VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 04.10.2023 - A 9 K 2581/21 - asyl.net: M32120
https://www.asyl.net/rsdb/m32120
Leitsatz:

Systemische Mängel im rumänischen Asylsystem:

1. Es spricht Überwiegendes dafür, dass auch unter Berücksichtigung der großen Anzahl ukrainischer Geflüchteter in Rumänien nicht für alle Dublin-Rückkehrenden systemische Mängel gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO im Hinblick auf das rumänische Asylsystem anzunehmen sind.

2. Etwas anderes gilt aber für Personen, für die sich die Zuständigkeit Rumäniens aus Art. 18 Abs. 1 Bts. c Dublin-III-VO ergibt, weil sie ihren Antrag während der Antragsprüfung zurückgezogen und in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt haben oder sich ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates aufhalten. Denn in diesem Fall kann das Verfahren nach einer Rücküberstellung nach Rumänien nicht, wie in Art. 18 Abs. 2 Dublin-III-VO vorgesehen, weitergeführt werden. Stattdessen wird ein solcher Antrag entgegen Art. 18 Abs. 2 Dublin-III-VO in Rumänien unionsrechtswidrig als Folgeantrag behandelt, was systemische Mängel gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO begründet, auch weil der Entzug der während der Aufnahme gewährten Leistungen sowie Inhaftierung droht.

3. Die Regelung zur Wiederaufnahme des Verfahrens nach dessen Einstellung in Art. 18 Abs. 2 Dublin-III-VO hat in Dublin-Verfahren gegenüber den Regelungen des Art. 28 Abs. 2 Asylverfahrensrichtlinie Vorrang.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: VG Karlsruhe, Urteil vom 08.07.2021 - A 19 K 6766/18 - landesrecht-bw.de)

Schlagwörter: Rumänien, Aufnahmebedingungen, systemische Mängel, Einstellung, Rücknahme, Wiederaufnahme des Verfahrens, Asylfolgeantrag,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2, VO 604/2013 Art. 18 Abs. 2, VO 604/2013 Art. 18 Abs. 1 Bst. c, RL 2013/33/EU Art. 8 Abs. 3 Bst. f, RL 2013/32/EU Art. 28 Abs. 3, RL 2013/32/EU Art. 28 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Es kann im Ergebnis offenbleiben, ob Rumänien nach allgemeinen Regeln für den Asylantrag des Klägers zuständig war bzw. ist.

Die Zuständigkeit der Beklagten ergibt sich jedenfalls aus Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO. [...]

In Anwendung dieses strengen Maßstabs war nach den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln jedenfalls vor dem Ukraine-Konflikt grds. nicht davon auszugehen, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Rumänien systemischen Mängeln unterliegen, die im Falle von Dublin-Rückkehrern mit einem in Rumänien noch nicht abgeschlossenen Asylverfahren generell mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung führen [...]. Trotz der schwierigen Lebensbedingungen, denen Asylantragsteller und Menschen mit internationalem Schutzstatus in Rumänien ausgesetzt waren und immer noch sind, herrschten dort jedenfalls vor dem Ukraine-Konflikt im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs keine Missstände im Sinne genereller Funktionsbeeinträchtigungen, die die Annahme rechtfertigten, dass alle Personen, die aus dem Ausland nach Rumänien zurückkehren und deren Asylverfahren in Rumänien noch nicht abgeschlossen wurde, in rechtserheblicher Weise Gefahr laufen, in Rumänien der rechtlich beachtlichen Gefahr einer gegen Art. 4 der Grundrechtecharta bzw. Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung ausgesetzt zu sein.

Es kann dahinstehen, ob sich dies - infolge des mit dem Ukrainekonflikt verbundenen Zustroms zahlreicher geflüchteter Ukrainer - inzwischen geändert hat [...].

