Ausweisungs- und Bleibeinteresse bei Straftaten:
1. Zwar hat das Oberverwaltungsgericht zu Unrecht verkannt, dass es sich bei dem Kläger um einen faktischen Inländer handelt. Allerdings hat es die Gewichtung der Bleibeinteressen in nicht zu beanstandender Weise vorgenommen.
2. Ein Ausländer besitzt nur dann im Sinne des § 55 Abs. 1 und 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis, wenn diese ihm tatsächlich erteilt wurde. Die bloße Antragstellung reicht auch dann nicht aus, wenn sie dazu führt, dass der bisherige Aufenthaltstitel nach § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG als fortbestehend gilt.
3. Das Vorliegen eines Abschiebungsverbots kann dazu führen, dass die Bleibeinteressen geringer zu gewichten sind, da eine Abschiebung nicht droht. Es verbessert aber nicht die Rechtsstellung des Klägers und steht der Rechtmäßigkeit der Ausweisung nicht entgegen.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
c) Zugunsten des Klägers besteht weder ein besonders schwerwiegendes (§ 55 Abs. 1 AufenthG) noch ein schwerwiegendes (§ 55 Abs. 2 AufenthG) Bleibeinteresse. Der Kläger könnte insoweit allenfalls die in § 55 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 Nr. 2 AufenthG vertypten Tatbestände für sich in Anspruch nehmen, die indessen beide voraussetzen, dass der Ausländer zum Zeitpunkt der Ausweisungsentscheidung eine Aufenthaltserlaubnis besitzt. Das ist beim Kläger nicht der Fall. Die Geltungsdauer seiner Aufenthaltserlaubnis war bereits am 14. Juli 2016 und damit vor der Ausweisungsentscheidung abgelaufen. Zwar galt seine Aufenthaltserlaubnis von diesem Zeitpunkt an bis zur Ablehnung der Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis nach § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG als fortbestehend. Diese Fiktionswirkung stellt aber nicht den nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 Nr. 2 AufenthG erforderlichen Besitz einer Aufenthaltserlaubnis dar (vgl. VGH München, Beschluss vom 3. April 2019 - 10 C 18.2425 - juris Rn. 10; Fleuß, in: BeckOK Ausländerrecht, Stand Oktober 2023, § 55 AufenthG Rn. 21).
Das Erfordernis des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis macht schon nach seinem Wortlaut deutlich, dass die Aufenthaltserlaubnis zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung über die Ausweisung tatsächlich vorhanden und damit bereits erteilt sein muss. In systematischer Hinsicht folgt aus § 55 Abs. 3 AufenthG, dass ein besonders schwerwiegendes oder ein schwerwiegendes Bleibeinteresse nicht schon dann aus der Antragstellung hergeleitet werden kann, wenn sie nach § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG zur Folge hat, dass ein zuvor erteilter Aufenthaltstitel als fortbestehend gilt, sondern erst dann, wenn dem Antrag entsprochen wird. Die bloße Antragstellung reicht damit für die Begründung eines vertypten Bleibeinteresses nicht aus. Dieses Verständnis entspricht dem aus den Gesetzesmaterialien abzuleitenden Zweck des Tatbestandsmerkmals, das nur den Inhaber eines Aufenthaltstitels schützen will (vgl. BT-Drs. 18/4097, S. 53 zur Niederlassungserlaubnis). [...]
Zu Unrecht hat das Oberverwaltungsgericht allerdings dem Kläger die Eigenschaft eines sogenannten faktischen Inländers abgesprochen. Der Kläger lebt von Geburt an in Deutschland, hat im Bundesgebiet einen Schulabschluss erlangt und war im Anschluss daran – abgesehen von der Zeit seiner Inhaftierung – berufstätig. Nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts hat er sich lediglich einmal für zwei Wochen in Sri Lanka aufgehalten. Daher ist er in einer Weise als im Bundesgebiet verwurzelt und in Sri Lanka entwurzelt anzusehen, die es rechtfertigt, ihn als faktischen Inländer zu behandeln.
