VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 15.02.2024 - 24 ZB 23.30851 - asyl.net: M32182
https://www.asyl.net/rsdb/m32182
Leitsatz:

Abschiebung begründet keine Betreibensaufforderung:

1. Gemäß § 81 S. 1 AsylG gilt die Klage in einem asylrechtlichen Gerichtsverfahren als zurückgenommen, wenn die klagende Person das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts, das Verfahren zu betreiben, länger als einen Monat nicht betreibt. Diese Rücknahmefiktion stellt eine einschneidende Rechtsfolge dar, weswegen die Norm im Lichte der Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG eng auszulegen ist.

2. Der Erlass einer Aufforderung zum Betreiben des Verfahrens gemäß § 81 S. 1 AsylG setzt voraus, dass sachlich begründete Anhaltspunkte vorliegen, die auf ein Desinteresse der klagenden Person an der weiteren Verfolgung ihres Begehrens und deshalb auf den Wegfall ihres Rechtsschutzinteresses schließen lassen.

3. Eine unfreiwillige Abschiebung der betroffenen Person und die damit vielfach verbundene Unkenntnis über deren Anschrift stellen für sich genommen keinen solchen Anhaltspunkt dar. Zuvor muss das Gericht sich nach dem Aufenthaltsort der betroffenen Person erkundigen. Liegt eine anwaltliche Vertretung vor, so ist es im Regelfall geboten, zunächst dort den Fortbestand des Rechtsschutzinteresses zu erfragen und gegebenenfalls zur Mitteilung einer aktuellen ladungsfähigen Anschrift aufzufordern und hierzu eine angemessene Frist zu setzen.

4. Die Aufforderung des Gerichts zu Mitwirkungshandlungen muss ausreichend bestimmt formuliert sein, und die Mitwirkungshandlungen müssen bei typisierter Betrachtung innerhalb der Monatsfrist des § 81 AsylG erfüllbar sein.

5. Eine Person, die in einen anderen Mitgliedstaat abgeschoben wird, kann mit dem Risiko einer zumindest vorübergehenden Obdachlosigkeit konfrontiert sein. In einem solchen Fall ist es wegen Art. 19 Abs. 4 GG nicht zulässig, eine Klage wegen Fehlens einer ladungsfähigen Anschrift als unzulässig abzuweisen. Das Risiko der Obdachlosigkeit ist auch bei Festlegung der konkreten Mitwirkungshandlung wie der Mitteilung einer Anschrift zu berücksichtigen.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: BVerfG, Beschluss vom 07.02.2023 - 2 BvR 1057/22 - asyl.net: M31963)

Schlagwörter: Asylverfahren, Nichtbetreiben des Verfahrens, Betreibensaufforderung, Mitwirkungspflicht, ladungsfähige Anschrift, Rechtsschutzinteresse,
Normen: AsylG § 81 S. 1, GG Art. 19 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat Erfolg. Die Berufung ist zuzulassen, weil eine Verletzung des rechtlichen Gehörs geltend gemacht wird und vorliegt (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 des Asylgesetzes – AsylG [...].

Eine fehlerhafte Bejahung der Wirksamkeit einer fiktiven Klagerücknahme gemäß § 81 Satz 1 AsylG führt zu einer unzulässigen Beendigung des gerichtlichen Verfahrens und hindert an einer Entscheidung in der Sache. Sie verletzt daher den Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG. In einem solchen Fall hat sich das Gericht zu Unrecht nicht mit der Sache selbst befasst [...].

2. Das Verwaltungsgericht hat die Wirksamkeit der fiktiven Klagerücknahme zu Unrecht bejaht. Der Erlass der Betreibensaufforderung war rechtswidrig (a). Die fiktive Klagerücknahme ist daher nicht wirksam. Es wäre geboten gewesen, die Betreibensaufforderung aufzuheben und das Verfahren fortzusetzen (b).

a) Die Voraussetzungen des § 81 Satz 1 AsylG für eine Betreibensaufforderung sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Die Vorschrift ist wegen Art. 19 Abs. 4 GG eng auszulegen (aa). Die Mitteilung über die Abschiebung des Klägers nach Griechenland begründete für sich genommen noch keinen Anlass, bereits nach wenigen Tagen zum Betreiben des Verfahrens aufzufordern (bb). Ferner ist die Aufforderung zur Vorlage einer Bescheinigung im konkreten Fall unzulässig (cc).

aa) Nach Art. 19 Abs. 4 GG darf der Zugang zu den Gerichten und zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden. Dieser Grundsatz gilt auch innerhalb des jeweils eingeleiteten Verfahrens, soweit es darum geht, sich dort effektiv Gehör verschaffen zu können, und nicht nur für die Eröffnung des Zugangs zum Gericht selbst. [...]