Denn bei dem Kläger kommt im Einzelfall hinzu, dass er von Rumänien nach der Antwort auf das Wiederaufnahmegesuch des Bundesamts nach Art. 18 Abs. 1 lit. c Dublin-III-VO - das heißt als Asylantragsteller mit abgeschlossenem Asylverfahren - behandelt werden wird.

Der legale Status eines Rückkehrers im Dublin-Verfahren hängt vom Stand seines Asylverfahrens in Rumänien ab. Hat der Rückkehrer noch keinen Asylantrag gestellt (Art. 18 Abs. 1 lit. a.) Dublin-III-VO), wird er als illegaler Fremder in Gewahrsam genommen, kann jedoch jederzeit einen Antrag stellen und wird dann sofort entlassen und als Erstantragsteller behandelt. Wurde in Rumänien zuvor ein Asylverfahren eröffnet, das noch läuft, und wird der Ausländer auf dieser Grundlage zurücküberstellt (Art. 18 Abs. 1 lit b.) Dublin-III-VO), wird dieses fortgesetzt. Wurde ein Asylverfahren eröffnet und in der Folge beendet, weil sich der Antragsteller abgesetzt hat, und wird der Ausländer auf dieser Grundlage zurücküberstellt (Art. 18 Abs. 1 lit. c.) Dublin-III-VO), wird der Rückkehrer als illegaler Fremder für längstens 18 Monate in Gewahrsam genommen. Er kann einen Folgeantrag stellen. Dieser hat aufschiebende Wirkung auf eine Außerlandesbringung, ebenso wie eine Beschwerde gegen Nichtzulassung des Folgeantrags. Für die Zulassung des Folgeantrags müssen aber neue Beweise vorgelegt werden. Soweit Asylsuchende das Land vor der Anhörung verlassen haben, wird ihr Antrag dennoch als Folgeantrag behandelt und sie müssen neue Beweise vorlegen, was vor allem für jene Asylwerber ohne Anwalt, auch in Anbetracht der Tatsache, dass sie inhaftiert sind, laut NGOs schwierig ist. Werden diese Drittstaatsangehörigen, deren Asylanträge in Abwesenheit negativ entschiedenen wurden, dann aufgrund der Dublin-VO nach Rumänien rücküberstellt, werden sie in Schubhaft genommen. UNHCR sieht darin eine mögliche Gefährdung des "Non-Refoulement-Prinzips". Dass diese Praxis gegenüber Dublin-Rückkehrern inzwischen geändert worden wäre, ergibt sich aus der Erkenntnislage nicht. Im Gegenteil spricht alles dafür, dass die Praxis fortgesetzt wird (s. zum Ganzen BFA, Länderinformationsblatt Rumänien, 23.08.2021, Stand: 18.08.2021, S. 4 f.; AIDA, Country Report Romania 2021 Update, 31.05.2022, S. 185, ferner nunmehr AIDA Country Report Romania 2022 update 31.05.2023, S. 166).

Diese Praxis verstößt gegen Art. 18 Abs. 2 Dublin-III-VO (wie hier auch VG Karlsruhe, Urteil vom 8. Juli 2021 - A 19 K 6766/18 -, juris [...]).

Hierzu hat der Einzelrichter im Beschluss vom 13.12.2019 (A 1 K 184/19 -, n.V., dem Bundesamt bekannt; s. allerdings nachfolgend im Hauptsacheverfahren VG Sigmaringen, Urteil vom 19. Februar 2021 - A 13 K 183/19 - juris, Rn. 39) ausgeführt:

"Sofern nach dem rumänischen Asylgesetz der Asylantrag eines Dublin-Rückkehrers, der Rumänien länger als neun Monate verlassen hat, tatsächlich einschränkungslos als Folgeantrag behandelt würde, stünde dies - worauf auch der AIDA-Bericht hinweist - im Widerspruch zu Art. 18 Abs. 2 UAbs. 2 der Dublin-III-VO. Danach hat der zuständige Mitgliedstaat, der in den in den Anwendungsbereich von Absatz 1 Buchstabe c fallenden Fällen die Prüfung nicht fortgeführt, nachdem der Antragsteller den Antrag zurückgezogen hat, bevor eine Entscheidung in der Sache in erster Instanz ergangen ist, sicherzustellen, dass der Antragsteller berechtigt ist, zu beantragen, dass die Prüfung seines Antrags abgeschlossen wird, oder einen neuen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, der nicht als Folgeantrag im Sinne der Richtlinie 2013/32/EU behandelt wird. [...]

