VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 27.10.2023 - 6 K 647/21 - asyl.net: M32114
https://www.asyl.net/rsdb/m32114
Leitsatz:

Identität kann für Niederlassungserlaubnis auch ohne Pass nachgewiesen werden:

1. Für die Identitätsklärung im Rahmen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen (§ 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG) gelten die Maßstäbe, die das BVerwG für Einbürgerungsverfahren entwickelt hat (BVerwG, Urteil vom 23.09.2020 - 1 C 36.19 - asyl.net: M29222).

2. Die als Flüchtling anerkannte Person hat weder einen eritreischen Pass, noch kann sie diesen auf zumutbare Weise erlangen. Ihr ist es auch nicht zumutbar, eine Personenstandsurkunde aus Eritrea zu erwirken. Sie konnte aber ihre Identität mit anderen geeigneten amtlichen Urkunden (hier: Zeugnisse und Bescheinigungen einer staatlichen Schule; mit Lichtbild versehene Teilnahmebescheinigung eines Erste-Hilfe-Kurses und eines Sparbuches) nachweisen.

3. Es liegt ein atypischer Ausnahmefall vor, wenn die Person alle zumutbaren Anstrengungen zur Erlangung von Nachweisen über ihre Identität unternommen hat und eine exakte Feststellung eines der Merkmale der Identität (hier: Datum der Geburt) aufgrund der Gepflogenheiten im Herkunftsland nicht möglich erscheint.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Reiseausweis für Flüchtlinge, Identitätsfeststellung, Niederlassungserlaubnis,
Normen: AufenthG § 26 Abs. 3, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1a
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung einen Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis auf der Grundlage von § 26 Abs. 3 AufenthG. Der dies ablehnende Bescheid des Beklagten vom 22. April 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. Mai 2021 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger daher in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). [...]

Auch die allein zwischen den Beteiligten streitige Regelerteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 a AufenthG hindert die Erteilung der Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 Satz 1 AufenthG im vorliegenden Fall nicht. Die Identität des Klägers ist zwar nur insoweit geklärt, als es seinen Vor- und Zunamen sowie den Geburtsort betrifft; es fehlt insoweit an der Klärung des vollständigen Geburtsdatums. Unter den gegebenen Umständen ist jedoch von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG wegen Vorliegens eines atypischen Ausnahmefalles abzusehen.  [...]

Für die Identitätsklärung im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG gelten an dieser Stelle diejenigen Maßgaben, die das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 23. September 2020 (Az.: 1 C 36.19) für die Feststellung der Identität eines Ausländers im Einbürgerungsverfahren entwickelt hat (Die Identität i.R.v. § 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG nach dem Stufenmodell prüfend, aber gleichzeitig seine Übertragbarkeit auf das Ausländerrecht noch offenlassend: OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 08.03.2023 - 2 L 102/20, juris, Rn. 61 ff., 68 ff.).

Der Einbürgerung eines Ausländers in den deutschen Staatsverband geht typischerweise der Besitz einer Niederlassungserlaubnis oder eines vergleichbaren langfristigen Aufenthaltstitels voraus (vgl. § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StAG) und erfordert gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 StAG zwingend, dass die Identität des Einbürgerungsbewerbers geklärt ist und feststeht […].

Die Voraussetzungen für die Klärung der Identität müssen so ausgestaltet sein, dass es bis zur Grenze der objektiven Möglichkeit und subjektiven Zumutbarkeit mitwirkenden Ausländern auch dann möglich bleibt, ihre Identität nachzuweisen, wenn sie sich in einer Beweisnot befinden, etwa weil deren Herkunftsländer nicht über ein funktionierendes Personenstandswesen verfügen oder ihre Mitwirkung aus Gründen versagen, die der Ausländer nicht zu vertreten hat, oder weil diese als schutzberechtigte Flüchtlinge besorgen müssen, dass eine auch nur gleichsam technische Kontaktaufnahme mit Behörden des Herkunftslandes Repressalien für Dritte zur Folge hätte [...].

