VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Beschluss vom 02.01.2024 - AN 10 S 23.31732 - asyl.net: M32140
https://www.asyl.net/rsdb/m32140
Leitsatz:

Keine Ablehnung als offensichtlich unbegründet gemäß § 30 Abs. 1, Abs. 2 AsylG bei Minderjährigkeit:

1. Der Asylantrag eines Minderjährigen darf nicht gemäß § 30 Abs. 1 und 2 AsylG als offensichtlich unbegründet abgelehnt werden, auch wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen dafür dem Wortlaut nach vorliegen. Denn eine entsprechende Anwendung des § 30 Abs. 1, Abs. 2 AsylG auf Minderjährige widerspräche offensichtlich der unionsrechtlichen Regelung des Art. 25 Abs. 6 Asylverfahrensrichtlinie [RL 2013/32/EU].

2. Maßgeblich für die Bestimmung der Minderjährigkeit ist der Zeitpunkt der Einreise in das Bundesgebiet oder sogar in das Gebiet der Europäischen Union.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VG Berlin, Beschluss vom 06.05.2019 - 31 L 208.19 A - asyl.net: M27414)

Schlagwörter: Asylverfahren, Unionsrecht, unbegleitete Minderjährige, Minderjährigenschutz, offensichtlich unbegründet, Beurteilungszeitpunkt, minderjährig,
Normen: AsylG § 30 Abs. 1, AsylG § 30 Abs. 2, RL 2013/32/EU Art. 25 Abs. 6, RL 2013/32/EU Art. 31 Abs. 8
Auszüge:

[...]

13 Zwar ist unter Berücksichtigung des Sachvortrags des Antragstellers tatsächlich offensichtlich, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 – und nach summarischer Überprüfung der Rechtslage – auch die des § 30 Abs. 2 AsylG vorliegend gegeben sind. Der Antragsteller hat lediglich ausgeführt, dass die (finanzielle) Situation im Irak nicht gut gewesen sei, dass er bereits von Kindesalter an habe arbeiten müssen, weil es keine Unterstützung durch die Verwandtschaft gegeben habe und sein Vater als Kriegsverletzter nicht habe arbeiten können. Darüber hinaus hat der Antragsteller nur sehr allgemein auf die instabile Lage im Nordirak verwiesen. Dieser Sachvortrag zeigt auf, dass eine asylrelevante Verfolgung staatlicherseits aber auch durch nichtstaatliche Akteure offensichtlich nicht gegeben ist. Hinsichtlich der Voraussetzungen eines subsidiären Schutzstatus ist – jedenfalls konkret – ebenfalls nichts vorgetragen. [...]

14 Allerdings sind die hier einschlägigen Vorschriften des § 30 Abs. 1 und Abs. 2 AsylG teleologisch dahingehend zu reduzieren, dass der unionsrechtlich normierte Minderjährigenschutz des Art. 25 Abs. 6 der Asylverfahrensrichtlinie (RL 2013/32/EU v. 26.6.2013) zu beachten ist. Eine Berücksichtigung dieser Vorschrift lässt sich dem streitgegenständlichen Bescheid vom 1. Dezember 2023 allerdings nicht entnehmen.

15 Nach Art. 25 Abs. 6 der Asylverfahrensrichtlinie ist vorrangig das Kindeswohl zu berücksichtigen, so dass die Mitgliedsstaaten, die feststellen, dass der Betroffene ein unbegleiteter Minderjähriger ist, die Regelungen des Art. 31 Abs. 8 der Asylverfahrensrichtlinie nur dann angewendet oder weiter anwenden dürfen, wenn die dort genannten Voraussetzungen, die vorliegend nicht gegeben sind, vorliegen. Da es sich beim Irak allerdings nicht um einen sicheren Herkunftsstaat handelt, es vorliegend nicht um einen Folgeantrag geht und trotz der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen den Antragsteller derzeit nicht erkennbar ist, dass dieser eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt, dürfte die Antragsgegnerin Art. 31 Abs. 8 der Asylverfahrensrichtlinie nicht anwenden. Dies hat zur Folge, dass die nationale Regelung des § 30 AsylG dahin gehend europarechtskonform auszulegen ist, als dass sie auf unbegleitete minderjährige Flüchtlinge keine Anwendung finden kann.

16 Der Antragsteller ist Minderjähriger im Sinne des Art. 2l der Asylverfahrensrichtlinie sowie unbegleiteter Minderjähriger im Sinne von Art. 2l der Qualifikationsrichtlinie (RL 2011/95/EU v. 13.12.2011). Danach handelt es sich um einen unbegleiteten Minderjährigen, wenn dieser ohne Begleitung eines verantwortlichen Erwachsenen ins Bundesgebiet einreist. Dies scheint zwischen den Beteiligten auch unstrittig zu sein, weil dem Antragsteller im Laufe seines Verfahrens sowohl die bundesgesetzlichen als auch die unionsrechtlichen Privilegien für Minderjährige zugute gekommen waren. So wurde ihm ein gesetzlicher Vormund zur Seite gestellt, es erfolgte eine Anhörung unter Heranziehung speziell ausgebildeter Anhörer bzw. Entscheider für die Belange Minderjähriger und der Vormund war während der gesamten Anhörung anwesend und wurde ebenfalls gehört.

