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VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Beschluss vom 16.01.2024 - 8 K 8657/22 - asyl.net: M32128
https://www.asyl.net/rsdb/m32128
Leitsatz:

Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zum Aufenthaltsrecht eines Elternteils aus Unionsbürgerschaft des Kindes:

1. im Falle einer drittstaatsangehörigen Person, die Elternteil eines Kindes mit deutscher Staatsangehörigkeit ist, das alleinige Sorgerecht hat und die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung der elterlichen Sorge gemäß § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG begehrt, bei der aber aufgrund illegalen Aufenthalts gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ein Ausweisungsinteresse gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG besteht und die nicht gemäß § 5 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AufenthG mit dem erforderlichen Visum eingereist ist, kommt es hinsichtlich des Zeitraums des illegalen Aufenthalts entscheidend darauf an, ob gemäß Art. 20 AEUV ein Aufenthaltsrecht aus der Unionsbürgerschaft des Kindes folgt. Das Verfahren ist deshalb auszusetzen und die offenen Fragen, welche Voraussetzungen ein Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV hat, dem EuGH gemäß Art. 267 AEUV zur Vorabentscheidung vorzulegen.

2. Daran, dass die Voraussetzungen für ein Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV bei Einreise ohne das erforderliche Visum nur dann vorliegen, wenn ein Visumsverfahren nicht in zumutbarer Weise in einem kurzen, verlässlich zu begrenzenden Zeitraum nachgeholt werden kann, bestehen ernstliche Zweifel. Denn laut EuGH genügt für ein aus Art. 20 AEUV abgeleitetes Aufenthaltsrecht allein die Feststellung, dass einer drittstaatsangehörigen Person, die zur Familie eines Unionsbürgers gehört, kein Aufenthaltsrecht nach innerstaatlichem Recht gewährt werden kann und ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, so dass die Person mit Unionsbürgerschaft im Fall der Abschiebung der drittstaatsangehörigen Familienangehörigen gezwungen wäre, das Gebiet der Union zu verlassen.

3. Es bestehen Zweifel an der herrschenden Rechtsprechung, wonach das Aufenthaltsrecht gemäß Art. 20 AEUV unmittelbar kraft Unionsrechts entsteht, es von den nationalen Behörden somit lediglich zu bescheinigen wäre. Das vorlegende Gericht neigt zu der Auffassung, dass das Recht aus Art. 20 AEUV nicht unmittelbar kraft Unionsrecht entsteht, sondern durch die nationalen Behörden konstitutiv zu verleihen, bzw. zu gewähren ist.

4. Offen ist die auch die Frage, zu welchem Zeitpunkt ein Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV entsteht und ob es einen entsprechenden Antrag voraussetzt.

(Leitsätze der Redaktion; entgegen: BVerwG, Urteil vom 12.07.2018 - 1 C 16.17 - asyl.net: M26496)

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, Unionsbürgerschaft, Visumsverfahren, deutsches Kind, Ausweisungsinteresse, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, elterliche Sorge, Sorgerecht, Drittstaatsangehörige,
Normen: AEUV Art. 20, AufenthG § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, AufenthG § 5 Abs. 2 S. 1 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

Das Verfahren wird ausgesetzt.

Es wird gemäß Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu folgenden Fragen eingeholt:

1. Hängt das Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV davon ab, ob ein Visumsverfahren, welches von Gesetzes wegen für die Erteilung eines nationalen Aufenthaltstitels erforderlich ist, in zumutbarer Weise in einem kurzen, verlässlich zu begrenzendem Zeitraum nachgeholt werden kann?

2. Entsteht das Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV kraft Unionsrecht, so dass dieses durch die nationalen Behörden nur noch zu bescheinigen ist, oder ist ein solches Aufenthaltsrecht durch die nationalen Behörden konstitutiv zu gewähren?

3. Für den Fall, dass das Aufenthaltsrecht kraft Unionsrecht automatisch entsteht: zu welchem Zeitpunkt entsteht das Recht?

4. Für den Fall, dass das Aufenthaltsrecht durch nationale Behörden zu gewähren ist: zu welchem Zeitpunkt ist dieses rückwirkend zu gewähren? [...]

(14) Der Rechtsstreit ist auszusetzen. Gemäß Art. 267 AEUV ist eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Gerichtshof) zu den im Beschlusstenor formulierten Fragen einzuholen. [...]

(15) Die Vorlagefragen sind entscheidungserheblich und bedürfen der Klärung durch den Gerichtshof.

(16) Für die rechtliche Beurteilung des weiterhin anhängigen Streitgegenstands, ob der Klägerin auch für die Zeit vor dem 23. November 2023 (Datum des Teilurteils) ein Aufenthaltsrecht zusteht, ist von entscheidender Bedeutung, ob ein Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV entstanden ist, ob dieses kraft Unionsrecht automatisch entsteht und ab welchem Zeitpunkt es entstanden ist.

(17) Zur Überzeugung des Gerichts steht fest, dass nationales Recht der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach dem Aufenthaltsgesetz vor dem 23. November 2023 entgegensteht. Bis zu diesem Zeitpunkt bestand aufgrund des verwirklichten Straftatbestands des § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ein Ausweisungsinteresse im Sinne des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG. Dieses war bis zum 23. November 2023 aktuell, so dass die Regelerteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht erfüllt war. Erst ab dem 23. November 2023 konnte hiervon zur Überzeugung des Gerichts abgewichen werden. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG war aus diesem Grund ebenfalls ausgeschlossen. [...]

