VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 07.03.2023 - 4 A 180/18 - asyl.net: M32174
https://www.asyl.net/rsdb/m32174
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Lehrer aus Afghanistan:

Einem ehemaligen Lehrer, der im Staatsdienst tätig war, droht politische Verfolgung. Die Taliban haben nunmehr uneingeschränkten Zugriff auf die Personalakten, sodass sie ohne Probleme dessen frühere berufliche Tätigkeit in Erfahrung bringen können. Hinzu kommt, dass er sich weigerte, sich für regierungsfeindliche Aktionen zur Verfügung zu stellen und nunmehr fast acht Jahre im westlichen Ausland verbracht hat.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Berufsgruppe, Lehrer, Staatsdienst, Taliban,
Normen: AsylG § 3
Auszüge:

[...]

b. Ausgehend von diesen Grundsätzen steht dem Kläger ein Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu.

Zur Überzeugung des Gerichts steht fest, dass der Kläger in Afghanistan mehrere Jahre lang im Auftrag des dortigen - mithin im afghanischen Staatsdienst - als Englischlehrer gearbeitet hat und aufgrund dieser beruflichen Tätigkeit schließlich in den Fokus einer regierungsfeindlichen Gruppierung geraten ist. Dies hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 2023 nachvollziehbar und glaubhaft geschildert. Die Einzelrichterin hatte bei der informatorischen Befragung des Klägers in der mündlichen Verhandlung zu keinem Zeitpunkt den Eindruck, der Kläger könnte über Ereignisse sprechen, die er selbst tatsächlich nicht erlebt hat. Der Kläger vermochte vielmehr die Fragen der Einzelrichterin spontan und ohne Zögern zu beantworten. Hierbei zeigten sich keine Widersprüchlichkeiten; dies gilt auch im Vergleich zu den Erklärungen, die der Kläger im Rahmen seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt gemacht hatte. Hinzu kommt, dass der Kläger von sich aus Wissenslücken einräumte (so hinsichtlich der Frage, zu welcher konkreten Gruppierung die ihn verfolgenden Personen gehört hätten) und überdies auch ohne Zögern für ihn ungünstige Angaben machte (so zu der finanziellen Situation seiner Eltern in Kabul, zu denen er weiterhin in Kontakt steht). Schließlich hat der Kläger im Verlauf des Asylverfahrens umfangreiche Unterlagen vorgelegt, die seine eigene berufliche Ausbildung zum Englischlehrer dokumentieren.

Im Weiteren ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erneut von Verfolgung betroffen sein wird. Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln werden u.a. ehemalige Regierungsbeamte und Personen, die die Regierung unterstützten oder als deren Unterstützer betrachtet werden, (jedenfalls) seit der Machtübernahme der Taliban von diesen verfolgt und sind deshalb speziell gefährdet. In diesem Zusammenhang wird von zahlreichen willkürlichen Verhaftungen und Inhaftierungen, Misshandlungen sowie Folter bis hin zu Tötungen berichtet. Betroffen hiervon sind nicht nur hochrangige Beamte, sondern auch Fahrer, Leibwächter oder Angehörige von Milizen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Gefährdungsprofile, vom 2. November 2022, S. 16 f., 18 f.). Aufgrund der mehrjährigen Tätigkeit des Klägers für das afghanische Bildungsministerium ist die Einzelrichterin zudem davon überzeugt, dass die Taliban bei einer Rückkehr des Klägers nach Afghanistan ohne Probleme dessen frühere berufliche Tätigkeit in Erfahrung bringen könnten. Denn seit ihrer Machtübernahme in Afghanistan haben die Taliban freien Zugang zu den seinerzeit beim Bildungsministerium geführten Personalakten. Aufgrund seiner früheren beruflichen Tätigkeit sowie seiner Weigerung, sich für regierungsfeindliche Aktionen zur Verfügung zu stellen, sowie schließlich aufgrund seines nunmehr fast achtjährigen Aufenthalts im westlichen Ausland ist für den Kläger somit eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für die Annahme einer erneuten Verfolgung gegeben.

Diese Verfolgung stellt sich auch als politisch dar. Aus den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln ergibt sich nämlich, dass Lehrkräfte und Bildungseinrichtungen bereits vor der Machtübernahme der Taliban immer wieder zu gezielten Angriffen der Taliban wurden. So registrierte UNAMA im Jahr 2020 62 Vorfälle, die den Zugang von Kindern zu Bildung beeinträchtigten. Schulen und Madrasas wurden beschädigt, Bildungspersonal und Schüler getötet, verletzt oder entführt. Zudem gab es Drohungen gegen Lehrkräfte. Die meisten Vorfälle ereigneten sich in den östlichen, nordöstlichen und nördlichen Regionen. UNAMA zeigte sich besorgt darüber, dass die regierungsfeindlichen Gruppierungen weiterhin direkte Angriffe auf Bildungseinrichtungen und -personal verübten (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 31. Oktober 2021: "Afghanistan: Gefährdungsprofile", S. 15). Hieraus wird erkennbar, dass die Taliban Lehrern immer wieder das Merkmal der politischen Gegnerschaft zu den Zielen der Taliban zuschreiben. Dies ist hier im Falle des Klägers besonders wahrscheinlich, da der Kläger als Lehrer für die englische Sprache tätig war, mithin die "Sprache der Ungläubigen" lehrte. [...]