Ein solcher Mangel des Asylverfahrens in Rumänien wäre als systemisch einzustufen, da er - zwar in einer Sonderkonstellation, aber insoweit in allen Fällen - regelmäßig und vorhersehbar auftritt und ferner aufgrund der geographischen Lage Rumäniens viele Dublin-Rückkehrer treffen und damit nicht nur geringfügig bleiben würde."

An dieser Auffassung hält der Einzelrichter fest und schließt sich insoweit zugleich der ausführlichen Begründung der oben zitierten Entscheidung des Verwaltungsgerichts Karlsruhe an, die der Einzelrichter für überzeugend hält. Das Verwaltungsgericht Karlsruhe hat zu dieser Frage ausgeführt (a.a.O., juris Rn. 28):

"Dabei handelt es sich um eine unionsrechtswidrige Praxis, da die in Art. 18 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO vorgeschriebene Fortsetzung der Asylverfahren von "Dublin-Rückkehrern" der in Art. 28 Abs. 2 UAbs. 2 der Richtlinie 2013/32/EU vorgesehenen Möglichkeit, die Fortsetzung des Verfahrens über neun Monate nach der vorherigen Einstellung als Folgeantrag zu behandeln, vorgeht. [...] Zudem soll das in der Dublin-III-Verordnung vorgesehene Verfahren der Zuständigkeitsbestimmung innerhalb der Europäischen Union während der laufenden Klärung nicht zu einem Rechtsverlust hinsichtlich des späteren Asylverfahrens führen [...].

Im Übrigen dürfte auch der unterschiedslose Leistungsausschluss für Folgeantragsteller unionsrechtlich nicht zulässig sein, da eine solche Leistungseinschränkung nach Art. 20 Abs. 1 UAbs. 1 lit. c) RL 2013/33/EU nur in begründeten Einzelfällen erfolgen darf (vgl. näher VG Karlsruhe, Beschl. v. 03.03.2021 – A 19 K 406/21 - juris, Rn. 21)."

Es ist nach alledem auch davon auszugehen, dass dieser im rumänischen Asylsystem strukturell angelegte Mangel, der den Vollzugsprozess gerade bei Dublin-Überstellungen prägt und der den Kläger voraussichtlich bei einer Rücküberstellung voraussichtlich betreffen würde, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit dazu führt, dass es bei dem Kläger zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung kommen wird.

So spricht schon die Würdigung der Erkenntnislage zu den Aufnahmebedingungen für Personen, die nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. c Dublin-III-VO nach Rumänien überstellt und dort als Folgeantragssteller behandelt werden, für die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass das rumänische Asylsystem im Falle eines Folgeantrags den Entzug der während der Aufnahme gewährten Leistungen vorsieht [...].

Darüber hinaus wird berichtet, dass Asylsuchende in Haft genommen werden könnten, wenn sie nach einer Asylantragsstellung in Rumänien irregulär die rumänische Grenze übertreten hätten und dass im Falle eines Folgeantrags die Haft in dem Zeitpunkt ende, in dem der Folgeantragssteller zum neuen Verfahren zugelassen werde (s. AIDA Country Report Romania 2021, a.a.O., S. 134 f.). Eine derartige Inhaftierung steht allerdings mit Art. 8 Abs. 3 lit. f der Aufnahmerichtlinie sowie Art. 18 Abs. 2 und Art. 28 Dublin-III-VO nicht in Einklang. [...]