(18) Die nationale Rechtsprechung geht in Teilen davon aus, dass die Voraussetzungen für ein Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV erst vorliegen, wenn ein Visumsverfahren nicht in zumutbarer Weise in einem kurzen, verlässlich zu begrenzenden Zeitraum nachgeholt werden kann (BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2018 - 1 C 16.17 -, ECLI:DE:BVerwG:2018:120718U1C16.17.0 (= juris, Rn. 35); ebenso etwa OVG Magdeburg, Beschluss vom 21. September 2022 - 3 M 68/22 -, ECLI:DE:OVGST:2022:0921.2M68.22.00 (= juris, Rn. 12): Ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV scheidet aus, wenn der Ausländer das Unionsgebiet nur für einen kurzen, verlässlich zu begrenzenden Zeitraum zur Durchführung des Visumverfahrens verlassen muss).

(19) Zur Begründung wird auf die Rechtssache K.A. verwiesen. Dort hatte der Gerichtshof ausgeführt, dass es dem mit Art. 20 AEUV verfolgten Ziel zuwiderlaufe, den Drittstaatsangehörigen zu zwingen, das Unionsgebiet für unbestimmte Zeit zu verlassen (EuGH, Urteil vom 8. Mai 2018 - C-82/16 (K.A.) -, ECLI:EU:C:2018:308 (= curia.eu, Rn. 57)). [...]

(21) Das vorlegende Gericht hegt daran Zweifel. Sie begründen sich zum einen darin, dass der Gerichtshof in der genannten Rechtssache K.A. die vierte Vorlagefrage (4. lit. d) unbeantwortet ließ, der von der Ausländerbehörde und teilweise in der nationalen Rechtsprechung gezogene Umkehrschluss damit nicht zwingend ist. Dort war ausdrücklich gefragt worden, ob die Verpflichtung, einen Antrag […] im Herkunftsland zu stellen mit der Folge, dass der Unionsbürger gegebenenfalls für eine begrenzte Zeit das Gebiet der Europäischen Union als Ganzes verlassen muss, ein relevanter Aspekt sei. Auch erging die Entscheidung in einer Fallkonstellation zu einem bestehenden Einreiseverbot entsprechend Art. 11 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger.

(22) Demgegenüber scheint der Gerichtshof in der Rechtssache XU zu betonen, dass für ein aus Art. 20 AEUV abgeleitetes Aufenthaltsrecht allein die Feststellung genügt, dass einem Drittstaatsangehörigen, der zur Familie eines Unionsbürgers gehört, kein Aufenthaltsrecht nach innerstaatlichem Recht oder abgeleitetem Unionsrecht gewährt werden kann, sofern die Tatsache hinzukommt, dass zwischen dem Drittstaatsangehörigen und dem Unionsbürger ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das dazu führen würde, dass der Unionsbürger im Fall der Abschiebung seines drittstaatsangehörigen Familienangehörigen gezwungen wäre, das Gebiet der Union zu verlassen [...].

(23) Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG zum Zwecke der Familienzusammenführung setzt nach § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG zwingend voraus, dass der Drittstaatsangehörige zuvor mit dem erforderlichen Visum eingereist ist, also einem Visum zum Zwecke der Familienzusammenführung. Eine Ausnahme besteht nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG dann, wenn die Nachholung des Visumsverfahrens auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist. [...]

(24) In diesem Zusammenhang ist zudem festzustellen, dass Art. 20 AEUV anknüpfend an den Status des Unionsbürgers ein elementares, persönliches Recht gewährt, sich vorbehaltlich der im Vertrag  vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen und der Maßnahmen zu ihrer Durchführung im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei bewegen und aufhalten zu dürfen. Dieses Recht ist ohne ein Recht auf Einreise in das Unionsgebiet wertlos [...].

(26) Die nationale Rechtsprechung geht überwiegend davon aus, dass das Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV unmittelbar kraft Unionsrecht entsteht, es von den nationalen Behörden somit lediglich zu bescheinigen sei [...].

(27) Das vorlegende Gericht hegt daran Zweifel. Es neigt zu der Auffassung, dass das Recht aus Art. 20 AEUV nicht unmittelbar kraft Unionsrecht entsteht, sondern erst durch die nationalen Behörden konstitutiv zu verleihen, bzw. zu gewähren ist [...].

(37) Sollte das Aufenthaltsrecht kraft Unionsrecht entstehen, stellt sich für das vorlegende Gericht die Frage, ab welchem Zeitpunkt dieses entsteht.

(38) Dabei stellt sich zum einen die Frage, ob die Entstehung des Rechts einen Antrag voraussetzt. [...]

(39) Denkbar ist aber auch, dass das Aufenthaltsrecht der Klägerin bereits mit der Geburt des Kindes entstanden ist. Möglich erscheint auch, dass das Recht erst entsteht, wenn feststeht, dass ein Aufenthaltsrecht nach nationalem Recht oder abgeleitetem Unionsrecht nicht gewährt werden darf, etwa durch eine vorherige, gegebenenfalls zuvor zwingend zu ergehende Entscheidung der nationalen Behörden.

(40) Diese Fragen stellen sich letztlich auch, wenn das Recht nicht kraft Unionsrecht entsteht, sondern erst durch eine nationale Entscheidung zur Entstehung des Rechts aus Art. 20 AEUV. Auch hier ist die Frage zu beantworten, ab welchem Zeitpunkt das Recht rückwirkend zu gewähren ist. [...]