VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 09.01.2024 - 24 B 23.30364 - asyl.net: M32149
https://www.asyl.net/rsdb/m32149
Leitsatz:

Unzulässigkeit wegen Schutzzuerkennung in Dänemark:

"1. Die fehlende Bindung eines Mitgliedstaates der Europäischen Union an die Richtlinie 2013/32/EU (Verfahrensrichtlinie) und an die Richtlinie 2011/95/EU (Anerkennungsrichtlinie) steht einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht entgegen, wenn der durch diesen Mitgliedstaat gewährte Schutz inhaltlich mit den unionsrechtlichen Schutzgehalten vergleichbar ausgestaltet ist.

2. Im Falle der Gewährung subsidiären Schutzes durch Dänemark kommt es auf eine konkrete Betrachtung der dänischen Rechtslage an. Maßgeblich ist die Vergleichbarkeit der Rechtsfolgen einer Schutzgewährung, nicht die ihrer Voraussetzungen. Für Dänemark ist die Vergleichbarkeit zu bejahen."

(Amtliche Leitsätze; anderer Ansicht: OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 12.09.2022 - 11 A 369/22.A - justiz.nrw.de; siehe auch: VG Hamburg, Urteil vom 25.08.2023 - 7 A 1252/23 - asyl.net: M31874)

Schlagwörter: Zulässigkeit, Unzulässigkeit, Dänemark, subsidiärer Schutz, internationaler Schutz in EU-Staat, Qualifikationsrichtlinie, Asylverfahrensrichtlinie,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, RL 2013/32/EU, RL 2011/95/EU
Auszüge:

[...]

B. Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. [...]

I. Rechtsgrundlage der Nummer 1 des Bescheids ist § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Die Norm erfasst im Allgemeinen die Fälle, in denen andere Mitgliedstaaten einem Ausländer auf Basis des einschlägigen Unionsrechts Schutz gewähren (1.). Dänemark ist zwar Mitgliedstaat, nimmt aber nicht umfassend am Gemeinsamen Europäischen Asylsystem teil; es gewährt daher betroffenen Ausländern Schutz nach anderen Regeln (2.). Dieser Umstand schließt jedoch eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht von vornherein aus (3.). Die Möglichkeit einer Unzulässigkeitsentscheidung setzt allerdings voraus, dass Inhalt und Gehalt des durch Dänemark gewährten Schutzes mit dem des Unionsrechts vergleichbar ist (4.). Dies ist der Fall (5.). Die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG liegen hinsichtlich der Klägerin auch im Übrigen vor (6.).

1. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. [...]

2. Dänemark ist zwar Mitgliedstaat der Europäischen Union, aber an die Anerkennungsrichtlinie weder gebunden noch zu ihrer Anwendung verpflichtet [...]. Nach Art. 1 des Protokolls (Nr. 22) über die Position Dänemarks vom 2. Oktober 1997 [...], das gemäß Art. 51 EUV den Rang von Primärrecht hat, beteiligt sich das Land nicht an der Annahme von Maßnahmen durch den Rat, die nach dem Dritten Teil Titel V des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union vorgeschlagen werden. Entsprechend fehlt auch die Bindung an die Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl Nr. L 180 S. 60 – Verfahrensrichtlinie; s. a. den dortigen EG 59).

Von der Möglichkeit des Art. 7 des Protokolls, wonach Dänemark jederzeit einseitig und ohne Mitwirkung der übrigen Mitgliedstaaten seine Bindung an die entsprechenden Rechtsvorschriften herbeiführen kann, hat es hinsichtlich der genannten beiden Richtlinien bislang keinen Gebrauch gemacht [...].

An die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl Nr. L 180 S. 31, ber. 2017 Nr. L 49 S. 50) – im Folgenden Dublin-III-Verordnung – ist Dänemark hingegen gebunden. [...]

Vor diesem Hintergrund ist die Schutzgewährung Dänemarks zugunsten der Klägerin (hierzu noch näher unter 6.) keine Gewährung in Anwendung der Anerkennungsrichtlinie.

3. Gleichwohl ist eine Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamts nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht von vornherein ausgeschlossen. Denn erstens gestattet Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Verfahrensrichtlinie über den Wortlaut hinaus eine Unzulässigkeitsentscheidung auch bei einer Schutzgewährung, die ein Mitgliedstaat auf einer anderen Rechtsgrundlage als der Anerkennungsrichtlinie ausspricht (a). Zweitens ist davon auszugehen, dass der Unzulässigkeitstatbestand des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG und die damit verbundenen Befugnisse des Bundesamts nicht hinter diesen unionsrechtlichen Möglichkeiten zurückbleiben (b).

a) Eine systematische und teleologische Betrachtung des Art. 33 Abs. 2 Verfahrensrichtlinie ergibt, dass unionsrechtlich eine nationale Unzulässigkeitsentscheidung wegen erfolgter Schutzgewährung durch einen anderen Mitgliedstaat auch auf Basis anderer Vorschriften als der Anerkennungsrichtlinie möglich ist. [...]

bb) Während der Wortlaut des Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Verfahrensrichtlinie zunächst dafür spricht, dass sich der Anwendungsbereich der Norm nur auf die Gewährung von Schutz in Anwendung der Anerkennungsrichtlinie erstreckt, ergibt sich ein weiteres Verständnis aus dem Gesamtzusammenhang des Art. 33 Abs. 2 Verfahrensrichtlinie und den mit ihr verfolgten Zielen.

