VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 13.12.2023 - 24 ZB 23.50020 - asyl.net: M32145
https://www.asyl.net/rsdb/m32145
Leitsatz:

Selbsteintritt im Dublinverfahren wegen überlanger Verfahrensdauer nur im Einzelfall:

1. Weder aus der Dublin-III-VO noch aus dem Asylgesetz kann eine Obergrenze für die Dauer eines Dublin-Verfahrens entnommen werden.

2. Ordnet ein Gericht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen einen Dublin-Bescheid aufgrund eines entsprechenden Antrags an und dauert das Gerichtsverfahren über fünf Jahre, entspricht das wohl nicht mehr dem Beschleunigungsgrundsatz der Dublin-III-VO.

3. Gleichwohl folgt aus einer derart langen Verfahrensdauer nicht zwingend ein Anspruch auf Selbsteintritt gemäß Art. 17 Dublin-III-VO. Ob das Ermessen des BAMF derart reduziert ist, hängt vom Einzelfall ab, wobei die Gründe für die Verzögerung eine Rolle spielen und die persönlichen Umstände der betroffenen Person, insbesondere ob es sich um eine minderjährige oder anderweitig vulnerable Person handelt. Dabei kann, vor allem bei Kindern, zu berücksichtigen sein, dass sich die betroffene Person in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert hat.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VG Berlin, Urteil vom 05.01.2023 - 39 K 320.19 A (Asylmagazin 5/2023, S. 173 f.) - asyl.net: M31371; VG Freiburg, Urteil vom 28.12.2020 - A 4 K 10160/17 - asyl.net: M29366)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Ermessensreduzierung auf Null, Verfahrensdauer, Asylverfahrensdauer, Grundsätzliche Bedeutung, Berufungszulassungsantrag, Höchstdauer, Beschleunigungsgebot, Ermessen, Integration,
Normen: VO 604/2013 Art. 17 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 27 Abs. 3,
Auszüge:

[...]

1 Der Kläger wendet sich gegen einen Bescheid, mit dem sein Asylantrag als unzulässig abgelehnt worden ist, da nach der Dublin-III-Verordnung Rumänien zur Bearbeitung seines Asylbegehrens zuständig sei. [...]

4 Das Verwaltungsgericht München ordnete mit Beschluss vom 23. Februar 2018 (M 22 S 18.50364) die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 26. Januar 2018 an.

5 Mit Urteil vom 3. April 2023 wies das Verwaltungsgericht die Klage ab. Rumänien sei für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig. [...]

6 Dagegen wendet sich der Kläger mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung. Er macht geltend, es sei grundsätzlich zu klären, ob für Personen wie ihn, die sich bereits seit einigen Jahren in Deutschland aufhalten und sich aufgrund eines überlangen Gerichtsverfahrens (hier 5 Jahre und 7 Monate) immer noch im Dublin-Verfahren befinden, ausnahmsweise von einer Ermessensreduzierung auf Null und somit von einem Anspruch auf Selbsteintritt der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszugehen sei. [...]

8 Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg, denn keiner der in § 78 Abs. 3 AsylG genannten Berufungszulassungsgründe ist hinreichend dargelegt (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG).

9 1. Die Berufung ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG zuzulassen. [...]

10 Die vom Kläger formulierte Frage, ob für Personen wie ihn, die sich aufgrund eines überlangen Gerichtsverfahrens immer noch im Dublin-Verfahren befinden, ausnahmsweise von einer Ermessensreduzierung auf Null und somit von einem Anspruch auf Selbsteintritt auszugehen sei, ist auf den Einzelfall bezogen und kann nicht grundsätzlich geklärt werden. [...]

12 Die Ermessensentscheidung hat entsprechend der nationalen Vorschriften zu erfolgen. Nachdem im Asylgesetz keine Vorgaben enthalten sind, wie bei einer solchen Entscheidung vorzugehen ist, richtet sich das Verfahren und die Entscheidung nach den allgemeinen Gesetzen, mithin nach § 40 VwVfG. Danach ist das Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Eine Ermessensreduzierung auf Null kommt dabei nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen in Betracht [...]. Einen diesbezüglichen grundsätzlichen Klärungsbedarf zeigt die Antragsbegründung nicht auf.

13 3. Zweck des Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO ist es, den Mitgliedstaaten die Möglichkeit zu geben, abweichend von Art. 3 Abs. 1 Dublin-III-VO die Zuständigkeit für die Durchführung eines Asylverfahrens aus humanitären Gründen oder in Härtefällen, insbesondere um Familienangehörige, Verwandte oder Personen jeder anderen verwandtschaftlichen Beziehung zusammenzuführen, an sich zu ziehen (17. Erwägungsgrund zur Dublin-III-VO). Dabei können zum einen Härtefälle in der Person des Asylantragstellers oder auch eine Überlastung des Asylsystems in einem Mitgliedstaat zum Selbsteintritt führen [...].