17 Der Antragsteller war daher während wesentlicher Teile des Verfahrens, also zum Zeitpunkt seiner Einreise, zum Zeitpunkt seiner Asylantragstellung wie auch zum Zeitpunkt der Anhörung beim Bundesamt ein unbegleiteter Minderjähriger in oben genanntem Sinne. Volljährig wurde der Antragsteller erst im Laufe des Verfahrens, d.h. nach seiner Einreise, nach Stellung des Asylantrages durch seinen Vormund und nach Anhörung beim Bundesamt, aber vor Erlass des streitgegenständlichen Bescheids.

18 Auf welchen Zeitpunkt es im Hinblick darauf ankommt, ob Art. 25 Abs. 6 der Verfahrensrichtlinie anzuwenden ist oder nicht, regelt ersichtlich weder nationales Recht noch Unionsrecht konkret. Er ist daher nach dem Sinn und Zweck der dem Minderjährigenschutz dienenden Vorschriften zu ermitteln. Nicht zweckdienlich ist dabei die Vorschrift des § 77 Abs. 1 AsylG, wonach das Gericht in Verfahren nach dem Asylgesetz auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung abzustellen hat. Ein Abstellen auf den Entscheidungszeitpunkt würde allerdings den Minderjährigenschutz entscheidend aushebeln, da zum Zeitpunkt der Entscheidung der Gerichte viele als unbegleitete minderjährige eingereiste Jugendliche bereits volljährig geworden sein dürften. Eine solche Rechtsauslegung wäre daher – nahezu bereits offensichtlich – nicht mit den Richtlinien in Einklang zu bringen.

19 Ebenfalls nicht abzustellen ist auf den Zeitpunkt des Bescheidserlasses durch das Bundesamt. Dies lässt sich allerdings nicht aus der vom Antragsteller geäußerten Begründung ableiten, dass es insbesondere deshalb nicht auf den Zeitpunkt der Zustellung des ablehnenden Bescheids ankommen kann, weil die Behörden ansonsten die Möglichkeit hätten, solange abzuwarten, bis der Betroffene die Volljährigkeit erreicht. Dieses von tiefem Misstrauen in staatliches Handeln geprägte Argument kann seitens des Gerichts weder in seiner Allgemeinheit nachvollzogen werden, noch ist es vorliegend gegeben. [...]

20 Des Weiteren kann auch der vom Verwaltungsgericht Berlin in seiner Entscheidung vom 6. Mai 2019 (VG 31 L 208.19A) geäußerten Rechtsauffassung nicht gefolgt werden, dass auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung abzustellen sei, weil ein Minderjähriger auf Grund seiner geistigen und sozialen Entwicklung und seiner fehlenden Reife möglicherweise nicht fähig sein mag, die Fluchtgründe geordnet und frei von Widersprüchen darzulegen. [...]

21 Vielmehr ergibt sich der maßgebliche Zeitpunkt allein aus den unionsrechtlichen Vorschriften. So geht Art. 25 Abs. 6 der Asylverfahrensrichtlinie – zumindest in seiner deutschen Fassung – davon aus, dass Art. 31 Abs. 8 Verfahrensrichtlinie nur unter den genannten, hier aber nicht einschlägigen Voraussetzungen anzuwenden oder weiter anzuwenden ist. Daraus entnimmt das Gericht den Willen des Richtliniengebers, dass bei Fällen, in denen festgestellt wurde, dass es sich um einen unbegleiteten Minderjährigen handelt, zum einen die Vorschriften des Art. 31 Abs. 8 der Verfahrensrichtlinie auch dann nicht anzuwenden sind, wenn das Verfahren bei Feststellung der Minderjährigkeit bereits begonnen worden war. Eine Begrenzung des Verbots der Anwendung von Art. 31 Abs. 8 der Verfahrensrichtlinie im Hinblick auf eine eintretende Volljährigkeit des Betroffenen ist der Richtlinie dann allerdings nicht mehr zu entnehmen. Hinzu kommt, dass die Qualifikationsrichtlinie in Art. 2l unbegleitete Minderjährige danach definiert, dass es sich um Minderjährige (also um unter 18-jährige) handelt, die ohne eine verantwortliche Begleitung ins Bundesgebiet einreisen. Es spricht also in Auslegung dieser Vorschrift viel dafür, dass es bei der Frage der Anwendbarkeit des Minderjährigenschutzes nicht auf den Zeitpunkt des Erlasses oder den Zeitpunkt der Zustellung des ablehnenden Bescheids ankommt, aber auch nicht auf den Zeitpunkt der Anhörung durch das Bundesamt oder die Asylantragstellung durch den Minderjährigen selbst oder dessen Vormund, sondern auf den Zeitpunkt der Einreise ins Bundesgebiet oder möglicherweise auch ins Unionsgebiet. [...]