VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Beschluss vom 29.12.2023 - 2 V 1790/23 - asyl.net: M32108
https://www.asyl.net/rsdb/m32108
Leitsatz:

Eilrechtsschutz für trans Frau mit Schutzanerkennung in Bulgarien:

Einer Transfrau als besonders schutzbedürftiger Person droht in Bulgarien Verelendung und Obdachlosigkeit. Es gibt keine gesicherten Unterbringungsmöglichkeiten, und es ist von einer erheblichen Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt und bei der Wohnungssuche auszugehen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Bulgarien, internationaler Schutz in EU-Staat, transsexuell, Abschiebungsandrohung, Anerkannte, besonders schutzbedürftig, systemischen Mängel, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4
Auszüge:

[...]

Vorliegend hat die Antragsgegnerin den Asylantrag des Antragstellers dennoch zu Unrecht gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt. Die Unzulässigkeitsentscheidung kann keinen Bestand haben, weil sie nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs aus Gründen vorrangigen Unionsrechts ausnahmsweise ausgeschlossen ist. Das ist der Fall, weil die Lebensverhältnisse, die den Antragsteller als anerkannten Schutzberechtigte in Bulgarien erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. C 326 vom 26. Oktober 2012; Im Folgenden: GRCh) zu erfahren. [...]

bb) Dem Antragsteller droht als anerkannten Schutzberechtigten bei Zugrundelegung der vom Europäischen Gerichtshof geforderten besonders hohen Schwelle der Erheblichkeit aufgrund systemischer Schwachstellen im Falle der Abschiebung nach Bulgarien tatsächlich die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh. [...]

Hiervon ausgehend wäre der Antragsteller im Falle seiner Abschiebung nach Bulgarien zur Überzeugung des Gerichts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der ernsthaften Gefahr ausgesetzt, aufgrund der Lebensumstände, die ihn dort erwarten würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh zu erfahren. Bei dem Antragsteller handelt es sich um eine transsexuelle Person, eine Transfrau, die wegen ihrer sexuellen Orientierung in der Vergangenheit wiederholt sexualisierte Gewalt erfahren hat und die bestrebt ist, ihren geschlechtlichen Transitionsprozess weiterzuführen. Aus diesem Grund ist der Antragsteller als vulnerable Person anzusehen (hierzu (1)). Dem Antragsteller droht im Falle ihrer Abschiebung nach Bulgarien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein von seinem Willen unabhängiger Zustand der Verelendung in Form der Obdachlosigkeit. Die nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes erforderliche besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit ist vorliegend erreicht (hierzu (2) und (3)).

(1) Der Antragsteller gehört zur Gruppe der schutzbedürftigen Personen im Sinne des Art. 21 der Aufnahmerichtlinie (Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen) und Art. 20 Abs. 3 der Qualifikationsrichtlinie. Danach gelten als schutzbedürftige Personen: Minderjährige, unbegleiteten Minderjährige, Behinderte, ältere Menschen, Schwangere, Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern, Opfer des Menschenhandels, Personen mit schweren körperlichen Erkrankungen, Personen mit psychischen Störungen und Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben, wie z. B. Opfer der Verstümmelung weiblicher Genitalien.

Eine solche Vulnerabilität liegt bei dem Antragsteller vor. Bei dem Antragsteller handelt es sich zur Überzeugung des Einzelrichters um eine transsexuelle Person, eine Transfrau, die ihre sexuelle Orientierung offen lebt und zudem bestrebt ist, ihren geschlechtlichen Transitionsprozess weiterzuführen und eine operative Geschlechtsumwandlung vornehmen zu lassen. Das folgt aus der Einlassung des Antragstellers bei der Anhörung vor dem Bundesamt sowie aus den vorgelegten Stellungnahmen der Beratungsstelle RAT&TAT für LGBTIQ-Personen aus Bremen vom 03. August 2023. Auf Grund seiner sexuellen Orientierung hat der Antragsteller sowohl in Syrien als auch in Bulgarien wiederholt sexualisierte Gewalt durch Dritte erfahren. Der Antragsteller wurde in der Schule und durch Nachbar gemobbt, von Familienmitgliedern geschlagen und zuletzt von männlichen Syrern in einer Flüchtlingsunterkunft in Bulgarien sexuell belästigt und mit Schlägen traktiert. [...]

(3) Ausgehend von diesen Feststellungen zur allgemeinen Situation anerkannter Schutzberechtigter in Bulgarien ist davon auszugehen, dass der Antragsteller im Falle seiner Abschiebung dorthin nicht in der Lage sein wird, sich Zugang zu den elementarsten Bedürfnissen zu verschaffen. Der Einzelrichter ist davon überzeugt, dass der Antragsteller in Bulgarien unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen einer Art. 4 GRCh verletzenden Gefahr extremer materieller Not ausgesetzt sein wird.

