VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 07.03.2023 - 4 A 263/18 - asyl.net: M32188
https://www.asyl.net/rsdb/m32188
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für jungen, gesunden, alleinstehenden Mann aus Afghanistan:

Auch junge, gesunde Männer können ihre Existenz ohne tragfähiges soziales Netzwerk in Afghanistan nicht sichern.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Abschiebungsverbot, familiäres Netzwerk, alleinstehende Männer
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5
Auszüge:

[...]

c. Der Abschiebung des Klägers steht jedoch ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG entgegen. [...]

Auf dieser Grundlage ging das Gericht schon vor der Machtübernahme der Taliban davon aus, dass die Existenzsicherung in Afghanistan auch einem jungen, gesunden, alleinstehenden und arbeitsfähigen Mann nicht mehr gelingen wird, sofern dieser in Afghanistan nicht über ein tragfähiges soziales/familiäres Netzwerk oder aus anderen Gründen über eine besondere Durchsetzungsfähigkeit verfügt. Eine solche Durchsetzungsfähigkeit kann z. B. angenommen werden aufgrund besonderer Vermögenswerte, besonderer Ressourcen, besonderer Fertigkeiten, besonderen organisatorischen, strategischen und menschlichen Geschicks oder einer besonderen Robustheit, wie sie das Verhalten des Rückkehrers im heimischen Kulturkreis oder im Gastland belegt.

Vor dem Hintergrund der im August 2021 erfolgten Machtübernahme durch die Taliban (vgl. z.B. BAMF, Briefing Notes vom 16. und 23. August 2021; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Kurzinformation der Staatendokumentation, Aktuelle Entwicklungen und Informationen in Afghanistan, Stand 20. August 2021) muss davon ausgegangen werden, dass sich die dargestellte Situation der Menschen in Afghanistan – auch in Kabul – in mehrfacher Hinsicht weiter verschlechtert (hat). [...]

Hieran gemessen ist die Einzelrichterin unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Hinblick auf den Kläger davon überzeugt, dass dieser bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine hinreichende Lebensgrundlage nicht vorfinden würde. Der Kläger ist zwar jung, alleinstehend und arbeitsfähig. Jedoch geht die Einzelrichterin davon aus, dass es für den Kläger nach seiner Ankunft in Afghanistan nicht möglich sein wird, auf ein leistungsfähiges familiäres oder sonstiges soziales Netzwerk zuzugreifen, das ihn nach seiner Rückkehr unterstützen könnte. Zwar leben nach Angaben des Klägers noch die Eltern und einige Geschwister in Afghanistan. Jedoch hält es die Einzelrichterin für ausgeschlossen, dass diese vor dem Hintergrund der angespannten wirtschaftlichen Lage und der steigenden Lebensmittelpreise in der Lage und willens sein werden, den Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan ebenfalls zu unterstützen. Vielmehr ist die Situation derzeit so, dass die noch in Afghanistan lebenden Familienangehörigen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts auf Geldleistungen des Klägers angewiesen sind. Im Ergebnis kann daher nicht angenommen werden, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan auf unterstützungsbereite Angehörige treffen würde. Ohne familiäres oder soziales Netzwerk wird es dem Kläger aber nicht gelingen, sich in den afghanischen Arbeitsmarkt zu integrieren und sein Auskommen im Herkunftsland zu sichern.

Auch sonstige, den Kläger besonders begünstigende Umstände, die ihm eine Sicherung des Existenzminimums ermöglichen würden, sind für das Gericht nicht ersichtlich. [...]