Gerade den bei anerkannten Flüchtlingen typischerweise bestehenden Beweisschwierigkeiten in Bezug auf ihre Identität ist dementsprechend durch Erleichterungen bei der Beweisführung und durch deren Berücksichtigung bei der Mitwirkungspflicht, nicht aber durch einen generellen Verzicht auf die Identitätsprüfung Rechnung zu tragen [...].

Die § 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG zugrunde liegenden sicherheitsrechtlichen Belange der Bundesrepublik Deutschland und der Umstand, dass der Ausländer grundsätzlich eine realistische Chance haben muss, eine Klärung seiner Identität bewirken zu können, sind daher im Rahmen einer gestuften Prüfung einem angemessenen Ausgleich zuzuführen.

Den Nachweis seiner Identität hat der Ausländer zuvörderst und in der Regel durch Vorlage eines Passes, hilfsweise auch durch einen anerkannten Passersatz oder ein anderes amtliches Identitätsdokument mit Lichtbild (z.B. Personalausweis oder Identitätskarte) zu führen. Denn ein gültiger und anerkannter Pass bescheinigt auch, dass die in ihm angegebenen Personendaten (Geburtsdatum, Geburtsort, Name, Vorname) den Personalien des durch Lichtbild und Unterschrift ausgewiesenen Inhabers des Papiers entsprechen [...].

Auch ein Reiseausweis für Flüchtlinge hat eine Beweiskraft hinsichtlich der darin enthaltenen Personalien, weshalb ihm im Grundsatz eine Identifikationsfunktion zukommt. Der Reiseausweis nach Art. 28 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ermöglicht wie ein nationaler Reisepass den (widerlegbaren) Nachweis, dass sein Inhaber die in ihm genannte, beschriebene und abgebildete Person ist und die darin enthaltenen Angaben mit den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen des Inhabers übereinstimmen. Die Identitätsfunktion des Reiseausweises wird jedoch durch einen Vermerk, wonach die angegebenen Personalien auf eigenen Angaben beruhen, aufgehoben [...].

Ist der Ausländer nicht im Besitz eines amtlichen Identitätsdokuments und ist ihm dessen Erlangung objektiv nicht möglich oder subjektiv nicht zumutbar, so kann er seine Identität auch mittels anderer geeigneter amtlicher Urkunden nachweisen, bei deren Ausstellung Gegenstand der Überprüfung auch die Richtigkeit der Verbindung von Person und Name ist, sei es, dass diese mit einem Lichtbild versehen sind (z.B. Führerschein, Dienstausweis oder Wehrpass), sei es, dass sie ohne ein solches ausgestellt werden (z.B. Geburtsurkunden, Melde-, Tauf- oder Schulbescheinigungen). Dokumenten mit biometrischen Merkmalen kommt insoweit ein höherer Beweiswert zu als solchen ohne diese Merkmale.

Ist der Ausländer auch nicht im Besitz solcher sonstigen amtlichen Dokumente und ist ihm deren Erlangung objektiv nicht möglich oder subjektiv nicht zumutbar, so kann sich der Ausländer zum Nachweis seiner Identität sonstiger nach § 26 Abs. 1 Satz 1 und 2 VwVfG zugelassener Beweismittel bedienen. Hierzu zählen insbesondere nichtamtliche Urkunden oder Dokumente, die geeignet sind, die Angaben zu seiner Person zu belegen, gegebenenfalls auch Zeugenaussagen. Ist dem Ausländer auch ein Rückgriff auf sonstige Beweismittel im Sinne des § 26 Abs. 1 Satz 1 und 2 VwVfG objektiv nicht möglich oder subjektiv nicht zumutbar, so kann die Identität des Ausländers ausnahmsweise allein auf der Grundlage seines Vorbringens als nachgewiesen anzusehen sein, sofern die Angaben zur Person auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Umstände des Einzelfalles und des gesamten Vorbringens des Ausländers zur Überzeugung der Ausländerbehörde feststehen [...].