(1) Die unionsrechtliche Möglichkeit einer nationalen Unzulässigkeitsentscheidung anstelle einer Sachentscheidung ergibt sich abschließend aus Art. 33 Abs. 2 Verfahrensrichtlinie; dort nicht vorgesehene Unzulässigkeitsgründe dürfen die Mitgliedstaaten nicht begründen [...]. Vorliegend von Interesse sind Art. 33 Abs. 2 Buchst. a, b und d Verfahrensrichtlinie. [...]

(2) Diese Vorschriften verfolgen den Zweck, die Verwaltungsressourcen der Mitgliedsstaaten zu schonen (vgl. EG 36 Verfahrensrichtlinie) und Sekundärmigration zu verhindern [...].

(3) Mit diesem Normgefüge ist es nicht zu vereinbaren, im Falle einer Schutzgewährung durch Dänemark Unzulässigkeitsentscheidungen a priori auszuschließen. Andernfalls könnten im Verhältnis zu Dänemark weder Sekundärmigration vermieden noch Verwaltungsressourcen geschont werden, obwohl – auch vor dem Hintergrund der Möglichkeit Dänemarks, nach Art. 7 des Protokolls jederzeit und einseitig dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem vollständig „beitreten“ zu können – kein sachlicher Grund dafür besteht, anzunehmen, eine Schutzgewährung durch Dänemark dürfe für einen Ausländer unionsrechtlich von vornherein weniger folgenreich sein als sogar eine Schutzgewährung durch einen Drittstaat. [...]

(4) Zur Hinnahme andernfalls entstehender Wertungswidersprüche zwingt auch nicht das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 22. September 2022 (C-497/21). Der Gerichtshof hatte entschieden, dass es – erstens – wegen der fehlenden Bindung Dänemarks an die Anerkennungs- und an die Verfahrensrichtlinie mit Art. 33 Abs. 2 Buchst. d Verfahrensrichtlinie unvereinbar ist, einen Asylantrag als unzulässig abzulehnen, wenn ein zuvor in Dänemark gestellter Antrag abgelehnt worden ist, und dass es – zweitens – aus Gründen der Rechtssicherheit auch nicht in Betracht kommt, eine Unzulässigkeitsentscheidung nach konkreter Prüfung des dänischen (Asyl-)Verfahrensniveaus zu ermöglichen (vgl. EuGH, U.v. 22.9.2022 – C-497/21 – juris Rn. 50 ff.; s. a. EuGH, U.v. 20.5.2021 – C-8/20 – juris Rn. 44 ff.).

Dem Urteil kann jedoch weder ein dem Telos der Rechtssicherheit verpflichteter Vorrang der formalen (Wortlaut-)Betrachtung noch ein sämtliche Fallgestaltungen der Unzulässigkeitstatbestände des Art. 33 Abs. 2 Verfahrensrichtlinie übergreifendes Verbot einer mitgliedstaatenbezogenen „materiellen Vergleichsprüfung“ entnommen werden [...] Vielmehr würde eine umstandslose Übertragung des Urteils wesentliche Unterschiede in den Unzulässigkeitstatbeständen des Art. 33 Abs. 2 Verfahrensrichtlinie übergehen (vgl. a. VG Hamburg, U.v. 25.8.2023 – 7 A 1252/23 – juris Rn. 37 ff.). [...]

Hingegen wäre keine vergleichbare Prävention vor Sekundärmigration im Falle der Schutzgewährung durch Dänemark gegeben, nähme man an, eine Unzulässigkeitsentscheidung sei unionsrechtlich ausgeschlossen. [...]

cc) Art. 33 Abs. 2 Verfahrensrichtlinie ist somit zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen und zur Gewährleistung der praktischen Wirksamkeit des Unionsmigrationsrechts und seiner Ziele im Gebiet der gesamten Europäischen Union dahingehend auszulegen, dass Unzulässigkeitsentscheidungen unionsrechtlich nicht schon ausgeschlossen sind, nur weil ein Mitgliedstaat Schutz gewährt hat, der nicht umfassend an das einschlägige Unionssekundärrecht gebunden ist (zur Voraussetzung eines materiell vergleichbaren Schutzniveaus noch unter 4.). Gestattet ist eine Unzulässigkeitsentscheidung trotz der (auch) eingenommenen Vergleichsperspektive zu Drittstaaten dabei nicht in Anwendung des Art. 33 Abs. 2 Buchst. b Verfahrensrichtlinie (analog) – und daher auch nicht nach § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG, der für Mitgliedstaaten ohnehin nicht anwendbar ist [...].

