Dublin-Anhörung muss bei besonderem Schutzbedarf durch Sonderbeauftragte durchgeführt werden:
1. Das Recht auf eine persönliche Anhörung gemäß Art. 14 Abs. 1 Asylverfahrensrichtlinie [RL 2013/32/EU] gilt gemäß Art. 34 Asylverfahrensrichtlinie für Entscheidungen in der Sache wie für Entscheidungen über die Zulässigkeit des Asylantrags. Das Recht, sich in einer persönlichen Anhörung auch zu Unzulässigkeitsgründen zu äußern, geht mit der Garantie gemäß Art. 15 Abs. 3 Bst. a Asylverfahrensrichtlinie einher, dass die anhörende Person befähigt ist, die persönlichen Umstände der schutzsuchenden Person, wie Geschlechtsidentität, sexuelle Orientierung oder besondere Schutzbedürftigkeit zu berücksichtigen.
2. Bringt eine schutzsuchende Person in ihrer Anhörung vor, Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt geworden zu sein, bedarf es auch in der Dublin-Anhörung der Anhörung durch eine Sonderbeauftragte, die befähigt ist, die Schutzbedürftigkeit zu berücksichtigen und die Anhörung mit genügend Zeit und Sensibilität für die Scheu, die eigene Verfolgungsgeschichte zu erzählen, vorzunehmen.
3. Weil die Dublin-Anhörung nicht von einer entsprechend geschulten Person vorgenommen worden ist, ist der Bescheid rechtswidrig. Denn die Anhörung ist nicht unter den Bedingungen der Asylverfahrensrichtlinie vorgenommen worden und es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Klägerin gegenüber einer entsprechend geschulten Person hinsichtlich der erlittenen geschlechtsspezifischen Gewalt Ausführungen gemacht hätte, die Einfluss auf die Beurteilung einer mögliche drohende Verletzung ihrer Rechte aus Art. 4 GR-Charta im Dublin-Zielstaat gehabt hätte.
4. Aufgrund des Grundsatzes des gesetzlichen Richters kann der Verletzlichkeit der Klägerin im gerichtlichen Verfahren nicht gemäß der Asylverfahrensrichtlinie Rechnung getragen werden, so dass der Verfahrensfehler auch nicht im gerichtlichen Verfahren geheilt werden kann.
(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: EuGH, Urteil vom 16.07.2020 - C-517/17 Addis gg. Deutschland (Asylmagazin 9/2020, S. 314 f.) - asyl.net: M28645)
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Der streitgegenständliche Asylbescheid des Bundesamts vom 19.08.2022 ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hauptsatz 1 AsylG) rechtswidrig und verletzt die Klägerin deshalb in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
1. Die Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheides ist rechtswidrig, weil das Bundesamt seiner Verpflichtung zur persönlichen Anhörung der Klägerin nicht ausreichend nachgekommen ist.
a. Die persönliche Anhörung der Klägerin im behördlichen Asylverfahren wurde nicht unter den Bedingungen der Asylverfahrens-Richtlinie 2013/32/EU vorgenommen (vgl. Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Auflage 2022, § 29 AsylG Rn. 41).
Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32/EU sieht vor, dass, bevor die Asylbehörde eine Entscheidung trifft, dem Antragsteller Gelegenheit zu einer persönlichen Anhörung zu seinem Antrag auf internationalen Schutz durch einen nach nationalem Recht für die Durchführung einer solchen Anhörung zuständigen Bediensteten gegeben wird. Diese Pflicht gehört zu den in Kapitel II der Richtlinie angeführten Grundsätzen und Garantien und gilt gemäß Art. 34 der Richtlinie 2013/32/EU für Entscheidungen sowohl über die Zulässigkeit als auch in der Sache. [...]
Dieses Recht des Antragstellers, sich nach den Art. 14 und 34 der Richtlinie 2013/32/EU in einer persönlichen Anhörung zur Anwendbarkeit eines solchen Unzulässigkeitsgrundes in seinem besonderen Fall zu äußern, geht mit spezifischen Garantien einher, mit denen die Wirksamkeit dieses Rechts gewährleistet werden soll. So ergibt sich aus Art. 15 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/32/EU, dass die persönliche Anhörung unter Bedingungen zu erfolgen hat, die eine angemessene Vertraulichkeit gewährleisten und dem Antragsteller eine umfassende Darlegung der Gründe seines Antrags gestatten. Insbesondere in Bezug auf Letzteres haben die Mitgliedstaaten nach Art. 15 Abs. 3 lit. a dieser Richtlinie zu gewährleisten, dass die anhörende Person befähigt ist, die persönlichen und allgemeinen Umstände des Antrags einschließlich der kulturellen Herkunft, der Geschlechtszugehörigkeit, der sexuellen Ausrichtung, der Geschlechtsidentität oder der Schutzbedürftigkeit des Antragstellers zu berücksichtigen.
