BVerfG

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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 18.12.2023 - 2 BvR 1816/22 - asyl.net: M32155
https://www.asyl.net/rsdb/m32155
Leitsatz:

Gericht muss zur Benachrichtigung einer Vertrauensperson über eine Inhaftierung Meldeauskunft einholen:

1. Art. 104 Abs. 4 GG bestimmt, dass über die gerichtliche Anordnung oder Fortdauer einer Freiheitsentziehung unverzüglich eine Person des Vertrauens zu benachrichtigen ist. Zweck dieser Regelung ist es, einer in Haft genommenen Person den Kontakt nach außen zu sichern und ein spurloses Verschwinden von Personen zu verhindern

2. Die von Art. 104 Abs. 4 GG geforderte Benachrichtigung von einer Inhaftierung kann nicht davon abhängen, ob die festgehaltene Person, nachdem sie vom Haftgericht über ihre Rechte nach Art. 104 Abs. 4 GG informiert wurde, ohne weitere Vorbereitung - und gegebenenfalls sogar auswendig - die Anschrift einer Vertrauensperson benennen kann. Das Haftgericht ist im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht dazu verpflichtet, auf der Grundlage von Namen und Wohnort einer Person eine Meldeauskunft zur Ermittlung der erforderlichen Kontaktdaten einzuholen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Person des Vertrauens, Amtsermittlung, Benachrichtigung
Normen: GG Art. 104 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

Der Beschwerdeführer rügt mit seiner Verfassungsbeschwerde eine Verletzung der Benachrichtigungspflicht gemäß Art. 104 Abs. 4 GG.

I.

1. Der afghanische Beschwerdeführer wurde bei seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland festgenommen. Das Amtsgericht Hof ordnete nach persönlicher Anhörung des anwaltlich nicht vertretenen Beschwerdeführers Überstellungshaft an. Im Anhörungsvermerk heißt es: "Von meiner Verhaftung sollen verständigt werden: A. S. (Frankfurt). Die Sach- und Rechtslage hinsichtlich der Adresse von A. S. wurde erörtert."

2. Der mit der Sache befasste Richter verfügte am Tag der Anhörung unter anderem: "Vertrauensperson des Betroffenen gem. Protokoll informieren." Eine Ausführung dieses Verfügungsteils ist nicht dokumentiert. [...]. Weder A. S. noch ein Angehöriger oder eine sonstige Vertrauensperson wurde benachrichtigt.

3. Der Beschwerdeführer beantragte beim Amtsgericht Hof, den Beschluss über die Anordnung der Überstellungshaft aufzuheben und festzustellen, dass gegen Art. 104 Abs. 4 GG verstoßen worden sei. [...]

6. Mit Beschluss vom 7. Juni 2022 lehnte das Amtsgericht Hof den Antrag des Beschwerdeführers auf Feststellung, dass gegen Art. 104 Abs. 4 GG verstoßen worden sei, ab (Ziffer 2 des Tenors). Insoweit führte das Amtsgericht aus, der Beschwerdeführer habe lediglich den Vor- und den Nachnamen sowie den Wohnort (Frankfurt) seiner Vertrauensperson benannt, jedoch keine weiterführenden Kontakt- beziehungsweise Personendaten, insbesondere keine Adresse und kein Geburtsdatum. Weiterhin sei unklar, ob Herr S. in Frankfurt am Main oder in Frankfurt an der Oder wohne. Unter diesen Umständen sei die für eine Benachrichtigung zwingend erforderliche eindeutige Identifizierung – auch mittels Einwohnermeldeamtsabfrage – nicht gewährleistet gewesen, sodass eine Benachrichtigung seitens des Gerichts unmöglich gewesen wäre. Dem Gericht habe insoweit keine Nachforschungspflicht oblegen. [...]

II.

Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde bei sachgerechter Auslegung gegen Ziffer 2 des Tenors des Beschlusses des Amtsgerichts vom 7. Juni 2022, mit der das Amtsgericht seinen Antrag auf Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 104 Abs. 4 GG abgelehnt hat, sowie gegen den Beschluss des Landgerichts vom 6. September 2022, soweit das Landgericht die Beschwerde des Beschwerdeführers gegen Ziffer 2 des Tenors des Beschlusses des Amtsgerichts vom 7. Juni 2022 zurückgewiesen hat.

Das Amtsgericht habe keinen Angehörigen und keine Vertrauensperson benachrichtigt, obwohl der Beschwerdeführer eine solche Benachrichtigung gewünscht habe. Das Amtsgericht habe bezüglich der Anschrift der von ihm benannten Vertrauensperson nähere Ermittlungen anstellen und die zur Sach- und Rechtslage geführten Gespräche dokumentieren müssen. [...]

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an (§ 93b Satz 1 BVerfGG) und gibt ihr statt. [...]

1. Der Beschluss des Amtsgerichts Hof vom 7. Juni 2022 verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 104 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG, soweit der Antrag des Beschwerdeführers auf Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 104 Abs. 4 GG abgelehnt wird.

a) Art. 104 Abs. 4 GG, wonach von jeder richterlichen Entscheidung über die Anordnung oder Fortdauer einer Freiheitsentziehung unverzüglich ein Angehöriger des Festgehaltenen oder eine Person seines Vertrauens zu benachrichtigen ist, ist nicht nur eine objektive Verfassungsnorm, die dem Richter eine Verpflichtung auferlegt; sie verleiht dem Festgehaltenen vielmehr zugleich ein subjektives Recht darauf, dass die Vorschrift beachtet wird [...]. Der Zweck des Art. 104 Abs. 4 GG ist es, einer in Haft genommenen Person den Kontakt nach außen zu sichern und damit ein spurloses Verschwinden von Personen zu verhindern [...].

Die Benachrichtigung nach Art. 104 Abs. 4 GG obliegt dem Richter, der die Haft oder ihre Fortdauer anordnet, und hat von Amts wegen zu geschehen [...]. Der Richter kann die Benachrichtigung durch eine andere Stelle vornehmen lassen. Er muss aber dafür Sorge tragen, dass die Benachrichtigung unverzüglich erfolgt (vgl. BVerfGE 38, 32 <34>). [...]

Das Amtsgericht Hof hat die Benachrichtigung einer Vertrauensperson unterlassen, ohne dass sie unmöglich war. Dies belegt die undatierte Meldeauskunft, die sich in den Verfahrensunterlagen befindet. Unter dem Namen und dem Wohnort, den der Beschwerdeführer zu der Person angegeben hat, deren Benachrichtigung er wünschte, ergibt sich ein geeigneter Treffer. Die Einholung dieser Meldeauskunft war für das Amtsgericht auch nicht unzumutbar. Vielmehr ist auf der Grundlage von Namen und Wohnort einer Person zur Ermittlung der erforderlichen Kontaktdaten die Einholung einer Meldeauskunft im regelmäßigen Geschäftsgang möglich, wie es auch der gängigen Praxis entspricht. Dem Amtsgericht Hof oblag daher eine entsprechende Amtsermittlungspflicht. Die von Art. 104 Abs. 4 GG geforderte Benachrichtigung von einer Inhaftierung kann nicht davon abhängen, ob der vom Haftgericht über Art. 104 Abs. 4 GG informierte Festgehaltene ohne weitere Vorbereitung – und gegebenenfalls sogar auswendig – die Anschrift einer von ihm ausdrücklich benannten Vertrauensperson nennen kann. [...]