b) Diese Auslegung des Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Verfahrensrichtlinie ist auch § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG zugrunde zu legen (a.A. VG Magdeburg, U.v. 19.2.2020 – 8 A 48/20 – juris 24 ff.; VG Ansbach, U.v. 21.11.2022 – AN 14 K 22.50075 – juris Rn. 36; Wittmann in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand 15.10.2023, § 1 AsylG Rn. 10a; offen Funke-Kaiser in Fritz/Vormeier, GK-AsylG, Werk- und Kommentierungsstand: August 2023, § 29 Rn. 9). Es ist nicht davon auszugehen, dass § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG vorliegend aufgrund einer gesetzgeberischen Entscheidung unanwendbar sein soll, obwohl das Unionsrecht eine Unzulässigkeitsentscheidung gestattet. Zwar deutet die Wendung „internationaler Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG“ darauf hin, dass die Vorschrift eine Zuerkennung von Schutz in Anwendung der Anerkennungsrichtlinie voraussetzt. Das wäre unionsrechtlich auch zulässig, denn der nationale Gesetzgeber muss die unionsrechtlichen Möglichkeiten einer Unzulässigkeitsentscheidung nicht vollständig ausschöpfen. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG verfolgt aber erkennbar die gleichen Zwecke wie Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Verfahrensrichtlinie und ist gerade durch seine – im Wege des Verweises auf § 1 AsylG bewirkte – Inkorporation unionsrechtlicher Vorschriften Ausdruck einer umfassenden Aktivierung der unionsrechtlichen Möglichkeiten von Unzulässigkeitsentscheidungen. [...]

4. Die bestehende Möglichkeit einer Unzulässigkeitsentscheidung nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Verfahrensrichtlinie und nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG im Falle der Schutzgewährung durch Dänemark setzt allerdings voraus, dass dem Begünstigten durch das dänische Recht materiell ein ausreichender Schutz gewährleistet wird. Notwendig ist im Falle des subsidiären Schutzes für die Beurteilung eine konkrete Betrachtung des dänischen Rechts. Denn für den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens bleibt wegen der fehlenden Bindung Dänemarks an die einschlägigen unionsrechtlichen Vorgaben kein Raum, auch wenn die fortbestehende Teilnahme Dänemarks am Zuständigkeitssystem der Dublin-III-Verordnung auf der Annahme der Mitgliedstaaten beruhen dürfte, dass das dänische Asylsystem in verfahrensrechtlicher und in materieller Hinsicht den unionsrechtlichen Vorgaben entspricht. [...]

5. Bei einer Gewährung subsidiären Schutzes nach dänischem Recht ist die Vergleichbarkeit mit dem unionsmigrationsrechtlichen Schutzniveau zu bejahen. Das dänische Recht gewährt mit seinen Schutzkategorien auch außerhalb des Flüchtlingsschutzes nach der Genfer Flüchtlingskonvention einen mit dem unionsrechtlichen subsidiären Schutz, namentlich mit dem Kapitel VI (Art. 18 f.) und Kapitel VII (Art. 20 ff.) der Anerkennungsrichtlinie in einem ausreichenden Maße vergleichbaren Schutz. Der Senat hat im Rahmen des § 293 ZPO, der nach § 173 Satz 1 VwGO auch im Verwaltungsprozess Anwendung findet (vgl. BVerwG, U.v. 29.11.2012 – 10 C 4.12 – juris Rn. 18), eigene Nachforschungen zur dänischen Rechtslage angestellt und mit Schreiben vom 24. Juli 2023 unter Hinweis auf verfügbare Quellen den Beteiligten Gelegenheit gegeben, sich hierzu zu äußern (vgl. zum gerichtlichen Verfahren Huber in Musielak/Voit, ZPO, 20. Aufl. 2023, § 293 Rn. 2; Meissner/Steinbeiß-Winkelmann in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Werkstand März 2023, § 173 VwGO Rn. 219 (Stand der Kommentierung Oktober 2014)). [...]

6. Die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG liegen auch im konkreten Fall vor. Die Klägerin hat ausweislich einer Mitteilung Dänemarks vom 9. Oktober 2022 Schutz nach Art. 7 Abs. 3 dänAuslG erhalten. Infolge ihrer Ausreise ist zwar der Aufenthaltstitel, aber nicht der Schutzstatus erloschen und es besteht ungeachtet dessen die Möglichkeit, bei einer Rückkehr zu beantragen, dass der Aufenthaltstitel nicht als erloschen betrachtet wird [...]. Schließlich wäre aber auch ein Verlust des Schutzstatus infolge der freiwilligen Ausreise rechtlich nicht relevant. Insoweit besteht kein Unterschied zu den Fällen des Verlusts eines Schutzes, der durch einen Mitgliedstaat gewährt wurde, der an das Unionsmigrationsrecht gebunden ist [...].