Die Klägerin wurde vorliegend am 09.08.2022 zur Zulässigkeit ihres Asylantrags sowie zu ihrer Fluchtgeschichte nach § 25 AsylG angehört. Diese Anhörung war allerdings unzureichend, da die Klägerin aufgrund ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit besonderer Verfahrensgarantien bedurfte (Art. 24 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32/EU), um ihrer Verpflichtung nachkommen bzw. ihr Recht wahrnehmen zu können, die zur Begründung ihres Schutzbegehrens erforderlichen Tatsachen vorzutragen (Art. 16 der Richtlinie 2013/32/EU i.V.m. Art.4 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU). Die Klägerin brachte im Rahmen ihrer Anhörung vor, Opfer von sexueller Gewalt, Zwangsheirat und Genitalverstümmelung gewesen zu sein. In einem solchen Fall ist eine Anhörung durch eine Sonderbeauftragte vorzunehmen. Die anhörende Person muss befähigt sein, die Schutzbedürftigkeit der Klägerin zu berücksichtigen, vgl. Art. 15 Abs. 3 Satz 2 lit. a und Art. 24 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32/EU (vgl. hierzu: VG Berlin Urt. v. 30.3.2021 - 31 K 324/20 A -, BeckRS 2021, 7219, Rn. 23; Böhm, in: Oberhäuser, Migrationsrecht in der Beratungspraxis, 1. Auflage 2019, § 17 Rn. 46 f.). Einer Anhörung durch eine Sonderbeauftragte bedarf es insbesondere, damit die Anhörung mit genügend Zeit und besonderer Sensibilität für die Scheu, die eigene Verfolgungsgeschichte zu erzählen, die vorliegend gegebenenfalls nicht nur aus einer erlittenen Traumatisierung, sondern auch aus der Betroffenheit der Intimsphäre und soziokulturellen Prägung der Klägerin resultierte, vorgenommen wird [...]
b. Die Rechtsfolgen einer nicht hinreichenden Anhörung sind in der Richtlinie 2013/32/EU nicht geregelt. Der Europäische Gerichtshof hat zu der in Art. 14 und 34 Richtlinie 2013/32/EU vorgesehenen persönlichen Anhörung bei der Ablehnung eines Asylantrags als unzulässig wegen der Gewährung internationalen Schutzes in einem anderen Mitgliedstaat entschieden, dass seine Rechtsprechung, eine Verletzung von Verteidigungsrechten führe nur dann zur Aufhebung der erlassenen Entscheidung, wenn das Verfahren ohne diese Verletzung zu einem anderen Ergebnis hätte führen können, auf einen Verstoß gegen Art. 14, 15 und 34 der Richtlinie 2013/32/EU nicht anwendbar sei. Denn zum einen schrieben diese Regelungen verbindlich die Pflicht der Mitgliedstaaten, dem Antragsteller Gelegenheit zu einer persönlichen Anhörung zu geben, sowie konkrete und detaillierte Regeln fest, wie diese durchzuführen sei. Zum anderen solle mit solchen Regeln gewährleistet werden, dass der Antragsteller aufgefordert worden ist, in Zusammenarbeit mit der für die Anhörung zuständigen Behörde sämtliche Umstände vorzubringen, anhand derer die Zulässigkeit und gegebenenfalls die Begründetheit des Antrags auf internationalen Schutz beurteilt werden könnten. Dementsprechend hat der Gerichtshof auch § 46 VwVfG auf einen solchen Fall für nicht anwendbar erklärt, es sei denn sie ermöglicht es dem Antragsteller, im Rahmen des Rechtsbehelfsverfahrens in einer die gemäß Art. 15 der Richtlinie 2013/32/EU geltenden grundlegenden Bedingungen und Garantien wahrenden Anhörung persönlich alle gegen die Entscheidung sprechenden Umstände vorzutragen, und trotz dieses Vorbringens keine andere Entscheidung ergehen kann (EuGH, Urt. v. 16.07.2020 - C-517/17 -,juris Rn.70, 74).
Dass der Verfahrensmangel nach § 46 VwVfG unbeachtlich ist, weil im Rahmen des Rechtsbehelfsverfahrens ein die nach Art. 15 Abs. 3 Satz 2lit. a der Richtlinie 2013/32/EU geltenden grundlegenden Bedingungen und Garantien wahrendes persönliches Gesprächs mit der Klägerin durchgeführt werden kann, und trotz des Vorbringens dieser im Rahmen dieses persönlichen Gesprächs keine andere Entscheidung ergehen kann, kann derzeit nicht festgestellt werden. Denn wie bereits aufgezeigt ist persönliche Anhörung im behördlichen Asylverfahren mangels der Beteiligung einer Sonderbeauftragten gerade nicht unter den Bedingungen der Asylverfahrens-Richtlinie 2013/32/EU vorgenommen worden, so dass die Entscheidungserheblichkeit eines im Rahmen eines solchen Gesprächs getätigten Vorbringens der Klägerin derzeit nicht bewertet werden kann. Darüber hinaus kann diesbezüglich nicht ausgeschlossen werden, dass die Klägerin im Falle der Anhörung durch eine entsprechend geschulte Person hinsichtlich der erwähnten Vergewaltigung durch ihren Ehemann sowie der erlittenen Genitalverstümmelung weitere Ausführungen gemacht hätte, die im Ergebnis Einfluss auf die Schutzbedürftigkeit in Bezug auf die Situation in Spanien und eine mögliche Art. 4 GRC-Verletzung gehabt hätte. [...]
Der Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 GG) schließt es im vorliegenden Fall aus, im Rahmen der Bestimmung der Anhörperson gezielt der beschriebenen Verletzlichkeit der Klägerin Rechnung zu tragen, und zwar ungeachtet dessen, dass Fähigkeit und Bereitschaft zur problemsensiblen, von interkultureller Kompetenz getragenen Durchführung einer mündlichen Verhandlung allen in Asylverfahren tätigen Verwaltungsrichterinnen und -richtern abverlangt sind (BVerwG, Urt. v. 11.07.2018 - 1 C 18.17 -, juris Rn. 50).
Infolge der Fehlerhaftigkeit ist das Asylverfahren ab dem Zeitpunkt vor Eintritt der Verfahrensmängel erneut durchzuführen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 22.02.2021 - 412 S 2583/18 -, juris Ls. 1 u. Rn. 28 ff.; OVG Sachsen, Urt. v. 25.05.2020 - 5 4461/16.4 -, juris Rbn. 23). [...]