischen Personen, die sich selbst als unbegleiteten und minderjährigen Flüchtling bezeichnen, im Hinblick auf eine vom Jugendamt vorzunehmende Inobhutnahme eine Altersfeststellung zu erfolgen hat, ist dem Wortlaut des § 42f Abs. 1 und 2 SGB VIII nach gesetzlich zwar nur für die vorläufige Inobhutnahme gemäß § 42a SGB VIII geregelt. Es bestehen aus Sicht der Kammer jedoch keine Bedenken, diese Regelungen im Wege analoger Anwendung auch in Fällen zu Grunde zu legen, in denen Zweifel an der Minderjährigkeit der betroffenen Person erst nach dem Übergang von der vorläufigen Inobhutnahme gemäß § 42a Abs. l SGB VIII in eine "reguläre" Inobhutnahme gemäß § 42 Abs. 1 Satz l Nr. 3 SGB VIII auftreten (ebenso: OVG der Freien Hansestadt Bremen, Beschluss vom 21. September 2016 - 1 B 164/16 -, juris Rn. 12).

Gemäß § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII hat das Jugendamt im Rahmen der (vorläufigen) Inobhutnahme der ausländischen Person gemäß § 42a SGB VIII deren Minderjährigkeit durch Einsichtnahme in deren Ausweispapiere festzustellen. Sofern belastbare Nachweise/Angaben dafür vorliegen, dass die Angabe des Betroffenen, er sei minderjährig, unzutreffend ist, setzt die Feststellung des Alters regelmäßig eine zuverlässige Altersdiagnostik voraus [...]. Es obliegt dabei zuvorderst den beteiligten Behörden bei deren ernsthaften Zweifeln an der vom Antragsteller vorgetragenen Minderjährigkeit eine verlässliche Klärung des Alters des Antragstellers mittels qualifizierter Inaugenscheinnahme herbeizuführen [...]. Diese erstreckt sich auf das äußere Erscheinungsbild, das nach nachvollziehbaren Kriterien zu würdigen ist. Darüber hinaus schließt sie - unter Hinzuziehung eines Sprachmittlers - in jedem Fall eine Befragung des Betroffenen ein, in der dieser mit den Zweifeln an seiner Eigenangabe zu konfrontieren und ihm Gelegenheit zu geben ist, diese Zweifel auszuräumen. Die im Gespräch gewonnenen Informationen zum Entwicklungsstand sind im Einzelnen zu bewerten. Maßgeblich ist der Gesamteindruck, der neben dem äußeren Erscheinungsbild insbesondere die Bewertung der im Gespräch gewonnenen Informationen zum Entwicklungsstand umfasst. Gegebenenfalls sind weitere Unterlagen beizuziehen. Das Verfahren ist stets nach dem Vier-Augen-Prinzip von mindestens zwei beruflich erfahrenen Mitarbeitern des Jugendamts durchzuführen [...]. Das Ergebnis dieses Verfahrens ist in nachvollziehbarer und überprüfbarer Weise zu dokumentieren, insbesondere muss die Gesamtwürdigung in ihren einzelnen Begründungsschritten transparent sein [...].

In verbleibenden Zweifelsfällen hat das Jugendamt gemäß § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung zu veranlassen. Dabei handelt es sich nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut ("hat") um eine gebundene Entscheidung mit der Folge, dass dem Jugendamt ein Ermessen nicht zukommt [...].

Dieses gestufte Verfahren entspricht im Wesentlichen den "Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen", die auf der 116. Arbeitstagung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter vom 14. bis 16. Mai 2014 in Mainz beschlossen wurden. [...] Entscheidend ist, dass, wenn eine Person angibt, minderjährig zu sein, oder anderweitige Hinweise vorliegen, dass eine Person minderjährig sein kann, dies mit besonderer Sorgfalt geprüft werden muss.

Da zwischen den Beteiligten streitig ist, ob der Antragsteller minderjährig oder volljährig ist, ist die Beendigung der Inobhutnahme erst gerechtfertigt, wenn die von Gesetzes wegen aufgestellten Vorgaben zur Feststellung des Alters vom jeweiligen Jugendamt korrekt durchlaufen wurden [...]. Dies ist nach summarischer Prüfung vorliegend nicht der Fall. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist zumindest offen, ob die Aufhebung der Inobhutnahme rechtmäßig oder rechtswidrig ist. [...]

a. Ausweislich der vorgelegten Behördenakte fehlt es bereits an einer qualifizierten Inaugenscheinnahme, die den zuvor genannten Anforderungen entspricht. Die Antragsgegnerin ist nicht selbst in eine (erneute) Prüfung der Minderjährigkeit des Antragstellers mittels Durchführung einer qualifizierten Inaugenscheinnahme und ggf. anschließender ärztlicher Untersuchung bei verbleibenden Zweifeln nach § 42f Abs. 1 S. 1 Abs. 2 SGB VIII eingetreten.

Die Antragsgegnerin stützt ihre Entscheidung zur Beendigung der Inobhutnahme vielmehr maßgeblich darauf, dass deren Aufrechterhaltung rechtswidrig wäre, weil der Antragsteller tatsächlich nicht minderjährig sei, sondern aufgrund seiner widersprüchlichen Angaben zu seinem Geburtsdatum in Griechenland, Schweden und Deutschland von seiner Volljährigkeit ausgegangen werden müsse. Dem kann nicht gefolgt werden. Der Umstand, dass der Antragsteller in den Datenbanken der griechischen und schwedischen Behörden mit einem anderen Geburtsdatum geführt wird als gegenüber dem Jugendamt angegeben, kann das nach § 42f SGB VIII vorgesehene Verfahren der Alterseinschätzung weder ersetzen noch kann es im Rahmen dieses Verfahrens die ausschließliche Entscheidungsgrundlage sein [...].

b. Die Altersfeststellung mittels einer qualifizierten Inaugenscheinnahme war auch nicht ausnahmsweise entbehrlich. Im Fall des Antragsstellers ist die Volljährigkeit nicht offensichtlich.