14 Zweck der Dublin-III-Verordnung insgesamt ist es, in einem einheitlichen Verfahren möglichst schnell den für ein Asylverfahren zuständigen Mitgliedstaat zu ermitteln und das Verfahren dort durchzuführen. Deshalb ist die Dublin-III-Verordnung geprägt von kurzen Fristen und straffen Verfahrensabläufen. Werden die Fristen nicht eingehalten, geht die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat über. Gleichzeitig lässt die Verordnung aber auch Raum, im Rahmen eines Gerichtsverfahrens (vgl. Art. 27 Dublin-III-VO) grundsätzliche Fragen zu klären und der betroffenen Person so lange den Aufenthalt zu ermöglichen (vgl. Art. 27 Abs. 3 Dublin-III-VO). Weder der Dublin-III-Verordnung noch dem Asylgesetz kann eine Obergrenze für die Dauer eines Dublin-Verfahrens entnommen werden. Auch im Falle der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage durch das Verwaltungsgericht gemäß Art. 27 Abs. 3 Buchst. c Dublin III-VO existiert keine Frist, nach deren Verstreichen die Zuständigkeit auf den Mitgliedstaat übergeht, der das Dublin-Verfahren durchführt. Wird die Klage, so wie hier, in erster Instanz abgewiesen, so endet die aufschiebende Wirkung nach § 80b Abs. 1 Satz 1 VwGO drei Monate nach Ablauf der gesetzlichen Begründungsfrist und die Fristen der Dublin-III-Verordnung beginnen wieder zu laufen.

15 4. In der Ermessensentscheidung nach Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO ist daher zwar zu berücksichtigen, dass die Dublin-III-Verordnung insgesamt auf Beschleunigung und kurze Entscheidungsfristen ausgelegt ist und ein Gerichtsverfahren im Rahmen einer Dublin-Entscheidung von über fünf Jahren, dem wohl nicht entspricht. Allerdings ist auch einzustellen, aus welchen Gründen das Gerichtsverfahren so lange gedauert hat. Hier haben weder die Beklagte noch der Kläger Tatsachen geschaffen, die zur Verzögerung geführt haben, sondern diese hatte ihre Ursache beim Verwaltungsgericht. Die kurzfristige zusätzliche Aussetzung der Vollziehung nach § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO durch das Bundesamt im Jahr 2020 wegen der Corona-Krise führte offensichtlich nicht zu einer Verzögerung des Verfahrens, sondern das Verfahren wurde vom Verwaltungsgericht in dieser Zeit nicht gefördert. Der Kläger hat auch nicht versucht, auf das Verwaltungsgericht einzuwirken, um eine schnellere Entscheidung zu erreichen. So hat er weder darum gebeten, eine mündliche Verhandlung anzuberaumen, noch die gesetzlich vorgesehenen Möglichkeiten ergriffen, sich gegen eine überlange Verfahrensdauer zur Wehr zu setzen. Vielmehr hat er noch im Januar 2023 angeregt, das Verfahren für ein Jahr ruhend zu stellen, damit er die erforderlichen Voraufenthaltszeiten für ein Aufenthaltsrecht nach § 25b AufenthG erreicht. Alleine die für die Abschiebung zuständige Zentrale Ausländerbehörde Niederbayern hat sich Ende 2021 und im März 2022 beim Verwaltungsgericht erkundigt, wann mit einer Entscheidung gerechnet werden könne.

16 Darüber hinaus sind in der Ermessensentscheidung auch die persönlichen Umstände zu berücksichtigen. Dabei fällt zum Beispiel ins Gewicht, ob es sich beim Kläger oder der Klägerin um eine minderjährige oder anderweitig vulnerable Person handelt [...].

17 Dass der Betreffende sich angesichts des langen Zeitablaufs in die Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland integriert hat, kann zwar grundsätzlich, insbesondere bei Kindern, auch Berücksichtigung finden, führt aber nicht ohne Weiteres zu einer Ermessensreduzierung auf Null. Insbesondere bei Erwachsenen ist dieser Umstand im Allgemeinen auch kein besonders gewichtiger Aspekt, sondern zeigt im Grunde nur, dass der Betreffende in der Lage ist, sich in neue Lebensverhältnisse einzufügen, was ihm dann wohl auch in dem nach der Dublin-III-Verordnung zuständigen Mitgliedstaat gelingen wird, sollte er dort internationalen Schutz erhalten. [...]