VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 18.12.2023 - M 26a K 20.31886 - asyl.net: M32144
https://www.asyl.net/rsdb/m32144
Leitsatz:

Widerruf eines Abschiebungsverbots nur bei wesentlicher Änderung der Sachlage:

Der Widerruf eines Abschiebungsverbots gemäß § 73 Abs. 6 S. 1 AsylG setzt voraus, dass sich die Sach- oder Rechtslage entscheidungserheblich geändert hat. Liegt eine solche wesentliche Änderung der Sach- oder Rechtslage nicht vor, ist es unerheblich, ob weiterhin ein Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots besteht. Die Neubewertung einer im Kern unveränderten Sachlage kann einen Widerruf nicht begründen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Nigeria, alleinerziehend, Abschiebungsverbot, Widerruf,
Normen: AsylG § 73 Abs. 6, AufenthG § 60 Abs. 5
Auszüge:

[...]

22 3. Die Klage ist begründet, da die Bescheide vom 10. und 16. Juni 2020 rechtswidrig sind und die Kläger in ihren Rechten verletzen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

23 3.1. Rechtsgrundlage für den Widerruf der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG ist § 73 Abs. 6 Satz 1 AsylG [...].

24 Nach dieser Vorschrift ist die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder 7 des Aufenthaltsgesetzes zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen.

25 Dabei ist die Frage, ob eine entscheidungserhebliche Änderung der Sach- oder Rechtslage vorliegt, anhand eines Vergleiches der Tatsachenlage zum Zeitpunkt der Feststellungsentscheidung des Bundesamts oder – im Falle einer gerichtlichen Verpflichtung – des Verpflichtungsurteils mit der Tatsachenlage zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht bzw. der letzten tatrichterlichen Entscheidung zu beurteilen (BeckOK AuslR/Fleuß, 39. Ed. 1.10.2023, AsylG § 73 Rn. 245).

26 Eine entsprechende Änderung der Sachlage ist anzunehmen, wenn neue Tatsachen in dem für den Widerruf gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt die Würdigung eines Nicht-mehr-Vorliegens der Voraussetzungen des betreffenden nationalen Abschiebungsverbotes rechtfertigen. Die Änderung der Sachlage darf nicht lediglich vorübergehender Natur sein, sondern muss die Feststellung rechtfertigen, dass die Faktoren, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbots geführt haben, als dauerhaft beseitigt angesehen werden können. Die Neubeurteilung einer im Kern unveränderten Sachlage genügt insoweit grundsätzlich nicht, da der bloße Zeitablauf für sich genommen keine Sachlagenänderung bewirkt (BeckOK AuslR/Fleuß, 39. Ed. 1.10.2023, AsylG § 73 Rn. 230 m.w.N.).

27 Vorliegend ist die Beklagte in den streitgegenständlichen Widerrufsbescheiden davon ausgegangen, dass die Kläger mit dem Lebensgefährten der Klägerin zu 1) und Vater des Klägers zu 2) als Familie zusammenleben, und dieser daher als ausreisepflichtiger nigerianischer Staatsangehöriger im Rahmen einer hypothetischen Rückkehrprognose mit den Klägern nach Nigeria zurückkehren werde und für diese sorgen könne.

28 Nach dem Vortrag des Bevollmächtigten der Kläger im Klageverfahren und den Ausführungen der Klägerin zu 1) in der mündlichen Verhandlung vom 18. Dezember 2023 geht das Gericht jedoch davon aus, dass die Kläger vom Vater des Klägers zu 2) jedenfalls seit ... 2022 getrennt leben und daher von einer gemeinsamen Rückkehr nach Nigeria nicht mehr ausgegangen werden kann. [...]

29 Demzufolge haben sich die den Bescheiden vom 7. April 2017 und vom 14. April 2017 zugrundeliegenden Feststellungen in tatsächlicher Hinsicht (Rückkehr der Kläger ohne den Vater des Klägers zu 2) nicht geändert, mit der Folge, dass die Voraussetzungen des § 73 Abs. 6 Satz 1 AsylG für den Widerruf der Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG nicht vorliegen.

30 Ob die Beurteilung der abschiebungsrechtlichen Situation im Rahmen eines Verpflichtungsbegehrens auf erstmalige Zuerkennung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG ebenso dazu führen würde, den Klägern als alleinerziehende Mutter mit einem Kind ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG zuzusprechen, ist in diesem Zusammenhang unerheblich, da mit der vorliegenden Anfechtungsklage die Aufhebung einer bestandskräftig zuerkannten Rechtsposition mit der Begründung, es liege keine erhebliche und dauerhafte Änderung der ursprünglichen Sachlage vor, abgewehrt werden soll. Solange keine erhebliche und dauerhafte Änderung der ursprünglichen Sachlage festgestellt wird, ist für eine Prüfung in einem zweiten Schritt, ob nationaler Abschiebungsschutz gegeben ist, kein Raum (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 16.08.2023 – 3 ZB 23.30036 – juris Rn. 12). [...]