Trotz dieser unzutreffenden Bewertung der Situation des Klägers ist die Gewichtung seiner Bleibeinteressen durch das Oberverwaltungsgericht nicht zu beanstanden. Denn auch die Ausweisung einer Person, die aufgrund ihrer Verwurzelung in Deutschland und der damit korrespondierenden Entwurzelung im Heimatland als faktischer Inländer behandelt werden muss, ist nicht von vornherein unzulässig. Vielmehr ist der besonderen Härte, die mit einer solchen Ausweisung einhergeht, durch eine auf den konkreten Einzelfall bezogene individuelle Gefahrenprognose unter Berücksichtigung aktueller Tatsachen, die die Gefahr entfallen lassen oder nicht unerheblich vermindern können, sowie im Rahmen der Interessenabwägung durch eine besonders sorgfältige Prüfung und Erfassung der individuellen Lebensumstände des Ausländers, seiner Verwurzelung in Deutschland einerseits und seiner Entwurzelung im Herkunftsland andererseits, Rechnung zu tragen (EGMR, Urteil vom 30. November 1999 - 34374/97, Baghli/Frankreich - NVwZ 2000, 1401 Rn. 45 f.; EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 - C-371/08 [ECLI:EU:C:2011:809], Ziebell - Rn. 82 f.; BVerfG, Beschlüsse vom 19. Oktober 2016 - 2 BvR 1943/16 - NVwZ 2017, 229 Rn. 19 und vom 25. August 2020 - 2 BvR 640/20 - InfAuslR 2020, 424 Rn. 24; BVerwG, Urteil vom 16. Februar 2022 - 1 C 6.21 - BVerwGE 175, 16 Rn. 33 und Beschluss vom 2. August 2023 - 1 B 20.23 - juris Rn. 3). Diesen rechtlichen Anforderungen genügen die Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts. Es berücksichtigt, dass der Kläger sein gesamtes bisheriges Leben in Deutschland verbracht hat, dass sein Aufenthalt stets legal war, dass er die deutsche Sprache beherrscht und einen Realschulabschluss erreicht hat und dass er den überwiegenden Teil seiner sozialen Bezüge in Deutschland hat sowie mit den hiesigen Lebensumständen eingehend vertraut ist. In die zu berücksichtigenden Umstände hat das Oberverwaltungsgericht ferner eingestellt, dass der Kläger abgesehen von den Zeiten seiner Inhaftierung durchgehend berufstätig war. [...]
f) Offenbleiben kann, ob zugunsten des Klägers ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG eingreift. Dabei bedarf es hier keiner abschließenden Entscheidung der vom Oberverwaltungsgericht aufgeworfenen Frage, ob und in welchem Umfang solche Abschiebungsverbote im Rahmen der Abwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG zu berücksichtigen sind. Denn das Vorliegen eines Abschiebungsverbots könnte die Rechtsstellung des Klägers nicht verbessern, sondern lediglich dazu führen, dass seinen Bleibeinteressen geringeres Gewicht beizumessen wäre, und stünde der Rechtmäßigkeit der Ausweisung nicht entgegen.
Die Feststellung eines Abschiebungsverbotes zugunsten des Klägers hätte zur Folge, dass die zwangsweise Beendigung seines Aufenthalts auf absehbare Zeit aus Rechtsgründen nicht durchgeführt werden könnte. In einem solchen Fall sind nach den für die sogenannte "inlandsbezogene Ausweisung" entwickelten Grundsätzen die Bleibeinteressen des betroffenen Ausländers geringer zu gewichten, da deren konkrete Beeinträchtigung durch eine Abschiebung nicht droht (in diesem Sinne BVerwG, Urteil vom 9. Mai 2019 - 1 C 21.18 - BVerwGE 165, 331 Rn. 28 m. w. N.). Die vom Kläger für geboten erachtete Feststellung eines Abschiebungsverbotes aufgrund seiner Erkrankung hätte daher nicht zur Konsequenz, dass die Abwägung im Rahmen des § 53 Abs. 1 AufenthG zu seinen Gunsten ausfiele, da die gegen ihn sprechenden Belange im Übrigen überwiegen. Unabhängig davon steht eine Abschiebung des Klägers – und damit eine Beeinträchtigung seiner Bleibeinteressen – aufgrund der Aufhebung der Abschiebungsandrohung durch den Beklagten nebst dessen Vorbringen hierzu im Revisionsverfahren derzeit ohnehin nicht zu erwarten. [...]