In Abwesenheit gesicherter Unterbringungsmöglichkeiten ab Anerkennung als Schutzberechtigte und ohne den effektiven Zugang zu anderen staatlichen Unterstützungsleistungen wie Wohngeld oder Sozialhilfe erachtet es der Einzelrichter für maßgebend, dass anerkannte Schutzberechtigte "schnell" oder "alsbald", mithin innerhalb eines überschaubaren Zeitraums (BVerwG, Urteil vom 21. April 2022 – 1 C 10/21 –, juris Rn. 20) nach der Anerkennung bzw. ihrer Rückführung nach Bulgarien ihren Lebensunterhalt selbstständig bestreiten können (so auch: OVG Lüneburg, Urteil vom 07. Dezember 2021 – 10 LB 257/20 –, juris Rn. 26, 38; OVG Münster, Beschluss vom 16. Dezember 2019 – 11 A 228/15.A –, juris Rn. 68; VGH Mannheim, Beschluss vom 27. Mai 2019 – A 4 S 1329/19 –, juris Rn. 22; VG Karlsruhe, Urteil vom 23. Juni 2020 – A 13 K 6311/19 –, juris Rn. 29). Wie dargestellt, geht die obergerichtlichen Rechtsprechung auch für die Zeit seit Ausbruch der Corona-Pandemie und unter Berücksichtigung der zahlreich in Bulgarien aufgenommenen ukrainischen Flüchtlinge jedenfalls in Bezug auf die Gruppe der gesunden und arbeitsfähigen anerkannten Schutzberechtigten übereinstimmend davon aus, dass diese in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt auf dem vom Europäischen Gerichtshof benannten Niveau selbstständig zu bestreiten (vgl. OVG Münster, Beschlüsse vom 22. August 2023 – 11 A 3374/20.A –, juris Rn. 53 und vom 21. Juli 2023 – 11 A 3153/20.A –, juris Rn. 59 jeweils m.w.N.; VGH Mannheim, Urteil vom 24. Februar 2022 – A 4 S 162/22 –, juris Rn. 32; OVG Münster, Beschluss vom 15. Februar 2022 – 11 A 1625/21.A –, juris Rn. 52 ff.; OVG Lüneburg, Urteil vom 07. Dezember 2021 – 10 LB 257/20 –, juris; VGH Kassel, Urteil vom 26. Oktober 2021 – 8 A 1852/20.A –, juris Rn. 35).

Dem Antragsteller wird es mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht möglich sein, in Bulgarien seinen Lebensunterhalt selbstständig zu bestreiten, hiervon Wohnraum zu bezahlen und sich zu versorgen. Nach den obigen Ausführungen ist der Antragsteller wegen seiner sexuellen Orientierung und der wegen dieser Orientierung erlebten sexualisierten Gewalt als besonders schutzbedürftig anzusehen. Der Einzelrichter geht mit dem Europäischen Gerichtshof davon aus, dass bei Vulnerablen die besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit schneller erreicht sein kann, als bei Personen, die eine solche Verletzbarkeit nicht aufweisen und denen regelmäßig mehr zugemutet werden kann (vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17 (Jawo) –, juris Rn. 95; EuGH, Urteile vom 19. März 2019 – C-297/17 u.a. (Ibrahim u.a.) –, juris Rn. 93). Aufgrund seiner sexuellen Orientierung wird der Antragsteller in Bulgarien zur Überzeugung des Einzelrichters mit erheblicher Diskriminierung und massiven Schwierigkeiten bei der Arbeits- und Wohnungssuche konfrontiert sein. Hinsichtlich der Menschenrechtslage von LGBTIQ-Personen belegt Bulgarien im EU-Vergleich den drittletzten Platz vor Polen und Rumänien (https://www.rainbow-europe.org/#1/0/0, letzter Aufruf am 29. Dezember 2023). LGBTIQ-Personen sind gesellschaftlicher Diskriminierung und Ausgrenzung ausgesetzt. Es sind zahlreiche Fälle von hate-speech und Anfeindungen gegen LGBTIQ-Gruppen durch Politiker*innen und Lobbygruppen dokumentiert (ILGA EUROPE, Annual Review 2023, www.ilga-europe.org/sites/default/files/2023/bulgaria.pdf, letzter Aufruf am 29. Dezember 2023). Vor diesem Hintergrund und wegen seiner besonderen Schutzbedürftigkeit wird es dem Antragsteller in Bulgarien allein mit Blick auf die obigen Ausführungen zum monatlichen Durchschnittslohn (ca. 633 EUR, wobei angesichts einer Erwerbstätigkeit von Schutzberechtigten vor allem in geringfügig oder unqualifizierten Tätigkeiten in der Landwirtschaft und der Gastronomie eher ein Einkommen am unteren Rand der Skala zu erwarten ist) und zu den monatlichen durchschnittlichen Lebenshaltungskosten einer Person nicht möglich sein, in einem überschaubaren Zeitraum im Anschluss an die Rückführung nach Bulgarien seinen existentiellen Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Mangels Zugangs zu staatlicher Sozialhilfe, eigener finanzieller Ressourcen und anderweitiger Unterstützung droht dem Antragsteller mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aufgrund seiner besonderen Verletzbarkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in Bulgarien die Obdachlosigkeit und ein "Automatismus der Verelendung".

Erschwerend kommt für den Antragsteller hinzu, dass ihm als Vulnerablen – im Gegensatz zu gesunden und arbeitsfähigen anerkannten Schutzberechtigten – auch kein hohes Maß an Eigeninitiative zugemutet werden kann und er nur bedingt auf die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen, Kirchen und Freiwilligen verwiesen werden kann. Überdies sind diese Hilfsangebote mit Blick auf fehlende rechtliche Ansprüche in ihrer Erreichbarkeit und ihrem Umfang im Einzelfall ungewiss und vage (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22. September 2020 – OVG 3 B 33.19 –, juris Rn. 51 m. w. N.). Nach gegenwärtigem Erkenntnisstand gibt es in Bulgarien zudem keine Nichtregierungsorganisation, die – über die kurzfristige Unterbringung hinaus – eine auf Dauer angelegte menschenwürdigen Unterkunft für anerkannte Schutzberechtigte gewährleisten kann (Bundesamt für Fremdenwesen, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Bulgarien, Situation von subsidiär Schutzberechtigten, 19. Juli 2021, S. 4; so auch OVG Lüneburg, Urteil vom 07. Dezember 2021 – 10 LB 257/20 –, juris Rn. 26). [...]