VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Beschluss vom 19.01.2024 - 7 L 30/24.KS.A - asyl.net: M32176
https://www.asyl.net/rsdb/m32176
Leitsatz:

Verstoß gegen Nachtzeitverfügung begründet Flüchtigkeit:

1. Die "Flüchtigkeit" eines Familienmitglieds führt zu einer Verlängerung der Überstellungsfrist für alle Familienmitglieder.

2. Ein Verstoß gegen eine sog. Nachtzeitverfügung nach § 46 Abs. 1 AufenthG begründet eine "Flüchtigkeit", da sich die Person in diesem Zeitraum potentiellen Abschiebungsversuchen entzieht.

3. Eine Nachtzeitverfügung wird nicht durch einen Umzug innerhalb der Hessischen Erstaufnahme­einrichtung (HEAE) gegenstandslos, wenn die Verfügung sich ihrem Wortlaut nach nicht auf ein bestimmtes Zimmer oder eine bestimmte Adresse innerhalb der HEAE richtet.

4. Ein Feststellungsbegehren ist in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 123 VwGO grundsätzlich unzulässig.

(Amtliche Leitsätze; anderer Ansicht wohl: VGH Hessen, Beschluss vom 30.06.2020 - 10 A 430/19.Z.A - asyl.net: M28669)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Überstellungsfrist, flüchtig, Familieneinheit,
Normen: VO 604/2013 Art. 29 Abs. 2, AufenthG § 46, VwGO § 123
Auszüge:

[...]

2. Der Antrag ist auch unbegründet. Die Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO ist nicht abgelaufen.

Die Antragsgegnerin hat die Überstellungsfrist wirksam auf 18 Monate verlängert (Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO), weil der Antragsteller flüchtig war.

a) "Nach der Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 [ECLI:EU:C:2019:218], Jawo - Rn. 53 ff.) ist ein Antragsteller 'flüchtig' im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO, wenn er sich den für die Durchführung seiner Überstellung zuständigen nationalen Behörden gezielt entzieht, um die Überstellung zu vereiteln. Dies liegt vor, wenn die Überstellung nicht durchgeführt werden kann, weil der Antragsteller die ihm zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne die zuständigen nationalen Behörden über seine Abwesenheit zu informieren. Das vorlegende Gericht hat aber zu prüfen, ob er über die ihm insoweit obliegenden Pflichten unterrichtet wurde (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 - Rn. 70). Der Begriff setzt 'flüchtig' objektiv voraus, dass sich der Antragsteller den zuständigen nationalen Behörden entzieht und die Überstellung hierdurch tatsächlich (zumindest zeitweise) unmöglich macht (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 - Rn. 60). Das Verhalten des Antragstellers muss kausal dafür sein, dass er nicht an den zuständigen Mitgliedstaat überstellt werden kann [...]. Aufgrund der erheblichen Schwierigkeiten, den Beweis für die innere Tatsache der Entziehungsabsicht zu führen und um das effektive Funktionieren des Dublin-Systems zu gewährleisten, darf aus dem Umstand des Verlassens der zugewiesenen Wohnung, ohne die Behörden über die Abwesenheit zu informieren, zugleich auf die Absicht geschlossen werden, sich der Überstellung zu entziehen, sofern der Betroffene ordnungsgemäß über die ihm insoweit obliegenden Pflichten unterrichtet wurde (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 - Rn. 61 f.; (BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2021 – 1 C 42/20 –, juris Rn. 25). Ein einmaliges Nichtantreffen in der Wohnung oder Unterkunft lässt zwar grundsätzlich nicht auf Flüchtigsein schließen (BVerwG, Urteil vom 17. August 2021 – 1 C 26/20 –, juris Rn. 23), anders ist dies jedoch, wenn damit zugleich gegen eine auf § 46 Abs. 1 AufenthG gestützte Anordnung, sich in der Zeit von 0:00 Uhr bis 6:00 Uhr im zugewiesenen Zimmer aufzuhalten und eine beabsichtigte Abwesenheit spätestens am vorigen Tag anzuzeigen bzw. bei kurzfristiger (spontaner) Abwesenheit eine schriftliche Nachricht zu hinterlassen (sog. Nachtzeitverfügung, vgl. Hess. VGH, Beschluss vom 25. August 2020 – 3 D 1232/20 –, juris Rn. 6; Beschluss vom 30. Juni 2020 – 10 A 430/19.Z.A –, Rn. 3, juris), verstoßen wird. Denn in diesem Fall liegt in dem Verstoß gegen die Anordnung zugleich ein Sich-Entziehen potentieller Abschiebungsversuche in diesem Zeitraum (ständige Rechtsprechung der Kammer, etwa VG Kassel, Beschluss vom 31. August 2024 – 7 L 1436/22.KS.A – n.v.).

b) Der Antragsteller sowie seine Frau und seine Tochter waren verpflichtet, sich werktags von 0:00 Uhr bis 6:00 Uhr in ihrem Zimmer aufzuhalten und eine Abwesenheit entweder vorher anzuzeigen oder eine schriftliche Nachricht zu hinterlassen [...].