Für die Überzeugungsbildung (§ 108 VwGO) ist ein für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewissheit erforderlich, der Zweifeln Schweigen gebietet, ohne diese völlig auszuschließen. Die auf den verschiedenen Stufen zu berücksichtigenden Beweismittel müssen hierfür jeweils in sich stimmig sein und auch bei einer Gesamtbetrachtung jeweils im Einklang mit den Angaben des Ausländers zu seiner Person und seinem übrigen Vorbringen stehen [...].

Dies zugrunde gelegt, sieht das Gericht vorliegend den Vor- und Zunamen und den Geburtsort des Klägers als geklärt an. [...]

Außerdem war und ist der Kläger nach seinen eigenen glaubhaften Angaben nicht im Besitz eines eritreischen Nationalpasses oder eines anderen amtlichen Identitätspapiers. Es ist ihm auch nicht zumutbar, ein solches bei eritreischen Behörden zu erwirken. Dem Kläger wurde mit Bescheid des Bundesamtes vom 10. Juni 2015 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Als anerkanntem Flüchtling ist es ihm - seinem Status folgend - schon nicht zumutbar, sich zur Erlangung von Reisepapieren an seinen Heimatstaat zu wenden. Dies gilt im Falle von eritreischen Staatsangehörigen - wie dem Kläger - umso nachdrücklicher, nachdem diese zur Erlangung eines Nationalpasses bei der Auslandsvertretung eine sog. Reueerklärung abgeben müssen, die nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts [...] mit grundlegenden rechtsstaatlichen Anforderungen unvereinbar ist und daher als Mitwirkungshandlung von dem Ausländer gegen seinen Willen nicht verlangt werden kann.

Ebenso ist es dem Kläger nicht zumutbar, eine Personenstandsurkunde - wie zum Beispiel eine Geburtsurkunde - durch Dritte in Eritrea erwirken zu lassen. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes können zwar im Ausland lebende eritreische Staatsangehörige Dritte (z.B. Familienangehörige, Bekannte, Rechtsanwälte) schriftlich für die Beschaffung von benötigten Personenstandsurkunden und auch für die Registrierung von Geburten und Eheschließungen in Eritrea bevollmächtigen. Jedoch verlangen die zuständigen eritreischen Standesämter dafür typischerweise eine Beglaubigung der Vollmacht durch eine eritreische Auslandsvertretung, die wiederum die Unterzeichnung des Formulars "Immigration and Citizenship Services Request Form", also u.a. der sog. Reueerklärung [...] erfordert. [...]

Der Kläger hat wesentliche Aspekte seiner Identität - nämlich seinen Namen und den Geburtsort - aber mittels anderer geeigneter amtlicher Urkunden sowie sonstiger nach § 26 Abs. 1 Satz 1 und 2 VwVfG zugelassener Beweismittel nachgewiesen. Ebenso hat der Kläger zumindest sein Geburtsjahr in diesem Sinne nachgewiesen. Die von ihm vorgelegten Beweismittel sind jeweils in sich stimmig und stehen auch bei einer Gesamtbetrachtung jeweils im Einklang mit den Angaben des Klägers zu seiner Person und seinem übrigen Vorbringen. Der Kläger hat seit seiner Einreise nach Deutschland auch zu keinem Zeitpunkt abweichende Angaben bezogen auf seine Personalien gemacht. Vielmehr decken sich alle Angaben, die er im Rahmen seiner Anhörung beim Bundesamt am 28. März 2014 gemacht hat, mit den Inhalten der Dokumente, die er im Verlauf des Klageverfahrens vorgelegt hat.