Die Rücknahmefiktion des § 81 Satz 1 AsylG stellt eine einschneidende Rechtsfolge dar. Sie kann ein Rechtsschutzverfahren beenden, ohne dass ein Kläger dies durch ausdrückliche Erklärung in bewusster Entscheidung herbeigeführt hat. Deshalb muss die Norm im Lichte der Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG unter strikter Beachtung der gesetzlichen Vorgaben angewendet werden. Ihre Anwendung hat insbesondere in dem Bewusstsein zu erfolgen, dass § 81 AsylG eine Ausnahme von dem Grundsatz darstellt, dass ein Kläger das von ihm eingeleitete Verfahren auch durchführen will, und die Norm (nur) die Voraussetzungen für die Annahme eines weggefallenen Rechtsschutzinteresses festlegen und gesetzlich legitimieren möchte (vgl. BVerfG, B.v. 7.2.2023 – 2 BvR 1057/22 – juris Rn. 33 m.w.N.).

Vor diesem Hintergrund setzt der rechtmäßige Erlass einer Aufforderung zum Betreiben des Verfahrens voraus, dass bestimmte, sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses bestehen. Hinreichend konkrete Zweifel an einem Fortbestand des Rechtsschutzinteresses können sich etwa aus dem fallbezogenen Verhalten des Klägers, aber auch daraus ergeben, dass er prozessuale Mitwirkungspflichten verletzt hat. Stets muss sich daraus aber der Schluss auf den Wegfall des Rechtsschutzinteresses, also auf ein Desinteresse des Klägers an der weiteren Verfolgung seines Begehrens, ableiten lassen [...].

bb) Vorliegend fehlt ein solcher Anlass für den Erlass einer Betreibensaufforderung. Es kann offen bleiben, unter welchen Voraussetzungen der Verzug eines Klägers "nach unbekannt" und ein Verstoß gegen die Meldeobliegenheit nach § 10 Abs. 1 AsylG einen Anlass für eine Betreibensaufforderung bildet (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 29.12.2017 – 11 ZB 17.30852 – juris Rn. 2), da es jedenfalls mit Art. 19 Abs. 4 GG unvereinbar ist, eine unfreiwillige Abschiebung bereits wenige Tage später zum Anlass zu nehmen, am Fortbestand des Rechtsschutzbedürfnisses zu zweifeln. [...]

Auch wenn seit einer Abschiebung mehr Zeit verstrichen ist, werden konkrete Zweifel an einem Fortbestand des Rechtsschutzinteresses infolge der unfreiwilligen Abwesenheit schon wegen der Möglichkeit, einen Prozess auch aus dem Ausland zu führen, regelmäßig erst entstehen können, wenn formlose Erkundigungen des Gerichts zum Aufenthaltsort des Klägers erfolglos geblieben sind. Insbesondere im vorliegenden Fall eines anwaltlich vertretenen Klägers drängt es sich auf, durch prozessleitende Verfügung beim Prozessvertreter den Fortbestand des Rechtsschutzinteresses zu erfragen und gegebenenfalls zur Vorlage einer aktuellen ladungsfähigen Anschrift des Klägers aufzufordern und hierzu eine angemessene Frist zu setzen (vgl. zu einem Fall der ausländerrechtlichen Abschiebung VGH BW, B.v. 5.2.2009 – 11 S 18/09 – juris Rn. 13). Bei der Bestimmung der Frist ist zu berücksichtigen, dass einem Schutzberechtigten, der nicht in seinen Herkunftsstaat abgeschoben wird, ausreichend Zeit einzuräumen ist, seine Unterkunft zu organisieren und seinen Rechtsanwalt zu unterrichten.