Der Antragsteller gehört ersichtlich nicht zum Kreis der für jedermann ohne weiteres erkennbaren (offensichtlichen), gleichsam auf der Hand liegenden, über jeden vernünftigen Zweifel erhabenen Fällen eindeutiger Volljährigkeit. [...]

c. Die Antragsgegnerin stützt ihre Entscheidung ferner zu Unrecht darauf, dass der Antragsteller sich im Rahmen des mit ihm geführten Gesprächs in Widersprüche zu seinen früheren Angaben hinsichtlich seines Geburtsdatums, dem Verbleib seiner Tazkira und seines Reiseweges verstrickt hat.

Hierbei wird bereits nicht schlüssig dargelegt, welche Rückschlüsse diese Feststellungen auf den "Entwicklungsstand" des Antragsstellers im Hinblick auf die zu treffende Alterseinschätzung zulassen sollten. Die Antragsgegnerin verkennt dabei, dass ein in sich widersprüchlicher Vortrag des Betroffenen über sein Alter vor dem Hintergrund, dass dem Geburtsdatum in vielen Herkunftsländern der südlichen Hemisphäre keine besondere Bedeutung beigemessen wird [...], nicht zum Nachteil des betroffenen Antragstellers gewertet werden kann. [...]

Die von der Antragsgegnerin aus den widersprüchlichen Angaben des Antragstellers zu seinem Geburtsdatum gezogene Schlussfolgerung, der Antragsteller müsse sich als volljährig behandeln lassen, kann keine Grundlage für die Beendigung der Inobhutnahme sein. Die Altersfeststellung nach § 42 f SGB VIII hat nämlich mit einer asylrechtlichen Glaubwürdigkeitsprüfung nichts zu tun. Das Alter eines Menschen ist eine zumindest näherungsweise zu ermittelnde naturwissenschaftliche Tatsache. Dem hat der Gesetzgeber durch die in § 42 f Abs. 2 Satz l SGB VIII für "Zweifelsfälle" vorgesehene ärztliche Untersuchung Rechnung getragen. Die Antragsgegnerin wird insoweit "umdenken" müssen. [...]

d. Auch der Verweis der Antragsgegnerin auf die fehlende Mitwirkung des Antragstellers im Rahmen der Altersfeststellung rechtfertigt nicht die Beendigung der Inobhutnahme.

Zunächst führt der Umstand, dass der Antragsteller keine Ausweisdokumente vorlegen und auch seine Selbstauskunft nicht zweifelsfrei ist, lediglich dazu, dass die Antragsgegnerin verpflichtet ist, das Alter des Antragstellers gemäß § 42f Abs. 1 Satz 1 2. Alternative SGB VIII durch eine qualifizierte Inaugenscheinnahme einzuschätzen und festzustellen [...]. Bei verbleibenden Zweifeln an der Minderjährigkeit hat das Jugendamt dann eine ärztliche Untersuchung zur Altersfeststellung gemäß § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII zu veranlassen. Allein hier haben die Betroffenen gemäß Satz 4 der Norm insoweit auch grundsätzlich eine ggf. sanktionsbewehrte Mitwirkungspflicht.

Im vorliegenden Fall ist aber bereits nicht ersichtlich, dass die Antragsgegnerin, wie es § 42f Abs. 2 Satz 3, Halbsatz 1 SGB VIII ausdrücklich verlangt, den Antragsteller aufgefordert hat, sich ärztlich untersuchen zu lassen. Daneben fehlt es auch an einer Belehrung über die möglichen Folgen einer Weigerung der Mitwirkung für das weitere Verfahren der Alterseinschätzung. Eine derartige Belehrung ist nicht vermerkt. Eine solche Aufklärung muss in schriftlicher Form (§ 66 Abs. 3 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - SGB I) erfolgen. Der Betroffene muss darauf hingewiesen werden, dass eine Aufgabenerfüllung durch das Jugendamt, die an die Minderjährigkeit anknüpft, verweigert oder eingestellt und Leistungen versagt oder entzogen werden können. Hieran fehlt es. Ohne eine entsprechende Belehrung können aber von Gesetzes wegen keine negativen Folgen aus der Verweigerung einer Mitwirkung gezogen werden, wie sich aus § 66 Abs. 3 SGB I ergibt, dessen entsprechende Geltung § 42f Abs. 2 Satz 4 SGB VIII ausdrücklich anordnet.

e. Schließlich bestehen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheids vom 21. Juni 2021, weil die Antragsgegnerin das ihr gemäß § 45 Abs. 1 SGB X eröffnete Ermessen nicht ausgeübt hat.

Wie vorliegend durch das Wort "darf' in § 45 Abs. 1 SGB X verdeutlicht wird, steht die Rücknahme eines Verwaltungsakts nach der genannten Bestimmung im Ermessen des Leistungsträgers, hier des Jugendamtes. Gemäß § 39 Abs. 1 SGB I gilt: Sind die Leistungsträger ermächtigt, bei der Entscheidung über Sozialleistungen nach ihrem Ermessen zu handeln, haben sie ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Auf pflichtgemäße Ausübung des Ermessens besteht ein Anspruch. [...]