Die Verfügung ist auch nicht durch den Umzug der Familie von D. nach E. gegenstandslos geworden. Die Verfügung richtet sich bereits ihrem Wortlaut nach nicht auf ein bestimmtes Zimmer oder eine bestimmte Adresse innerhalb der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung (HEAE). Sie gilt vielmehr unabhängig davon, wo konkret in dieser Einrichtung Asylbewerber untergebracht sind. Das Regierungspräsidium Gießen ist in diesen Fällen nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AuslBehZustVO auch landesweit zuständig für den Erlass von Verfügungen nach § 46 Abs. 1 AufenthG, weil Asylbewerber zwar in manchen Fällen einen Wohnsitz im eigentlichen Zuständigkeitsbereich eines anderen Regierungspräsidiums haben können, sie aber nach wie vor in Unterkünften der HEAE untergebracht sind. Würde bei jedem Umzug innerhalb der HEAE der Erlass einer neuen Nachtzeitverfügung notwendig werden, würde dies einen bürokratischen Mehraufwand und eine damit verbundene Ressourcenbindung auslösen, die durch die Alleinzuständigkeit des RP Gießen für die HEAE gerade vermieden werden soll.

Ausgehend hiervon waren die Frau und die Tochter des Antragstellers beim Überstellungsversuch am 25. September 2023 flüchtig. Sie wurden an diesem Tag zwischen 02:15 Uhr und 03:00 Uhr nicht in der Erstaufnahmeeinrichtung in E. angetroffen. Sie haben ihre Abwesenheit nicht ihrer Verpflichtung aus der Nachtzeitverfügung entsprechend mitgeteilt. Dieses Verhalten widerspricht gerade dem Sinn und Zweck der Anordnung, wonach der/die Antragsteller im Fall einer Abschiebung in ihrem Zimmer angetroffen werden sollen. Selbst dem Antragsteller ist nach eigenem Bekunden nicht bekannt gewesen, wo sich Frau und Tochter aufhalten (vgl. 173_BPOL_Schreiben.pdf d. BA).

c) Auch der Antragsteller war flüchtig im Sinne der Dublin-III-VO. Zwar konnte er selbst angetroffen werden. Er muss sich jedoch zurechnen lassen, dass seine Frau und seine Tochter die Überstellung der gesamten Familie vereitelt haben.

Der Wortlaut des Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO verweist zwar auf die "betreffende Person".

Die "Flüchtigkeit" eines Familienmitglieds dient aber als Anknüpfungspunkt für eine einheitliche Verlängerung der Überstellungsfrist, da der Schutz der Familie aus Art. 6 GG, Art. 8 EMRK, Art. 7, Art. 24 Abs. 3 EUGrdRCh gebietet, die Familie insoweit als Einheit zu behandeln (vgl. OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 14. September 2018 – OVG 1 LA 40/18 –, juris Rn. 20 ff.). Dieser Grundsatz der Wahrung der Familieneinheit liegt dem gesamten Regelungsregime der Dublin-III-VO zugrunde. [...]

Aus der zitierten Entscheidung des EuGH vom 19. März 2019 – C-163/17 – ergibt sich keine andere Wertung, weil ihr kein Fall flüchtiger Familienmitglieder zugrunde lag. Für eine Vorlage der Frage, wie sich das Flüchtigsein der Familienmitglieder auf die Überstellungsfrist des angetroffenen Familienmitgliedes auswirkt, besteht kein Anlass, da die Rechtslage unter Heranziehung der Erwägungsgründe der Dublin-III-VO sowie der Grundrechte aus Art. 6 GG, Art. 8 EMRK, Art. 7, Art. 24 Abs. 3 EUGrdRCh hinreichend geklärt ist (i.S.d. acte-claire-Doktrin, EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 – C-283/81 [ECLI:EU:C:1982:335], CILFIT - Rn. 16). [....]