Erst wenn solche Erkundigungen erfolglos bleiben, können sich hieraus gegebenenfalls konkrete Zweifel an einem Fortbestand des Rechtsschutzinteresses ergeben und damit ein Anlass für eine Betreibensaufforderung entstehen. [...]

cc) Der vorliegenden Betreibensaufforderung fehlt nicht nur ein berechtigter Anlass, sondern auch ihr Inhalt ist im konkreten Fall unzulässig. Die dem Kläger aufgegebene Mitwirkungshandlung, eine aussagekräftige Bescheinigung über die neue Anschrift vorzulegen, ist nicht hinreichend bestimmt (1), trägt dem naheliegenden Risiko vorübergehender Obdachlosigkeit nicht ausreichend Rechnung (2) und ist auch deshalb überspannt, weil bei typisierter Betrachtung nicht anzunehmen ist, dass ihr im Falle einer unfreiwilligen Abschiebung regelhaft innerhalb von nur einem Monat nachgekommen werden kann (3).

(1) Mit Blick auf die einschneidende Rechtsfolge des § 81 Satz 1 AsylG muss die gerichtliche Betreibensaufforderung einen hinreichend bestimmten Inhalt haben [...]. Nur dann lässt sich feststellen, ob eine in Reaktion auf die Aufforderung vorgenommene Handlung als ausreichendes Betreiben angesehen werden kann, das den Eintritt der Rücknahmefiktion verhindert.

Hieran fehlt es. Der Aufforderung des Verwaltungsgerichts, eine aussagekräftige Bescheinigung über die neue Anschrift vorzulegen, mangelt es an einer Konkretisierung dahingehend, nach welchen Maßgaben sich die Aussagekraft bestimmt. Es ist unklar, ob eine formlose Bestätigung eines privaten Wohnungsgebers oder eines Einrichtungsbetreibers ausreichen soll, ob eine amtliche Bestätigung einer Ausländer- oder Asylbehörde genügt oder ob es einer Bescheinigung der örtlich zuständigen Meldebehörde bedarf. Ungeachtet der fehlenden Bestimmtheit bleibt im Übrigen unklar, ob die erwartete Bescheinigung nach den örtlich maßgeblichen Vorschriften überhaupt ausgestellt werden muss und ob insoweit nicht etwas Unmögliches verlangt wird.

(2) Ferner lässt das Verwaltungsgericht außer Acht, dass ein Ausländer, der in einen anderen Mitgliedstaat abgeschoben wird, manchmal mit einem – ihm sekundärmigrationsrechtlich möglicherweise zumutbaren – Risiko einer zumindest vorübergehenden Obdachlosigkeit konfrontiert ist. In einem solchen Fall ist es wegen Art. 19 Abs. 4 GG regelhaft nicht zulässig, eine Klage wegen Fehlens einer ladungsfähigen Anschrift als unzulässig abzuweisen (vgl. BVerwG, B.v. 14.2.2012 – 9 B 79.11 – juris Rn. 11). Daher ist folgerichtig das Risiko der Obdachlosigkeit auch bei Festlegung der konkreten Mitwirkungshandlung zu berücksichtigen.

(3) Das Risiko einer Verfahrensbeendigung durch die Fiktion einer Klagerücknahme darf das Gericht dem Kläger ferner nur zumuten, wenn es zu Mitwirkungshandlungen auffordert, die bei typisierter Betrachtung innerhalb der – vorbehaltlich eines Falles höherer Gewalt (vgl. BayVGH, B.v. 26.2.2021 – 24 ZB 19.2418 – juris Rn. 24) – nicht verlängerbaren Frist (vgl. § 224 Abs. 2 ZPO i.V.m. § 173 Satz 1 VwGO) von einem Monat erfüllt werden können.

Auch hieran fehlt es vorliegend. Es kann von einem abgeschobenen Kläger nicht erwartet werden, innerhalb nur eines Monats zunächst von seinem Rechtsanwalt über die Aufforderung informiert zu werden, sodann vor Ort eine Bescheinigung zu beschaffen, obwohl er mit den Gepflogenheiten des Mitgliedsstaats meist nicht vertraut sein wird, sie anschließend an seinen Rechtsanwalt zu übermitteln, der sie wiederum dem Gericht rechtzeitig zuleiten muss.

b) Die fiktive Klagerücknahme ist somit nicht wirksam; denn sie setzt die Rechtmäßigkeit der Betreibensaufforderung voraus. Das Verfahren ist deshalb nicht kraft Gesetzes beendet worden. [...]