So hat der Kläger insbesondere zwei Bescheinigungen bzw. Zeugnisse einer offensichtlich staatlichen Schule aus den Jahren 2002 bis 2004 vorgelegt. Die mit "Student Report Card" überschriebenen und offenbar vom eritreischen Bildungsministerium ausgegebenen Bescheinigungen wurden dem Stempel nach von der "… Secondary School" individualisiert ausgestellt und bescheinigen dem damals 15- bzw. 16-jährigen … bzw. … die Versetzung in die 9. bzw. 10. Klasse aufgrund der dokumentierten Leistungen in den einzelnen Fächern. Dass die Dokumente von einer Schule in ... ausgestellt wurden, steht im Einklang mit den Angaben des Klägers in seiner Anhörung beim Bundesamt am 28. März 2014, wonach er aus einem Ort (...) nahe ... stamme. Darüber hinaus passen auch die Altersangaben (15 bzw. 16 Jahre) zu der Angabe des Klägers, wonach er im Jahr 1989 geboren sei. Dabei ist im Hinblick auf die rechnerischen Abweichungen zum einen zu berücksichtigen, dass das Geburtsdatum in Eritrea nicht denselben Stellenwert hat wie in Europa; häufig ist - wie auch der Kläger in der mündlichen Verhandlung glaubhaft dargelegt hat - lediglich das Geburtsjahr bekannt. [...]

Neben den benannten Schulbescheinigungen hat der Kläger nämlich ein Zertifikat über die Teilnahme an einem Erste-Hilfe-Kurs sowie ein Sparbuch vorgelegt, die beide ein Lichtbild tragen und den daraus ersichtlichen Angaben nach aus dem Jahr 2004 stammen. Seide Lichtbilder zeigen dieselbe jugendliche männliche Person, bei der es sich nach vergleichender Betrachtung des in der Ausländerakte befindlichen Passfotos mit hoher Wahrscheinlichkeit um den Kläger handelt, und stehen insoweit auch im Einklang mit der Angabe des Klägers, er sei 1989 geboren und damit im Jahr 2004 ungefähr 16 Jahre alt gewesen. Außerdem sind beide Dokumente wiederum auf den Namen des Klägers ausgestellt und das Sparbuch weist zudem als Adresse des Inhabers "..." aus, was sich mit den Angaben des Klägers in seiner Anhörung beim Bundesamt deckt. Auch erscheint es plausibel, dass das Sparbuch dem aufgebrachten Stempel nach von der Filiale der "Commercial Bank of Eritrea" in ... ausgestellt wurde, nachdem dieser Ort nur ungefähr vierzig Autominuten von ... entfernt liegt.

Allerdings ist die Identität des Klägers letztlich nicht als im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG geklärt anzusehen. Es fehlt nämlich an einer Klärung des (vollständigen) Geburtsdatums. Diesbezüglich konnte der Kläger lediglich hinreichend belegen, dass er im Jahr 1989 geboren wurde. Nach seinen glaubhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung sind ihm Tag und Monat seiner Geburt indes nicht bekannt. Für den deutschen Rechtskreis ist jedoch die Klärung des "gesamten" Geburtsdatums - also Tag, Monat und Jahr - erforderlich; dass der Kläger in deutschen Verwaltungsunterlagen mit dem Geburtstag "... 1989" geführt wird, beruht lediglich auf der Verwaltungsübung, bei unbekanntem Tag und Monat der Geburt den 01. Januar als fiktives Datum einzutragen.

Insoweit ist vorliegend aber von einem atypischen Ausnahmefall auszugehen, der ein Absehen von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG gebietet.

Ein vom Regelfall abweichender Ausnahmefall liegt im Falle von atypischen Umständen vor, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen. Ob ein Ausnahmefall vorliegt, ist gerichtlich voll überprüfbar […].

Vorliegend ergibt sich die Atypik des Falles daraus, dass die wesentlichen Aspekte der Identität des Klägers - lediglich mit Ausnahme von Tag und Monat der Geburt - geklärt sind, dass der Kläger alle zumutbaren Anstrengungen zur Erlangung von Nachweisen über seine Identität unternommen hat und eine exakte Feststellung des Geburtstags des Klägers aufgrund der praktischen Begebenheiten in seinem Heimatland Eritrea nicht möglich erscheint. Weder ist durch die Beteiligten vorgetragen noch ist sonst ersichtlich, in welcher Weise weitergehende Maßnahmen durch den Kläger möglich und erfolgversprechend sein könnten, um Tag und Monat seiner Geburt aufzuklären bzw. nachzuweisen. [...]